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[1042] Herkunft der vita contemplativa. – In rohen Zeiten, wo die pessimistischen Urteile über Mensch und Welt herrschen, ist der einzelne im Gefühle seiner vollen Kraft immer darauf aus, jenen Urteilen gemäß zu handeln, also die Vorstellung in Aktion zu übersetzen, durch Jagd, Raub, Überfall, Mißhandlung und Mord, eingerechnet die blässeren Abbilder jener Handlungen, wie sie innerhalb der Gemeinde allein geduldet werden. Läßt seine Kraft aber nach, fühlt er sich müde oder krank oder schwermütig oder übersättigt und infolge davon zeitweilig wunsch- und begierdenlos, so ist er da ein verhältnismäßig besserer, das heißt weniger schädlicher Mensch, und seine pessimistischen Vorstellungen entladen sich dann nur noch in Worten und Gedanken, zum Beispiel über den Wert seiner Genossen oder seines Weibes oder seines Lebens oder seiner Götter, – seine Urteile werden böse Urteile sein. In diesem Zustande wird er zum Denker und Vorausverkünder, oder er dichtet an seinem Aberglauben weiter und sinnt neue Gebräuche aus, oder er spottet seiner Feinde –: was er aber auch erdenkt, alle Erzeugnisse müssen seinen Zustand widerspiegeln, also die Zunahme der Furcht und der Ermüdung, die Abnahme seiner Schätzung des Handelns und Genießens; der Gehalt dieser Erzeugnisse muß dem Gehalte dieser dichterischen, denkerischen, priesterlichen Stimmungen entsprechen; das böse Urteil muß darin regieren. Später nannte man alle die, welche andauernd taten, was früher der einzelne in jenem Zustande tat, welche also böse urteilten, melancholisch und tatenarm lebten, Dichter oder Denker oder Priester oder Medizinmänner –: man würde solche Menschen, weil sie nicht genug handelten, gerne geringgeschätzt und aus der Gemeinde gestoßen haben; aber es gab eine Gefahr dabei, – sie waren dem Aberglauben und der Spur göttlicher Kräfte nachgegangen, man zweifelte nicht daran, daß sie über unbekannte Mittel der Macht geböten. Dies ist die Schätzung, in der das älteste Geschlecht kontemplativer Naturen lebte, – genau so weit verachtet, als sie nicht gefürchtet wurden! In solcher vermummten Gestalt,[1042] in solchem zweideutigen Ansehen, mit einem bösen Herzen und oft mit einem geängstigten Kopfe, ist die Kontemplation zuerst auf der Erde erschienen, zugleich schwach und furchtbar, im geheimen verachtet und öffentlich mit abergläubischer Ehrerbietung überschüttet! Hier, wie immer, muß es heißen: pudenda origo!

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 1, S. 1042-1043.
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Morgenröte / Idyllen aus Messina / Die fröhliche Wissenschaft. Herausgegeben von G. Colli und M. Montinari.
Morgenröte. Gedanken über die moralischen Vorurteile.
TITLE: Werke in drei Bänden (mit Index), Bd.1: Menschliches, Allzumenschliches / Morgenröte
Morgenröte: Gedanken über die moralischen Vorurteile (insel taschenbuch)