101

[630] Heute möchte sich ein Erkennender leicht als Tierwerdung Gottes fühlen.


102

Gegenliebe entdecken sollte eigentlich den Liebenden über das geliebte Wesen ernüchtern. »Wie? es ist bescheiden genug, sogar dich zu lieben? Oder dumm genug? Oder – oder –«


103

Die Gefahr im Glücke. – »Nun gereicht mir alles zum besten, nunmehr liebe ich jedes Schicksal – wer hat Lust, mein Schicksal zu sein?«


104

Nicht ihre Menschenliebe, sondern die Ohnmacht ihrer Menschenliebe hindert die Christen von heute, uns – zu verbrennen.


105

Dem freien Geiste, dem »Frommen der Erkenntnis« – geht die pia fraus noch mehr wider den Geschmack (wider seine »Frömmigkeit«) als die impia fraus. Daher sein tiefer Unverstand gegen die Kirche, wie er zum Typus »freier Geist« gehört – als seine Unfreiheit.


106

[630] Vermöge der Musik genießen sich die Leidenschaften selbst.


107

Wenn der Entschluß einmal gefaßt ist, das Ohr auch für den besten Gegengrund zuzuschließen: Zeichen des starken Charakters. Also ein gelegentlicher Wille zur Dummheit.


108

Es gibt gar keine moralischen Phänomene, sondern nur eine moralische Ausdeutung von Phänomenen...


109

Der Verbrecher ist häufig genug seiner Tat nicht gewachsen: er verkleinert und verleumdet sie.


110

Die Advokaten eines Verbrechers sind selten Artisten genug, um das schöne Schreckliche der Tat zugunsten ihres Täters zu wenden.

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 2, S. 630-631.
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Jenseits von Gut und Böse. Zur Genealogie der Moral. Herausgegeben von G. Colli und M. Montinari.
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