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[1233] Seine gefährlichen Stunden ausnützen. – Man lernt einen Menschen und einen Zustand ganz anders kennen, wenn Gefahr um Hab und Gut, Ehre, Leben und Tod, für uns und unsere Liebsten, in jeder ihrer Bewegungen liegt: wie zum Beispiel Tiberius tiefer über das Innre des Kaisers Augustus und seines Regimentes nachgedacht und mehr davon gewußt haben muß, als dem weisesten Historiker es auch nur möglich wäre. Nun leben wir alle vergleichungsweise in einer viel zu großen Sicherheit, als daß wir gute Menschenkenner werden könnten: der eine erkennt aus Liebhaberei, der andere aus Langerweile, der[1233] dritte aus Gewohnheit; niemals heißt es: »erkenne, oder geh zugrunde!« Solange sich uns die Wahrheiten nicht mit Messern ins Fleisch schneiden, haben wir in uns einen geheimen Vorbehalt der Geringschätzung gegen sie: sie scheinen uns immer noch den »gefiederten Träumen« zu ähnlich, wie als ob wir sie haben und auch nicht haben könnten – als ob etwas an ihnen in unserm Belieben stünde, als ob wir auch von diesen unsern Wahrheiten erwachen könnten!

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 1, S. 1233-1234.
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Morgenröte / Idyllen aus Messina / Die fröhliche Wissenschaft. Herausgegeben von G. Colli und M. Montinari.
Morgenröte. Gedanken über die moralischen Vorurteile.
TITLE: Werke in drei Bänden (mit Index), Bd.1: Menschliches, Allzumenschliches / Morgenröte
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