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[85] Die größte Gefahr. – Hätte es nicht allezeit eine Überzahl von Menschen gegeben, welche die Zucht ihres Kopfes – ihre »Vernünftigkeit« – als ihren Stolz, ihre Verpflichtung, ihre Tugend fühlten, welche durch alles Phantasieren und Ausschweifen des Denkens beleidigt oder beschämt wurden, als die Freunde »des gesunden Menschenverstandes«: so wäre die Menschheit längst zugrunde gegangen! Über ihr schwebte und schwebt fortwährend als ihre größte Gefahr der ausbrechende Irrsinn – das heißt eben das Ausbrechen des Beliebens im Empfinden, Sehen und Hören, der Genuß in der Zuchtlosigkeit des[85] Kopfes, die Freude am Menschen-Unverstande. Nicht die Wahrheit und Gewißheit ist der Gegensatz der Welt des Irrsinnigen, sondern die Allgemeinheit und Allverbindlichkeit eines Glaubens, kurz das Nicht-Beliebige im Urteilen. Und die größte Arbeit der Menschen bisher war die, über sehr viele Dinge miteinander übereinzustimmen und sich ein Gesetz der Übereinstimmung aufzulegen – gleichgültig ob diese Dinge wahr oder falsch sind. Dies ist die Zucht des Kopfes, welche die Menschheit erhalten hat – aber die Gegentriebe sind immer noch so mächtig, daß man im Grunde von der Zukunft der Menschheit mit wenig Vertrauen reden darf. Fortwährend schiebt und verschiebt sich noch das Bild der Dinge, und vielleicht von jetzt ab mehr und schneller als je; fortwährend sträuben sich gerade die ausgesuchtesten Geister gegen jene Allverbindlichkeit – die Erforscher der Wahrheit voran! Fortwährend erzeugt jener Glaube als Allerweltsglaube einen Ekel und eine neue Lüsternheit bei feineren Köpfen: und schon das langsame Tempo, welches er für alle geistigen Prozesse verlangt, jene Nachahmung der Schildkröte, welche hier als die Norm anerkannt wird, macht Künstler und Dichter zu Überläufern – diese ungeduldigen Geister sind es, in denen eine förmliche Lust am Irrsinn ausbricht, weil der Irrsinn ein so fröhliches Tempo hat! Es bedarf also der tugendhaften Intellekte – ach! ich will das unzweideutigste Wort gebrauchen – es bedarf der tugendhaften Dummheit, es bedarf unerschütterlicher Taktschläger des langsamen Geistes, damit die Gläubigen des großen Gesamtglaubens beieinander bleiben und ihren Tanz weitertanzen: es ist eine Notdurft ersten Ranges, welche hier gebietet und fordert. Wir anderen sind die Ausnahme und die Gefahr – wir bedürfen ewig der Verteidigung! – Nun, es läßt sich wirklich etwas zugunsten der Ausnahme sagen, vorausgesetzt daß sie nie Regel werden will.

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 2, S. 85-86.
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Werke, Kritische Gesamtausgabe, Abt.5, Bd.2, Idyllen aus Messina; Die fröhliche Wissenschaft; Nachgelassene Fragmente Frühjahr 1881 - Sommer 1882
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Sämtliche Werke: kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden - Teil 3. Morgenröte / Idyllen aus Messina / Die fröhliche Wissenschaft
Morgenröte / Idyllen aus Messina / Die fröhliche Wissenschaft. Herausgegeben von G. Colli und M. Montinari.
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