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[1265] Wie man jetzt Philosophie treibt. – Ich merke wohl: unsere philosophierenden Jünglinge, Frauen und Künstler verlangen jetzt gerade das Gegenteil dessen von der Philosophie, was die Griechen von ihr empfingen! Wer das fortwährende Jauchzen nicht hört, welches durch jede Rede und Gegenrede eines platonischen Dialogs geht, das Jauchzen über die neue Erfindung des vernünftigen Denkens, was versteht der von Plato, was von der alten Philosophie? Damals füllten sich die Seelen mit Trunkenheit, wenn das strenge und nüchterne Spiel des Begriffs, der Verallgemeinerung, Widerlegung, Engführung getrieben wurde, – mit jener Trunkenheit, welche vielleicht auch die alten großen strengen und nüchternen Kontrapunktiker der Musik gekannt haben. Damals hatte man in Griechenland den anderen älteren und ehedem allmächtigeren Geschmack noch auf der Zunge: und gegen ihn hob sich das Neue so zauberhaft ab, daß man von der Dialektik, der »göttlichen Kunst«, wie im Liebeswahnsinn sang und stammelte. Jenes Alte aber war das Denken im Banne der Sittlichkeit, für das es lauter festgestellte Urteile, festgestellte Ursachen, keine andern Gründe als die der Autorität gab: so daß Denken ein Nachreden war und aller Genuß der Rede und des Gesprächs in der Form liegen mußte. (Überall, wo der Gehalt als ewig und allgültig gedacht wird, gibt es nur einen großen Zauber: den der wechselnden Form, das heißt der Mode. Der Grieche genoß auch an den Dichtern, von den Zeiten Homers her, und später an den Plastikern, nicht die Originalität, sondern deren Widerspiel.) Sokrates war es, der den entgegengesetzten Zauber, den der Ursache und Wirkung, des Grundes und der Folge entdeckte: und wir modernen Menschen[1265] sind so sehr an die Notdurft der Logik gewöhnt und zu ihr erzogen, daß sie uns als der normale Geschmack auf der Zunge liegt und als solcher den Lüsternen und Dünkelhaften zuwider sein muß. Was sich gegen ihn abhebt, entzückt diese: ihr feinerer Ehrgeiz möchte gar zu gerne sich glauben machen, daß ihre Seelen Ausnahmen seien, nicht dialektische und vernünftige Wesen, sondern – nun zum Beispiel »intuitive Wesen«, begabt mit dem »inneren Sinn« oder mit der »intellektualen Anschauung«. Vor allem aber wollen sie »künstlerische Naturen« sein, mit einem Genius im Kopfe und einem Dämon im Leibe und folglich auch mit Sonderrechten für diese und jene Welt, namentlich mit dem Götter-Vorrecht, unbegreiflich zu sein. – Das treibt nun auch Philosophie! Ich fürchte, sie merken eines Tages, daß sie sich vergriffen haben, – das, was sie wollen, ist Religion!

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 1, S. 1265-1266.
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