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[86] Das Tier mit gutem Gewissen. – Das Gemeine in alledem, was im Süden Europas gefällt – sei dies nun die italienische Oper (zum Beispiel Rossinis und Bellinis) oder der spanische Abenteuer-Roman (uns in der französischen Verkleidung des Gil Blas am besten zugänglich) – bleibt mir nicht verborgen, aber es beleidigt mich nicht, ebensowenig[86] als die Gemeinheit, der man bei einer Wanderung durch Pompeji und im Grunde selbst beim Lesen jedes antiken Buches begegnet: woher kommt dies? Ist es, daß hier die Scham fehlt und daß alles Gemeine so sicher und seiner gewiß auftritt wie irgend etwas Edles, Liebliches und Leidenschaftliches in derselben Art Musik oder Roman? »Das Tier hat sein Recht wie der Mensch: so mag es frei herumlaufen, und du, mein lieber Mitmensch, bist auch dies Tier noch, trotz alledem!« – das scheint mir die Moral der Sache und die Eigenheit der südländischen Humanität zu sein. Der schlechte Geschmack hat sein Recht wie der gute, und sogar ein Vorrecht vor ihm, falls er das große Bedürfnis, die sichere Befriedigung und gleichsam eine allgemeine Sprache, eine unbedingt verständliche Larve und Gebärde ist: der gute gewählte Geschmack hat dagegen immer etwas Suchendes, Versuchtes, seines Verständnisses nicht völlig Gewisses – er ist und war niemals volkstümlich! Volkstümlich ist und bleibt die Maske! So mag denn alles dies Maskenhafte in den Melodien und Kadenzen, in den Sprüngen und Lustigkeiten des Rhythmus dieser Opern dahinlaufen! Gar das antike Leben! Was versteht man von dem, wenn man die Lust an der Maske, das gute Gewissen alles Maskenhaften nicht versteht! Hier ist das Bad und die Erholung des antiken Geistes – und vielleicht war dies Bad den seltenen und erhabenen Naturen der alten Welt noch nötiger als den gemeinen. – Dagegen beleidigt mich eine gemeine Wendung in nordischen Werken, zum Beispiel in deutscher Musik, unsäglich. Hier ist Scham dabei, der Künstler ist vor sich selber hinabgestiegen und konnte es nicht einmal verhüten, dabei zu erröten: wir schämen uns mit ihm und sind so beleidigt, weil wir ahnen, daß er unsertwegen glaubte hinabsteigen zu müssen.

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 2, S. 86-87.
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Werke, Kritische Gesamtausgabe, Abt.5, Bd.2, Idyllen aus Messina; Die fröhliche Wissenschaft; Nachgelassene Fragmente Frühjahr 1881 - Sommer 1882
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Sämtliche Werke: kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden - Teil 3. Morgenröte / Idyllen aus Messina / Die fröhliche Wissenschaft
Morgenröte / Idyllen aus Messina / Die fröhliche Wissenschaft. Herausgegeben von G. Colli und M. Montinari.
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