Der geheimnisvolle Nachen

[265] Gestern nachts, als alles schlief,

Kaum der Wind mit ungewissen

Seufzern durch die Gassen lief,

Gab mir Ruhe nicht das Kissen,

Noch der Mohn, noch, was sonst tief

Schlafen macht, – ein gut Gewissen.


Endlich schlug ich mir den Schlaf

Aus dem Sinn und lief zum Strande.

Mondhell wars und mild, ich traf

Mann und Kahn auf warmem Sande,

Schläfrig beide, Hirt und Schaf: –

Schläfrig stieß der Kahn vom Lande.


Eine Stunde, leicht auch zwei,

Oder wars ein Jahr? – da sanken

Plötzlich mir Sinn und Gedanken

In ein ewges Einerlei,[265]

Und ein Abgrund ohne Schranken

Tat sich auf: – da wars vorbei!


– Morgen kam: auf schwarzen Tiefen

steht ein Kahn und ruht und ruht...

Was geschah? so riefs, so riefen

Hundert bald: was gab es? Blut? – –

Nichts geschah! Wir schliefen, schliefen

Alle – ach, so gut! so gut!

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 2, S. 265-266.
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Ausgewählte Ausgaben von
Die fröhliche Wissenschaft
Werke, Kritische Gesamtausgabe, Abt.5, Bd.2, Idyllen aus Messina; Die fröhliche Wissenschaft; Nachgelassene Fragmente Frühjahr 1881 - Sommer 1882
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Sämtliche Werke: kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden - Teil 3. Morgenröte / Idyllen aus Messina / Die fröhliche Wissenschaft
Morgenröte / Idyllen aus Messina / Die fröhliche Wissenschaft. Herausgegeben von G. Colli und M. Montinari.
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