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[1070] Luther der große Wohltäter. – Das Bedeutendste, was Luther gewirkt hat, liegt in dem Mißtrauen, welches er gegen die Heiligen und die ganze christliche vita contemplativa geweckt hat: seitdem erst ist der Weg zu einer unchristlichen vita contemplativa in Europa wieder zugänglich geworden und der Verachtung der weltlichen Tätigkeit und der Laien ein Ziel gesetzt. Luther, der ein wackerer Bergmannssohn blieb, als man ihn ins Kloster gesperrt hatte, und hier, in Ermangelung anderer Tiefen und »Teufen«, in sich einstieg und schreckliche dunkle Gänge bohrte, – er merkte endlich, daß ein beschauliches heiliges Leben ihm unmöglich sei und daß seine angeborene »Aktivität« in Seele und Leib ihn zugrunde richten werde. Allzulange versuchte er mit Kasteiungen den Weg zum Heiligen zu finden, – endlich faßte er seinen Entschluß und sagte bei sich: »es gibt gar keine wirkliche vita contemplativa! Wir haben uns betrügen lassen! Die Heiligen sind nicht mehr wert gewesen als wir alle.« – Das war freilich eine bäurische Art, recht zu behalten, – aber für Deutsche jener Zeit die rechte und einzige: wie erbaute es sie, nun in ihrem Lutherischen Katechismus zu lesen: »außer den zehn Geboten gibt es kein Werk, das Gott gefallen könnte, – die gerühmten geistlichen Werke der Heiligen sind selbsterdachte.«

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 1, S. 1070.
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