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[1028] Freitäter und Freidenker. – Die Freitäter sind im Nachteil gegen die Freidenker, weil die Menschen sichtbarer an den Folgen von Taten als von Gedanken leiden. Bedenkt man aber, daß diese wie jene ihre Befriedigung suchen, und daß den Freidenkern schon ein Ausdenken und Aussprechen von verbotenen Dingen diese Befriedigung gibt, so ist in Ansehung der Motive alles eins: und in Ansehung der Folgen wird der Ausschlag sogar gegen den Freidenker sein, vorausgesetzt, daß man nicht nach der nächsten und gröbsten Sichtbarkeit – das heißt: nicht wie alle Welt urteilt. Man hat viel von der Verunglimpfung wieder zurückzunehmen, mit der die Menschen alle jene bedacht haben, welche durch die Tat den Bann einer Sitte durchbrachen, – im allgemeinen heißen sie Verbrecher. Jeder, der das bestehende Sittengesetz umwarf, hat bisher zuerst immer als schlechter Mensch gegolten: aber wenn man, wie es vorkam, hinterher es nicht wieder aufzurichten vermochte und sich damit zufrieden gab, so veränderte sich das Prädikat allmählich; – die Geschichte handelt fast nur von diesen schlechten Menschen, welche später gutgesprochen worden sind!

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 1, S. 1028.
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Morgenröte / Idyllen aus Messina / Die fröhliche Wissenschaft. Herausgegeben von G. Colli und M. Montinari.
Morgenröte. Gedanken über die moralischen Vorurteile.
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