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[1135] Rausch und Ernährung. – Die Völker werden so sehr betrogen, weil sie immer einen Betrüger suchen: nämlich einen aufregenden Wein für[1135] ihre Sinne. Wenn sie nur den haben können, dann nehmen sie wohl mit schlechtem Brote fürlieb. Der Rausch gilt ihnen mehr als die Nahrung – hier ist der Köder, an dem sie immer anbeißen werden! Was sind ihnen Männer, aus ihrer Mitte gewählt – und seien es die sachkundigsten Praktiker – gegen glänzende Eroberer, oder alte prunkhafte Fürstenhäuser! Mindestens muß der Volksmann ihnen Eroberungen und Prunk in Aussicht stellen: so findet er vielleicht Glauben. Sie gehorchen immer und tun noch mehr als gehorchen, vorausgesetzt, daß sie sich dabei berauschen können! Man darf ihnen selbst die Ruhe und das Vergnügen nicht anbieten, ohne den Lorbeerkranz und seine verrückt machende Kraft darin. Dieser pöbelhafte Geschmack, welcher den Rausch wichtiger nimmt als die Ernährung, ist aber keineswegs in der Tiefe des Pöbels entstanden: er ist vielmehr dorthin getragen, dorthin verpflanzt und dort nur noch am meisten rückständig und üppig aufschießend, während er von den höchsten Intelligenzen her seinen Ursprung nimmt und Jahrtausende lang in ihnen geblüht hat. Das Volk ist der letzte wilde Boden, auf dem dieses glänzende Unkraut noch gedeihen kann. – Wie! Und ihm gerade sollte man die Politik anvertrauen? Damit es sich aus ihr seinen täglichen Rausch mache?

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 1, S. 1135-1136.
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