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[108] Von der deutschen Musik. – Die deutsche Musik ist jetzt schon deshalb mehr als jede andere die europäische Musik, weil in ihr allein die Veränderung,[108] welche Europa durch die Revolution erfuhr, einen Ausdruck bekommen hat: nur die deutschen Musiker verstehen sich auf den Ausdruck bewegter Volksmassen, auf jenen ungeheuren künstlichen Lärm, der nicht einmal sehr laut zu sein braucht, – während zum Beispiel die italienische Oper nur Chöre von Bedienten oder Soldaten kennt, aber kein »Volk«. Es kommt hinzu, daß aus aller deutschen Musik eine tiefe bürgerliche Eifersucht auf die noblesse herauszuhören ist, namentlich auf esprit und élégance als den Ausdruck einer höfischen, ritterlichen, alten, ihrer selber sichern Gesellschaft. Das ist keine Musik, wie die des Goetheschen Sängers vor dem Tor, die auch »im Saale«, und zwar dem Könige, wohlgefällt; da heißt es nicht: »die Ritter schauten mutig drein, und in den Schoß die Schönen«. Schon die Grazie tritt nicht ohne Anwandlung von Gewissensbissen in der deutschen Musik auf; erst bei der Anmut, der ländlichen Schwester der Grazie, fängt der Deutsche an, sich ganz moralisch zu fühlen – und von da an immer mehr bis hinauf zu seiner schwärmerischen, gelehrten, oft bärbeißigen »Erhabenheit«, der Beethovenschen Erhabenheit. Will man sich den Menschen zu dieser Musik denken, nun, so denke man sich eben Beethoven, wie er neben Goethe, etwa bei jener Begegnung in Teplitz, erscheint: als die Halbbarbarei neben der Kultur, als Volk neben Adel, als der gutartige Mensch neben dem guten und mehr noch als »guten« Menschen, als der Phantast neben dem Künstler, als der Trostbedürftige neben dem Getrösteten, als der Übertreiber und Verdächtiger neben dem Billigen, als der Grillenfänger und Selbstquäler, als der Närrisch-Verzückte, der Selig-Unglückliche, der Treuherzig-Maßlose, als der Anmaßliche und Plumpe – und, alles in allem, als der »ungebändigte Mensch«: so empfand und bezeichnete ihn Goethe selber, Goethe der Ausnahme-Deutsche, zu dem eine ebenbürtige Musik noch nicht gefunden ist! – Zuletzt erwäge man noch, ob nicht jene jetzt immer mehr um sich greifende Verachtung der Melodie und Verkümmerung des melodischen Sinns bei Deutschen als eine demokratische Unart und Nachwirkung der Revolution zu verstehen ist. Die Melodie hat nämlich eine solche offene Lust an der Gesetzlichkeit und einen solchen Widerwillen bei allem Werdenden, Ungeformten, Willkürlichen, daß sie wie ein Klang aus der alten Ordnung der europäischen Dinge und wie eine Verführung und Rückführung zu dieser klingt.[109]

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 2, S. 108-110.
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Werke, Kritische Gesamtausgabe, Abt.5, Bd.2, Idyllen aus Messina; Die fröhliche Wissenschaft; Nachgelassene Fragmente Frühjahr 1881 - Sommer 1882
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Sämtliche Werke: kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden - Teil 3. Morgenröte / Idyllen aus Messina / Die fröhliche Wissenschaft
Morgenröte / Idyllen aus Messina / Die fröhliche Wissenschaft. Herausgegeben von G. Colli und M. Montinari.
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