96

[101] Zwei Redner. – Von diesen beiden Rednern erreicht der eine die ganze Vernunft seiner Sache nur dann, wenn er sich der Leidenschaft überläßt: erst diese pumpt genug Blut und Hitze ihm ins Gehirn, um seine hohe Geistigkeit zur Offenbarung zu zwingen. Der andre versucht wohl hier und da dasselbe: mit Hilfe der Leidenschaft seine[101] Sache volltönend, heftig und hinreißend vorzubringen – aber gewöhnlich mit einem schlechten Erfolge. Er redet dann sehr bald dunkel und verwirrt, er übertreibt, macht Auslassungen und erregt gegen die Vernunft seiner Sache Mißtrauen: ja er selber empfindet dabei dies Mißtrauen, und daraus erklären sich plötzliche Sprünge in die kältesten und abstoßendsten Töne, welche in dem Zuhörer einen Zweifel erregen, ob seine ganze Leidenschaftlichkeit echt gewesen sei. Bei ihm überflutet jedesmal die Leidenschaft den Geist; vielleicht, weil sie stärker ist als bei dem ersten. Aber er ist auf der Höhe seiner Kraft, wenn er dem andringenden Sturme seiner Empfindung widersteht und ihn gleichsam verhöhnt: da erst tritt sein Geist ganz aus seinem Versteck heraus, ein logischer, spöttischer, spielender und doch furchtbarer Geist.

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 2, S. 101-102.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Die fröhliche Wissenschaft
Werke, Kritische Gesamtausgabe, Abt.5, Bd.2, Idyllen aus Messina; Die fröhliche Wissenschaft; Nachgelassene Fragmente Frühjahr 1881 - Sommer 1882
Die fröhliche Wissenschaft
Sämtliche Werke: kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden - Teil 3. Morgenröte / Idyllen aus Messina / Die fröhliche Wissenschaft
Morgenröte / Idyllen aus Messina / Die fröhliche Wissenschaft. Herausgegeben von G. Colli und M. Montinari.
Die fröhliche Wissenschaft - La gaya scienza