39

[1039] Das Vorurteil vom »reinen Geiste«. – Überall, wo die Lehre von der reinen Geistigkeit geherrscht hat, hat sie mit ihren Ausschweifungen die[1039] Nervenkraft zerstört: sie lehrte den Körper geringschätzen, vernachlässigen oder quälen, und um aller seiner Triebe willen den Menschen selber quälen und geringschätzen; sie gab verdüsterte, gespannte, gedrückte Seelen, – welche noch überdies glaubten, die Ursache ihres Elend-Gefühls zu kennen und sie vielleicht heben zu können! »Im Körper muß sie liegen! er blüht immer noch zu sehr!« – so schlossen sie, während tatsächlich derselbe gegen seine fortwährende Verhöhnung durch seine Schmerzen Einsprache über Einsprache erhob. Eine allgemeine, chronisch gewordene Übernervosität war endlich das Los jener tugendhaften Reingeistigen: die Lust lernten sie nur noch in der Form der Ekstase und anderer Vorläufer des Wahnsinns kennen – und ihr System kam auf seine Spitze, als es die Ekstase als das Höheziel des Lebens und als den verurteilenden Maßstab für alles Irdische nahm.

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 1, S. 1039-1040.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Morgenröte
Sämtliche Werke: kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden - Teil 3. Morgenröte / Idyllen aus Messina / Die fröhliche Wissenschaft
Morgenröte / Idyllen aus Messina / Die fröhliche Wissenschaft. Herausgegeben von G. Colli und M. Montinari.
Morgenröte. Gedanken über die moralischen Vorurteile.
TITLE: Werke in drei Bänden (mit Index), Bd.1: Menschliches, Allzumenschliches / Morgenröte
Morgenröte: Gedanken über die moralischen Vorurteile (insel taschenbuch)