191

[648] Das alte theologische Problem von »Glauben« und »Wissen« – oder, deutlicher, von Instinkt und Vernunft – also die Frage, ob in Hinsicht auf Wertschätzung der Dinge der Instinkt mehr Autorität verdiene als die Vernünftigkeit, welche nach Gründen, nach einem[648] »Warum?«, also nach Zweckmäßigkeit und Nützlichkeit geschätzt und gehandelt wissen will – es ist immer noch jenes alte moralische Problem, wie es zuerst in der Person des Sokrates auftrat und lange vor dem Christentum schon die Geister gespaltet hat. Sokrates selbst hatte sich zwar mit dem Geschmack seines Talentes – dem eines überlegenen Dialektikers – zunächst auf Seiten der Vernunft gestellt; und in Wahrheit, was hat er sein Leben lang getan, als über die linkische Unfähigkeit seiner vornehmen Athener zu lachen, welche Menschen des Instinktes waren gleich allen vornehmen Menschen und niemals genügend über die Gründe ihres Handelns Auskunft geben konnten? Zuletzt aber, im stillen und geheimen, lachte er auch über sich selbst: er fand bei sich, vor seinem feineren Gewissen und Selbstverhör, die gleiche Schwierigkeit und Unfähigkeit. Wozu aber, redete er sich zu, sich deshalb von den Instinkten lösen! Man muß ihnen und auch der Vernunft zum Recht verhelfen – man muß den Instinkten folgen, aber die Vernunft überreden, ihnen dabei mit guten Gründen nachzuhelfen. Dies war die eigentliche Falschheit jenes großen geheimnisreichen Ironikers; er brachte sein Gewissen dahin, sich mit einer Art Selbstüberlistung zufriedenzugeben: im Grunde hatte er das Irrationale im moralischen Urteile durchschaut. – Plato, in solchen Dingen unschuldiger und ohne die Verschmitztheit des Plebejers, wollte mit Aufwand aller Kraft – der größten Kraft, die bisher ein Philosoph aufzuwenden hatte! – sich beweisen, daß Vernunft und Instinkt von selbst auf ein Ziel zugehen, auf das Gute, auf »Gott«; und seit Plato sind alle Theologen und Philosophen auf der gleichen Bahn – das heißt, in Dingen der Moral hat bisher der Instinkt, oder wie die Christen es nennen »der Glaube«, oder wie ich es nenne »die Herde« gesiegt. Man müßte denn Descartes ausnehmen, den Vater des Rationalismus (und folglich Großvater der Revolution), welcher der Vernunft allein Autorität zuerkannte: aber die Vernunft ist nur ein Werkzeug, und Descartes war oberflächlich.


192

Wer der Geschichte einer einzelnen Wissenschaft nachgegangen ist, der findet in ihrer Entwicklung einen Leitfaden zum Verständnis der[649] ältesten und gemeinsten Vorgänge alles »Wissens und Erkennens«: dort wie hier sind die voreiligen Hypothesen, die Erdichtungen, der gute dumme Wille zum »Glauben«, der Mangel an Mißtrauen und Geduld zuerst entwickelt – unsre Sinne lernen es spät, und lernen es nie ganz, feine treue vorsichtige Organe der Erkenntnis zu sein. Unserm Auge fällt es bequemer, auf einen gegebnen Anlaß hin ein schon öfter erzeugtes Bild wieder zu erzeugen, als das Abweichende und Neue eines Eindrucks bei sich festzuhalten: letzteres braucht mehr Kraft, mehr »Moralität«. Etwas Neues hören ist dem Ohre peinlich und schwierig; fremde Musik hören wir schlecht. Unwillkürlich versuchen wir, beim Hören einer andren Sprache, die gehörten Laute in Worte einzuformen, welche uns vertrauter und heimischer klingen: so machte sich zum Beispiel der Deutsche ehemals aus dem gehörten arcubalista das Wort Armbrust zurecht. Das Neue findet auch unsre Sinne feindlich und widerwillig; und überhaupt herrschen schon bei den »einfachsten« Vorgängen der Sinnlichkeit die Affekte, wie Furcht Liebe, Haß, eingeschlossen die passiven Affekte der Faulheit. – So wenig ein Leser heute die einzelnen Worte (oder gar Silben) einer Seite sämtlich abliest – er nimmt vielmehr aus zwanzig Worten ungefähr fünf nach Zufall heraus und »errät« den zu diesen fünf Worten mutmaßlich zugehörigen Sinn –, ebensowenig sehen wir einen Baum genau und vollständig, in Hinsicht auf Blätter, Zweige, Farbe, Gestalt; es fällt uns so sehr viel leichter, ein Ungefähr von Baum hinzuphantasieren. Selbst inmitten der seltsamsten Erlebnisse machen wir es noch ebenso: wir erdichten uns den größten Teil des Erlebnisses und sind kaum dazu zu zwingen, nicht als »Erfinder« irgendeinem Vorgange zuzuschauen. Dies alles will sagen: wir sind von Grund aus, von alters her – ans Lügen gewöhnt. Oder, um es tugendhafter und heuchlerischer kurz angenehmer auszudrücken: man ist viel mehr Künstler, als man weiß. – In einem lebhaften Gespräch sehe ich oftmals das Gesicht der Person, mit der ich rede, je nach dem Gedanken, den sie äußert, oder den ich bei ihr hervorgerufen glaube, so deutlich und feinbestimmt vor mir, daß dieser Grad von Deutlichkeit weit über die Kraft meines Sehvermögens hinausgeht – die Feinheit des Muskelspiels und des Augen-Ausdrucks muß also von mir hinzugedichtet sein. Wahrscheinlich machte die Person ein ganz andres Gesicht oder gar keins.


193

[650] Quidquid luce fuit, tenebris agit: aber auch umgekehrt. Was wir im Traume erleben, vorausgesetzt, daß wir es oftmals erleben, gehört zuletzt so gut zum Gesamt-Haushalt unsrer Seele, wie irgend etwas »wirklich« Erlebtes: wir sind vermöge desselben reicher oder ärmer, haben ein Bedürfnis mehr oder weniger und werden schließlich am hellen lichten Tage, und selbst in den heitersten Augenblicken unsres wachen Geistes, ein wenig von den Gewöhnungen unsrer Träume gegängelt. Gesetzt, daß einer in seinen Träumen oftmals geflogen ist und endlich, sobald er träumt, sich einer Kraft und Kunst des Fliegens wie seines Vorrechtes bewußt wird, auch wie seines eigensten beneidenswerten Glücks: ein solcher, der jede Art von Bogen und Winkeln mit dem leisesten Impulse verwirklichen zu können glaubt, der das Gefühl einer gewissen göttlichen Leichtfertigkeit kennt, ein »nach Oben« ohne Spannung und Zwang, ein »nach Unten« ohne Herablassung und Erniedrigung – ohne Schwere! – wie sollte der Mensch solcher Traum-Erfahrungen und Traum-Gewohnheiten nicht endlich auch für seinen wachen Tag das Wort »Glück« anders gefärbt und bestimmt finden! wie sollte er nicht anders nach Glück – verlangen? »Aufschwung«, so wie dies von Dichtern beschrieben wird, muß ihm, gegen jenes »Fliegen« gehalten, schon zu erdenhaft, muskelhaft, gewaltsam, schon zu »schwer« sein.


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Die Verschiedenheit der Menschen zeigt sich nicht nur in der Verschiedenheit ihrer Gütertafeln, also darin, daß sie verschiedne Güter für erstrebenswert halten und auch über das Mehr und Weniger des Wertes, über die Rangordnung der gemeinsam anerkannten Güter miteinander uneins sind – sie zeigt sich noch mehr in dem, was ihnen als wirkliches Haben und Besitzen eines Gutes gilt. In betreff eines Weibes zum Beispiel gilt dem Bescheideneren schon die Verfügung über den Leib und der Geschlechtsgenuß als ausreichendes und genugtuendes Anzeichen des Habens, des Besitzens; ein anderer, mit seinem argwöhnischeren und anspruchsvolleren Durste nach Besitz, sieht das »Fragezeichen«, das nur Scheinbare eines solchen Habens, und will[651] feinere Proben, vor allem, um zu wissen, ob das Weib nicht nur ihm sich gibt, sondern auch für ihn läßt, was sie hat oder gerne hätte –: so erst gilt es ihm als »besessen«. Ein Dritter aber ist auch hier noch nicht am Ende seines Mißtrauens und Habenwollens, er fragt sich, ob das Weib, wenn es alles für ihn läßt, dies nicht etwa für ein Phantom von ihm tut: er will erst gründlich, ja abgründlich gut gekannt sein, um überhaupt geliebt werden zu können, er wagt es, sich erraten zu lassen –. Erst dann fühlt er die Geliebte völlig in seinem Besitze, wenn sie sich nicht mehr über ihn betrügt, wenn sie ihn um seiner Teufelei und versteckten Unersättlichkeit willen ebensosehr liebt als um seiner Güte, Geduld und Geistigkeit willen. Jener möchte ein Volk besitzen: und alle höheren Cagliostro- und Catilina-Künste sind ihm zu diesem Zwecke recht. Ein anderer, mit einem feineren Besitzdurste, sagt sich »man darf nicht betrügen, wo man besitzen will« –, er ist gereizt und ungeduldig bei der Vorstellung, daß eine Maske von ihm über das Herz des Volks gebietet: »also muß ich mich kennen lassen und, vorerst, mich selbst kennen!« Unter hilfreichen und wohltätigen Menschen findet man jene plumpe Arglist fast regelmäßig vor, welche sich den, dem geholfen werden soll, erst zurecht macht: als ob er zum Beispiel Hilfe »verdiene«, gerade nach ihrer Hilfe verlange, und für alle Hilfe sich ihnen tief dankbar, anhänglich, unterwürfig beweisen werde – mit diesen Einbildungen verfügen sie über den Bedürftigen wie über ein Eigentum, wie sie aus einem Verlangen nach Eigentum überhaupt wohltätige und hilfreiche Menschen sind. Man findet sie eifersüchtig, wenn man sie beim Helfen kreuzt oder ihnen zuvorkommt. Die Eltern machen unwillkürlich aus dem Kinde etwas ihnen Ähnliches – sie nennen das »Erziehung« –, keine Mutter zweifelt im Grunde ihres Herzens daran, am Kinde sich ein Eigentum geboren zu haben, kein Vater bestreitet sich das Recht, es seinen Begriffen und Wertschätzungen unterwerfen zu dürfen. Ja, ehemals schien es den Vätern billig, über Leben und Tod des Neugebornen (wie unter den alten Deutschen) nach Gutdünken zu verfügen. Und wie der Vater, so sehen auch jetzt noch der Lehrer, der Stand, der Priester, der Fürst in jedem neuen Menschen eine unbedenkliche Gelegenheit zu neuem Besitze. Woraus folgt...
[652]


195

Die Juden – ein Volk, »geboren zur Sklaverei«, wie Tacitus und die ganze antike Welt sagt, »das auserwählte Volk unter den Völkern«, wie sie selbst sagen und glauben – die Juden haben jenes Wunderstück von Umkehrung der Werte zustande gebracht, dank welchem das Leben auf der Erde für ein paar Jahrtausende einen neuen und gefährlichen Reiz erhalten hat – ihre Propheten haben »reich«, »gottlos«, »böse«, »gewalttätig«, »sinnlich« in eins geschmolzen und zum ersten Male das Wort »Welt« zum Schandwort gemünzt. In dieser Umkehrung der Werte (zu der es gehört, das Wort für »Arm« als synonym mit »Heilig« und »Freund« zu brauchen) liegt die Bedeutung des jüdischen Volks: mit ihm beginnt der Sklaven-Aufstand in der Moral.


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Es gibt unzählige dunkle Körper neben der Sonne zu erschließen –solche, die wir nie sehen werden. Das ist, unter uns gesagt, ein Gleichnis; und ein Moral-Psycholog liest die gesamte Sternenschrift nur als eine Gleichnis- und Zeichensprache, mit der sich vieles verschweigen läßt.


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Man mißversteht das Raubtier und den Raubmenschen (zum Beispiele Cesare Borgia) gründlich, man mißversteht die »Natur«, solange man noch nach einer »Krankhaftigkeit« im Grunde dieser gesündesten aller tropischen Untiere und Gewächse sucht, oder gar nach einer ihnen eingebornen »Hölle« –: wie es bisher fast alle Moralisten getan haben. Es scheint, daß es bei den Moralisten einen Haß gegen den Urwald und gegen die Tropen gibt? Und daß der »tropische Mensch« um jeden Preis diskreditiert werden muß, sei es als Krankheit und Entartung des Menschen, sei es als eigne Hölle und Selbst-Marterung? Warum doch? Zugunsten der »gemäßigten Zonen«? Zugunsten der gemäßigten Menschen? Der »Moralischen«? Der Mittelmäßigen? – Dies zum Kapitel »Moral als Furchtsamkeit«.


198

[653] Alle diese Moralen, die sich an die einzelne Person wenden, zum Zwecke ihres »Glückes«, wie es heißt – was sind sie anderes als Verhaltungs-Vorschläge im Verhältnis zum Grade der Gefährlichkeit, in welcher die einzelne Person mit sich selbst lebt; Rezepte gegen ihre Leidenschaften, ihre guten und schlimmen Hänge, sofern sie den Willen zur Macht haben und den Herrn spielen möchten; kleine und große Klugheiten und Künsteleien, behaftet mit dem Winkelgeruch alter Hausmittel und Altweiber-Weisheit; allesamt in der Form barock und unvernünftig – weil sie sich an »Alle« wenden, weil sie generalisieren, wo nicht generalisiert werden darf –, allesamt unbedingt redend, sich unbedingt nehmend, allesamt nicht nur mit einem Korne Salz gewürzt, vielmehr erst erträglich, und bisweilen sogar verführerisch, wenn sie überwürzt und gefährlich zu riechen lernen, vor allem »nach der anderen Welt«: das ist alles, intellektuell gemessen, wenig wert und noch lange nicht »Wissenschaft«, geschweige denn »Weisheit«, sondern, nochmals gesagt und dreimal gesagt, Klugheit, Klugheit, Klugheit, gemischt mit Dummheit, Dummheit, Dummheit – sei es nun jene Gleichgültigkeit und Bildsäulenkälte gegen die hitzige Narrheit der Affekte, welche die Stoiker anrieten und ankurierten; oder auch jenes Nicht-mehr-Lachen und Nicht-mehr-Weinen des Spinoza, seine so naiv befürwortete Zerstörung der Affekte durch Analysis und Vivisektion derselben; oder jene Herabstimmung der Affekte auf ein unschädliches Mittelmaß, bei welchem sie befriedigt werden dürfen, der Aristotelismus der Moral; selbst Moral als Genuß der Affekte in einer absichtlichen Verdünnung und Vergeistigung durch die Symbolik der Kunst, etwa als Musik, oder als Liebe zu Gott und zum Menschen um Gotteswillen – denn in der Religion haben die Leidenschaften wieder Bürgerrecht, vorausgesetzt daß....; zuletzt selbst jene entgegenkommende und mutwillige Hingebung an die Affekte, wie sie Hafis und Goethe gelehrt haben, jenes kühne Fallen-lassen der Zügel, jene geistig-leibliche licentia morum in dem Ausnahmefalle alter weiser Käuze und Trunkenbolde, bei denen es »wenig Gefahr mehr hat«. Auch dies zum Kapitel »Moral als Furchtsamkeit«.
[654]


199

Insofern es zu allen Zeiten, solange es Menschen gibt, auch Menschenherden gegeben hat (Geschlechts-Verbände, Gemeinden, Stämme, Völker, Staaten, Kirchen) und immer sehr viel Gehorchende im Verhältnis zu der kleinen Zahl Befehlender – in Anbetracht also, daß Gehorsam bisher am besten und längsten unter Menschen geübt und gezüchtet worden ist, darf man billig voraussetzen, daß durchschnittlich jetzt einem jeden das Bedürfnis darnach angeboren ist, als eine Art formalen Gewissens, welches gebietet: »du sollst irgend etwas unbedingt tun, irgend etwas unbedingt lassen«, kurz »du sollst«. Dies Bedürfnis sucht sich zu sättigen und seine Form mit einem Inhalte zu füllen; es greift dabei, gemäß seiner Stärke, Ungeduld und Spannung, wenig wählerisch, als ein grober Appetit, zu und nimmt an, was ihm nur von irgendwelchen Befehlenden – Eltern, Lehrern, Gesetzen, Standesvorurteilen, öffentlichen Meinungen – ins Ohr gerufen wird. Die seltsame Beschränktheit der menschlichen Entwicklung, das Zögernde, Langwierige, oft Zurücklaufende und Sich-Drehende derselben beruht darauf, daß der Herden-Instinkt des Gehorsams am besten und auf Kosten der Kunst des Befehlens vererbt wird. Denkt man sich diesen Instinkt einmal bis zu seinen letzten Ausschweifungen schreitend, so fehlen endlich geradezu die Befehlshaber und Unabhängigen; oder sie leiden innerlich am schlechten Gewissen und haben nötig, sich selbst erst eine Täuschung vorzumachen, um befehlen zu können: nämlich als ob auch sie nur gehorchten. Dieser Zustand besteht heute tatsächlich in Europa: ich nenne ihn die moralische Heuchelei der Befehlenden. Sie wissen sich nicht anders vor ihrem schlechten Gewissen zu schützen als dadurch, daß sie sich als Ausführer älterer oder höherer Befehle gebärden (der Vorfahren, der Verfassung, des Rechts, der Gesetze oder gar Gottes) oder selbst von der Herden-Denkweise her sich Herden-Maximen borgen, zum Beispiel als »erste Diener ihres Volks« oder als »Werkzeuge des gemeinen Wohls«. Auf der andern Seite gibt sich heute der Herdenmensch in Europa das Ansehn, als sei er die einzig erlaubte Art Mensch, und verherrlicht seine Eigenschaften, vermöge deren er zahm, verträglich und der Herde nützlich ist, als die eigentlich menschlichen Tugenden: also Gemeinsinn, Wohlwollen, Rücksicht,[655] Fleiß, Mäßigkeit, Bescheidenheit, Nachsicht, Mitleiden. Für die Fälle aber, wo man der Führer und Leithammel nicht entraten zu können glaubt, macht man heute Versuche über Versuche, durch Zusammen-Addieren kluger Herdenmenschen die Befehlshaber zu ersetzen: dieses Ursprungs sind zum Beispiel alle repräsentativen Verfassungen. Welche Wohltat, welche Erlösung von einem unerträglich werdenden Druck trotz alledem das Erscheinen eines unbedingt Befehlenden für diese Herdentier-Europäer ist, dafür gab die Wirkung, welche das Erscheinen Napoleons machte, das letzte große Zeugnis –die Geschichte der Wirkung Napoleons ist beinahe die Geschichte des höheren Glücks, zu dem es dieses ganze Jahrhundert in seinen wertvollsten Menschen und Augenblicken gebracht hat.


200

Der Mensch aus einem Auflösungs-Zeitalter, welches die Rassen durcheinander wirft, der als solcher die Erbschaft einer vielfältigen Herkunft im Leibe hat, das heißt gegensätzliche und oft nicht einmal nur gegensätzliche Triebe und Wertmaße, welche miteinander kämpfen und sich selten Ruhe geben – ein solcher Mensch der späten Kulturen und der gebrochnen Lichter wird durchschnittlich ein schwächerer Mensch sein: sein gründlichstes Verlangen geht darnach, daß der Krieg, der er ist, einmal ein Ende habe; das Glück erscheint ihm, in Übereinstimmung mit einer beruhigenden (zum Beispiel epikurischen oder christlichen) Medizin und Denkweise, vornehmlich als das Glück des Ausruhens, der Ungestörtheit, der Sattheit, der endlichen Einheit, als »Sabbat der Sabbate«, um mit dem heiligen Rhetor Augustin zu reden, der selbst ein solcher Mensch war. – Wirkt aber der Gegensatz und Krieg in einer solchen Natur wie ein Lebensreiz und –kitzel mehr –, und ist andrerseits zu ihren mächtigen und unversöhnlichen Trieben auch die eigentliche Meisterschaft und Feinheit im Kriegführen mit sich, also Selbst-Beherrschung, Selbst-Überlistung hinzuvererbt und angezüchtet: so entstehn jene zauberhaften Unfaßbaren und Unausdenklichen, jene zum Siege und zur Verführung vorherbestimmten Rätselmenschen, deren schönster Ausdruck Alcibiades und Cäsar (– denen ich gerne jenen ersten Europäer nach meinem[656] Geschmack, den Hohenstaufen Friedrich den Zweiten, zugesellen möchte), unter Künstlern vielleicht Lionardo da Vinci ist. Sie erscheinen genau in denselben Zeiten, wo jener schwächere Typus, mit seinem Verlangen nach Ruhe, in den Vordergrund tritt: beide Typen gehören zueinander und entspringen den gleichen Ursachen.

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 2, S. 648-657.
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