201-203

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[657] Solange die Nützlichkeit, die in den moralischen Werturteilen herrscht, allein die Herden-Nützlichkeit ist, solange der Blick einzig der Erhaltung der Gemeinde zugewendet ist, und das Unmoralische genau und ausschließlich in dem gesucht wird, was dem Gemeinde-Bestand gefährlich scheint: so lange kann es noch keine »Moral der Nächstenliebe« geben. Gesetzt, es findet sich auch da bereits eine beständige kleine Übung von Rücksicht, Mitleiden, Billigkeit, Milde, Gegenseitigkeit der Hilfeleistung, gesetzt, es sind auch auf diesem Zustande der Gesellschaft schon alle jene Triebe tätig, welche später mit Ehrennamen, als »Tugenden« bezeichnet werden und schließlich fast mit dem Begriff »Moralität« in eins zusammenfallen: in jener Zeit gehören sie noch gar nicht in das Reich der moralischen Wertschätzungen – sie sind noch außermoralisch. Eine mitleidige Handlung zum Beispiel heißt in der besten Römerzeit weder gut noch böse, weder moralisch noch unmoralisch; und wird sie selbst gelobt, so verträgt sich mit diesem Lobe noch auf das Beste eine Art unwilliger Geringschätzung, sobald sie nämlich mit irgendeiner Handlung zusammengehalten wird, welche der Förderung des Ganzen, der res publica, dient. Zuletzt ist die »Liebe zum Nächsten« immer etwas Nebensächliches, zum Teil Konventionelles und Willkürlich-Scheinbares im Verhältnis zur Furcht vor dem Nächsten. Nachdem das Gefüge der Gesellschaft im ganzen festgestellt und gegen äußere Gefahren gesichert erscheint, ist es diese Furcht vor dem Nächsten, welche wieder neue Perspektiven der moralischen Wertschätzung schafft. Gewisse starke und gefährliche Triebe, wie Unternehmungslust, Tollkühnheit, Rachsucht, Verschlagenheit, Raubgier, Herrschsucht, die bisher in einem gemeinnützigen Sinne nicht nur geehrt – unter andern Namen, wie billig, als den eben gewählten –, sondern groß-gezogen und -gezüchtet werden[657] mußten (weil man ihrer in der Gefahr des Ganzen gegen die Feinde des Ganzen beständig bedurfte), werden nunmehr in ihrer Gefährlichkeit doppelt stark empfunden – jetzt, wo die Abzugskanäle für sie fehlen – und schrittweise, als unmoralisch, gebrandmarkt und der Verleumdung preisgegeben. Jetzt kommen die gegensätzlichen Triebe und Neigungen zu moralischen Ehren; der Herden-Instinkt zieht, Schritt für Schritt, seine Folgerung. Wie viel oder wie wenig Gemein-Gefährliches, der Gleichheit Gefährliches in einer Meinung, in einem Zustand und Affekte, in einem Willen, in einer Begabung liegt, das ist jetzt die moralische Perspektive: die Furcht ist auch hier wieder die Mutter der Moral. An den höchsten und stärksten Trieben, wenn sie, leidenschaftlich ausbrechend, den einzelnen weit über den Durchschnitt und die Niederung des Herdengewissens hinaus- und hinauftreiben, geht das Selbstgefühl der Gemeinde zugrunde, ihr Glaube an sich, ihr Rückgrat gleichsam, zerbricht: folglich wird man gerade diese Triebe am besten brandmarken und verleumden. Die hohe unabhängige Geistigkeit, der Wille zum Alleinstehn, die große Vernunft schon werden als Gefahr empfunden; alles, was den einzelnen über die Herde hinaushebt und dem Nächsten Furcht macht, heißt von nun an böse; die billige, bescheidene, sich einordnende, gleichsetzende Gesinnung, das Mittelmaß der Begierden kommt zu moralischen Namen und Ehren. Endlich, unter sehr friedfertigen Zuständen, fehlt die Gelegenheit und Nötigung immer mehr, sein Gefühl zur Strenge und Härte zu erziehn; und jetzt beginnt jede Strenge, selbst in der Gerechtigkeit, die Gewissen stören; eine hohe und harte Vornehmheit und Selbst-Verantwortlichkeit beleidigt beinahe und erweckt Mißtrauen, »das Lamm«, noch mehr »das Schaf« gewinnt an Achtung. Es gibt einen Punkt von krankhafter Vermürbung und Verzärtlichung in der Geschichte der Gesellschaft, wo sie selbst für ihren Schädiger, den Verbrecher Partei nimmt, und zwar ernsthaft und ehrlich. Strafen: das scheint ihr irgendworin unbillig – gewiß ist, daß die Vorstellung »Strafe« und »Strafen-Sollen« ihr wehtut, ihr Furcht macht. »Genügt es nicht, ihn

ungefährlich machen? Wozu noch strafen? Strafen selbst ist fürchterlich!« – mit dieser Frage zieht die Herden-Moral, die Moral der Furchtsamkeit, ihre letzte Konsequenz. Gesetzt, man könnte überhaupt die Gefahr, den Grund zum Fürchten abschaffen, so hätte man[658] diese Moral mit abgeschafft: sie wäre nicht mehr nötig, sie hielte sich selbst nicht mehr für nötig! – Wer das Gewissen des heutigen Europäers prüft, wird aus tausend moralischen Falten und Verstecken immer den gleichen Imperativ herauszuziehen haben, den Imperativ der Herden-Furchtsamkeit: »wir wollen, daß es irgendwann einmal nichts mehr zu fürchten gibt!« Irgendwann einmal – der Wille und Weg dorthin heißt heute in Europa überall der »Fortschritt«.


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Sagen wir es sofort noch einmal, was wir schon hundertmal gesagt haben: denn die Ohren sind für solche Wahrheiten – für unsre Wahrheiten – heute nicht gutwillig. Wir wissen es schon genug, wie beleidigend es klingt, wenn einer überhaupt den Menschen ungeschminkt und ohne Gleichnis zu den Tieren rechnet; aber es wird beinahe als Schuld uns angerechnet wer den, daß wir gerade in bezug auf die Menschen der »modernen Ideen« beständig die Ausdrücke »Herde«, »Herden-Instinkte« und dergleichen gebrauchen. Was hilft es! Wir können nicht anders: denn gerade hier liegt unsre neue Einsicht. Wir fanden, daß in allen moralischen Haupturteilen Europa einmütig geworden ist, die Länder noch hinzugerechnet, wo Europas Einfluß herrscht: man weiß ersichtlich in Europa, was Sokrates nicht zu wissen meinte, und was jene alte berühmte Schlange einst zu lehren verhieß – man »weiß« heute, was Gut und Böse ist. Nun muß es hart klingen und schlecht zu Ohren gehn, wenn wir immer von neuem darauf bestehn: was hier zu wissen glaubt, was hier mit seinem Loben und Tadeln sich selbst verherrlicht, sich selbst gut heißt, ist der Instinkt des Herdentiers Mensch: als welcher zum Durchbruch, zum Übergewicht, zur Vorherrschaft über andre Instinkte gekommen ist und immer mehr kommt, gemäß der wachsenden physiologischen Annäherung und Anähnlichung, deren Symptom er ist. Moral ist heute in Europa Herdentier-Moral – also nur, wie wir die Dinge verstehn, eine Art von menschlicher Moral, neben der, vor der, nach der viele andere, vor allem höhere Moralen möglich sind oder sein sollten. Gegen eine solche »Möglichkeit«, gegen ein solches »Sollte« wehrt sich aber diese Moral mit allen Kräften: sie sagt hartnäckig und unerbittlich »ich bin die[659] Moral selbst, und nichts außerdem ist Moral!«- ja mit Hilfe einer Religion, welche den sublimsten Herdentier-Begierden zu willen war und schmeichelte, ist es dahin gekommen, daß wir selbst in den politischen und gesellschaftlichen Einrichtungen einen immer sichtbareren Ausdruck dieser Moral finden: die demokratische Bewegung macht die Erbschaft der christlichen. Daß aber deren Tempo für die Ungeduldigeren, für die Kranken und Süchtigen des genannten Instinktes noch viel zu langsam und schläfrig ist, dafür spricht das immer rasender werdende Geheul, das immer unverhülltere Zähnefletschen der Anarchisten-Hunde, welche jetzt durch die Gassen der europäischen Kultur schweifen: anscheinend im Gegensatz zu den friedlich-arbeitsamen Demokraten und Revolutions-Ideologen, noch mehr zu den tölpelhaften Philosophastern und Bruderschafts-Schwärmern, welche sich Sozialisten nennen und die »freie Gesellschaft« wollen, in Wahrheit aber eins mit ihnen allen in der gründlichen und instinktiven Feindseligkeit gegen jede andre Gesellschaftsform als die der autonomen Herde (bis hinauf zur Ablehnung selbst der Begriffe »Herr« und »Knecht« – ni dieu ni maître heißt eine sozialistische Formel –); eins im zähen Widerstande gegen jeden Sonder-Anspruch, jedes Sonder-Recht und Vorrecht (das heißt im letzten Grunde gegen jedes Recht: denn dann, wenn alle gleich sind, braucht niemand mehr »Rechte« –); eins im Mißtrauen gegen die strafende Gerechtigkeit (wie als ob sie eine Vergewaltigung an Schwächeren, ein Unrecht an der notwendigen Folge aller früheren Gesellschaft wäre –); aber ebenso eins in der Religion des Mitleidens, im Mitgefühl, soweit nur gefühlt, gelebt, gelitten wird (bis hinab zum Tier, bis hinauf zu »Gott« – die Ausschweifung eines »Mitleidens mit Gott« gehört in ein demokratisches Zeitalter –); eins allesamt im Schrei und der Ungeduld des Mitleidens, im Todhaß gegen das Leiden überhaupt, in der fast weiblichen Unfähigkeit, Zuschauer dabei bleiben zu können, leiden lassen zu können; eins in der unfreiwilligen Verdüsterung und Verzärtlichung, unter deren Bann Europa von einem neuen Buddhismus bedroht scheint; eins im Glauben an die Moral des gemeinsamen Mitleidens, wie als ob sie die Moral an sich sei,

als die Höhe, die erreichte Höhe des Menschen, die alleinige Hoffnung der Zukunft, das Trostmittel der Gegenwärtigen, die große Ablösung aller Schuld von ehedem – eins allesamt im[660] Glauben an die Gemeinschaft als die Erlöserin, an die Herde also, an »sich«...


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Wir, die wir eines andren Glaubens sind – wir, denen die demokratische Bewegung nicht bloß als eine Verfalls-Form der politischen Organisation, sondern als Verfalls-, nämlich Verkleinerungs-Form des Menschen gilt, als seine Vermittelmäßigung und Wert-Erniedrigung: wohin müssen wir mit unsren Hoffnungen greifen? – Nach neuen Philosophen, es bleibt keine Wahl; nach Geistern, stark und ursprünglich genug, um die Anstöße zu entgegengesetzten Wertschätzungen zu geben und »ewige Werte« umzuwerten, umzukehren; nach Vorausgesandten, nach Menschen der Zukunft, welche in der Gegenwart den Zwang und Knoten anknüpfen, der den Willen von Jahrtausenden auf neue Bahnen zwingt. Dem Menschen die Zukunft des Menschen als seinen Willen, als abhängig von einem Menschenwillen zu lehren und große Wagnisse und Gesamt-Versuche von Zucht und Züchtung vorzubereiten, um damit jener schauerlichen Herrschaft des Unsinns und Zufalls, die bisher »Geschichte« hieß, ein Ende zu machen – der Unsinn der »größten Zahl« ist nur seine letzte Form –: dazu wird irgendwann einmal eine neue Art von Philosophen und Befehlshabern nötig sein, an deren Bilde sich alles, was auf Erden an verborgenen, furchtbaren und wohlwollenden Geistern dagewesen ist, blaß und verzwergt ausnehmen möchte. Das Bild solcher Führer ist es, das vor unsern Augen schwebt – darf ich es laut sagen, ihr freien Geister? Die Umstände, welche man zu ihrer Entstehung teils schaffen, teils ausnützen müßte; die mutmaßlichen Wege und Proben, vermöge deren eine Seele zu einer solchen Höhe und Gewalt aufwüchse, um den Zwang zu diesen Aufgaben zu empfinden; eine Umwertung der Werte, unter deren neuem Druck und Hammer ein Gewissen gestählt, ein Herz in Erz verwandelt würde, daß es das Gewicht einer solchen Verantwortlichkeit ertrüge; andrerseits die Notwendigkeit solcher Führer, die erschreckliche Gefahr, daß sie ausbleiben oder mißraten oder entarten könnten – das sind unsre eigentlichen Sorgen und Verdüsterungen, ihr wißt es, ihr freien Geister? das sind die schweren fernen Gedanken und Gewitter, welche über den Himmel unsres[661] Lebens hingehn. Es gibt wenig so empfindliche Schmerzen, als einmal gesehn, erraten, mitgefühlt zu haben, wie ein außerordentlicher Mensch aus seiner Bahn geriet und entartete: wer aber das seltne Auge für die Gesamt-Gefahr hat, daß »der Mensch« selbst entartet, wer, gleich uns, die ungeheuerliche Zufälligkeit erkannt hat, welche bisher in Hinsicht auf die Zukunft des Menschen ihr Spiel spielte – ein Spiel, an dem keine Hand und nicht einmal ein »Finger Gottes« mitspielte! – wer das Verhängnis errät, das in der blödsinnigen Arglosigkeit und Vertrauensseligkeit der »modernen Ideen«, noch mehr in der ganzen christlich-europäischen Moral verborgen liegt: der leidet an einer Beängstigung, mit der sich keine andre vergleichen läßt – er faßt es ja mit einem Blicke, was alles noch, bei einer günstigen Ansammlung und Steigerung von Kräften und Aufgaben, aus dem Menschen zu züchten wäre, er weiß es mit allem Wissen seines Gewissens, wie der Mensch noch unausgeschöpft für die größten Möglichkeiten ist, und wie oft schon der Typus Mensch an geheimnisvollen Entscheidungen und neuen Wegen gestanden hat – er weiß es noch besser, aus seiner schmerzlichsten Erinnerung, an was für erbärmlichen Dingen ein Werdendes höchsten Ranges bisher gewöhnlich zerbrach, abbrach, absank, erbärmlich ward. Die Gesamt-Entartung des Menschen, hinab bis zu dem, was heute den sozialistischen Tölpeln und Flachköpfen als ihr »Mensch der Zukunft« erscheint, – als ihr Ideal! – diese Entartung und Verkleinerung des Menschen zum vollkommnen Herdentiere (oder, wie sie sagen, zum Menschen der »freien Gesellschaft«), diese Vertierung des Menschen zum Zwergtiere der gleichen Rechte und Ansprüche ist möglich, es ist kein Zweifel! Wer diese Möglichkeit einmal bis zu Ende gedacht hat, kennt einen Ekel mehr als die übrigen Menschen – und viel leicht auch eine neue

Aufgabe!....[662]

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 2, S. 657-663.
Lizenz:
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