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[107] Huldigen lernen. – Auch das Huldigen müssen die Menschen lernen wie das Verachten. Jeder, der auf neuen Bahnen geht und viele auf neue Bahnen geführt hat, entdeckt mit Staunen, wie ungeschickt und arm diese vielen im Ausdruck ihrer Dankbarkeit sind, ja wie selten sich überhaupt auch nur die Dankbarkeit äußern kann. Es ist, als ob ihr immer, wenn sie einmal reden will, etwas in die Kehle komme, so daß sie sich nur räuspert und im Räuspern wieder verstummt. Die Art, wie ein Denker die Wirkung seiner Gedanken und ihre umbildende und erschütternde Gewalt zu spüren bekommt, ist beinahe eine Komödie; mitunter hat es das Ansehen, als ob die, auf welche gewirkt worden ist, sich im Grunde dadurch beleidigt fühlten und ihre, wie sie fürchten, bedrohte Selbständigkeit nur in allerlei Unarten zu äußern wüßten. Es bedarf ganzer Geschlechter, um auch nur eine höfliche Konvention des Dankes zu erfinden: und erst sehr spät kommt jener Zeitpunkt, wo selbst in die Dankbarkeit eine Art Geist und Genialität gefahren ist. Dann ist gewöhnlich auch einer da, welcher der große Dank-Empfänger ist, nicht nur für das, was er selber Gutes getan hat,[107] sondern zumeist für das, was von seinen Vorgängern als ein Schatz des Höchsten und Besten allmählich aufgehäuft worden ist.

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 2, S. 107-108.
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Werke, Kritische Gesamtausgabe, Abt.5, Bd.2, Idyllen aus Messina; Die fröhliche Wissenschaft; Nachgelassene Fragmente Frühjahr 1881 - Sommer 1882
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Sämtliche Werke: kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden - Teil 3. Morgenröte / Idyllen aus Messina / Die fröhliche Wissenschaft
Morgenröte / Idyllen aus Messina / Die fröhliche Wissenschaft. Herausgegeben von G. Colli und M. Montinari.
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