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[180] Zugunsten der Kritik. – Jetzt erscheint dir etwas als Irrtum, das du ehedem als eine Wahrheit oder Wahrscheinlichkeit geliebt hast: du stößt es von dir ab und wähnst, daß deine Vernunft darin einen Sieg erfochten habe. Aber vielleicht war jener Irrtum damals, als du noch ein andrer warst – du bist immer ein andrer –, dir ebenso notwendig wie alle deine jetzigen »Wahrheiten«, gleichsam als eine Haut, die dir vieles verhehlte und verhüllte, was du noch nicht sehen durftest. Dein neues Leben hat jene Meinung für dich getötet, nicht deine Vernunft: du brauchst sie nicht mehr, und nun bricht sie in sich selbst zusammen, und die Unvernunft kriecht wie ein Gewürm aus ihr ans Licht. Wenn wir Kritik üben, so ist es nichts Willkürliches und Unpersönliches – es ist, wenigstens sehr oft, ein Beweis davon, daß lebendige treibende Kräfte in uns da sind, welche eine Rinde abstoßen. Wir verneinen und müssen verneinen, weil etwas in uns leben und sich bejahen will, etwas das wir vielleicht noch nicht kennen, noch nicht sehen! – Dies zugunsten der Kritik.

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 2, S. 180-181.
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Die fröhliche Wissenschaft
Werke, Kritische Gesamtausgabe, Abt.5, Bd.2, Idyllen aus Messina; Die fröhliche Wissenschaft; Nachgelassene Fragmente Frühjahr 1881 - Sommer 1882
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Sämtliche Werke: kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden - Teil 3. Morgenröte / Idyllen aus Messina / Die fröhliche Wissenschaft
Morgenröte / Idyllen aus Messina / Die fröhliche Wissenschaft. Herausgegeben von G. Colli und M. Montinari.
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