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[1132] So wenig als möglich Staat! – Alle politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse sind es nicht wert, daß gerade die begabtesten Geister sich mit ihnen befassen dürften und müßten: ein solcher Verbrauch des Geistes ist im Grunde schlimmer als ein Notstand. Es sind und bleiben Gebiete der Arbeit für die geringeren Köpfe, und andere als die geringen Köpfe sollten dieser Werkstätte nicht zu Diensten stehen: möge lieber die Maschine wieder einmal in Stücke gehen! So wie es aber jetzt steht, wo nicht nur alle täglich darum glauben wissen zu müssen, sondern auch jedermann alle Augenblicke dafür tätig sein will und seine eigene Arbeit darüber im Stiche läßt, ist es ein großer und lächerlicher Wahnsinn. Man bezahlt die »allgemeine Sicherheit« viel zu teuer um diesen Preis: und, was das Tollste ist, man bringt überdies das Gegenteil der allgemeinen Sicherheit damit hervor, wie unser liebes Jahrhundert zu beweisen unternimmt: als ob es noch nie bewiesen wäre! Die Gesellschaft diebssicher und feuerfest und unendlich bequem für jeden Handel und Wandel zu machen und den Staat zur Vorsehung im guten und schlimmen Sinne umzuwandeln – dies sind niedere, mäßige und nicht durchaus unentbehrliche Ziele, welche man nicht mit den höchsten Mitteln und Werkzeugen erstreben sollte, die es überhaupt gibt, – den Mitteln, die man eben für die höchsten und seltensten Zwecke sich aufzusparen hätte! Unser Zeitalter, soviel es von Ökonomie redet, ist ein Verschwender: es verschwendet das Kostbarste, den Geist.

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 1, S. 1132-1133.
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Morgenröte
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