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[1037] Eine Narrheit der Pietät mit Hintergedanken. – Wie! die Erfinder der uralten Kulturen, die ältesten Verfertiger der Werkzeuge und Meßschnüre, der Wagen und Schiffe und Häuser, die ersten Beobachter der[1037] himmlischen Gesetzmäßigkeit und der Regeln des Einmaleins, – sie seien etwas unvergleichlich anderes und Höheres als die Erfinder und Beobachter unserer Zeiten? Die ersten Schritte hätten einen Wert, dem alle unsere Reisen und Weltumsegelungen im Reiche der Entdeckungen nicht gleichkämen? So klingt das Vorurteil, so argumentiert man für die Geringschätzung des gegenwärtigen Geistes. Und doch liegt auf der Hand, daß der Zufall ehemals der größte aller Entdecker und Beobachter und der wohlwollende Einbläser jener erfinderischen Alten war, und daß bei der unbedeutendsten Erfindung, die jetzt gemacht wird, mehr Geist, Zucht und wissenschaftliche Phantasie verbraucht wird, als früher in ganzen Zeitläuften überhaupt vorhanden war.

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 1, S. 1037-1038.
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Morgenröte
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Morgenröte / Idyllen aus Messina / Die fröhliche Wissenschaft. Herausgegeben von G. Colli und M. Montinari.
Morgenröte. Gedanken über die moralischen Vorurteile.
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