352

[635] Man wird falsch beurteilt. – Wer immer darnach hinhorcht, wie er beurteilt wird, hat immer Ärger. Denn wir werden schon von denen, welche uns am nächsten stehen (»am besten kennen«), falsch beurteilt. Selbst gute Freunde lassen ihre Verstimmung mitunter in einem mißgünstigen Worte aus; und würden sie unsere Freunde sein, wenn sie uns genau kennten? – Die Urteile der Gleichgültigen tun sehr weh,[635] weil sie so unbefangen, fast sachlich klingen. Merken wir aber gar, daß jemand, der uns feind ist, uns in einem geheim gehaltenen Punkte so gut kennt, wie wir uns, wie groß ist dann erst der Verdruß!

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 1, S. 635-636.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Menschliches, Allzumenschliches
TITLE: Werke, Kritische Gesamtausgabe, Abt.4, Bd.4, Nachbericht zur vierten Abteilung: Richard Wagner in Bayreuth; Menschliches, Allzumenschliches I-II; Nachgelassene Fragmente 1875-1879
Menschliches, Allzumenschliches, I und II. Herausgegeben von G. Colli und M. Montinari.
TITLE: Werke in drei Bänden (mit Index), Bd.1: Menschliches, Allzumenschliches / Morgenröte
Menschliches, Allzumenschliches: Ein Buch für freie Geister. Mit einem Nachwort von Ralph-Rainer Wuthenow (insel taschenbuch)
Menschliches, Allzumenschliches: Ein Buch für freie Geister (insel taschenbuch)