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[882] In Hinsicht auf diese ganze Art der priesterlichen Medikation, die »schuldige« Art, ist jedes Wort Kritik zu viel. Daß eine solche Ausschweifung des Gefühls, wie sie in diesem Falle der asketische Priester seinen Kranken zu verordnen pflegt (unter den heiligsten Namen, wie sich von selbst versteht, insgleichen durchdrungen von der Heiligkeit seines Zwecks), irgendeinem Kranken wirklich genützt habe, wer hätte wohl Lust, eine Behauptung der Art aufrechtzuhalten? Zum mindesten sollte man sich über das Wort »nützen« verstehn. Will man damit ausdrücken, ein solches System von Behandlung habe den Menschen verbessert, so widerspreche ich nicht: nur daß ich hinzufüge, was bei mir »verbessert« heißt – ebenso viel wie »gezähmt«, »geschwächt«, »entmutigt«, »raffiniert«, »verzärtlicht«, »entmannt« (also beinahe so viel als geschädigt...). Wenn es sich aber in der Hauptsache um Kranke, Verstimmte, Deprimierte handelt, so macht ein solches System den Kranken, gesetzt selbst, daß es ihn »besser« machte, unter allen Umständen [882] kränker; man frage nur die Irrenärzte, was eine methodische Anwendung von Buß-Quälereien, Zerknirschungen und Erlösungskrämpfen immer mit sich führt. Insgleichen befrage man die Geschichte: überall, wo der asketische Priester diese Krankenbehandlung durchgesetzt hat, ist jedesmal die Krankhaftigkeit unheimlich schnell in die Tiefe und Breite gewachsen. Was war immer der »Erfolg«? Ein zerrüttetes Nervensystem, hinzu zu dem, was sonst schon krank war; und das im größten wie im kleinsten, bei einzelnen wie bei Massen. Wir finden im Gefolge des Buß- und Erlösungs-training ungeheure epileptische Epidemien, die größten, von denen die Geschichte weiß, wie die der St.-Veit- und St.-Johann-Tänzer des Mittelalters; wir finden als andre Form seines Nachspiels furchtbare Lähmungen und Dauer-Depressionen, mit denen unter Umständen das Temperament eines Volks oder einer Stadt (Genf, Basel) ein für allemal in sein Gegenteil umschlägt; – hierher gehört auch die Hexen-Hysterie, etwas dem Somnambulismus Verwandtes (acht große epidemische Ausbrüche derselben allein zwischen 1564 und 1605) –; wir finden in seinem Gefolge insgleichen jene todsüchtigen Massen-Delirien, deren entsetzlicher Schrei »evviva la morte!« über ganz Europa weg gehört wurde, unterbrochen bald von wollüstigen, bald von zerstörungswütigen Idiosynkrasien: wie der gleiche Affektwechsel, mit den gleichen Intermittenzen und Umsprüngen, auch heute noch überall beobachtet wird, in jedem Falle, wo die asketische Sündenlehre es wieder einmal zu einem großen Erfolge bringt. (Die religiöse Neurose erscheint als eine Form des »bösen Wesens«: daran ist kein Zweifel. Was sie ist? Quaeritur.) Ins große gerechnet, so hat sich das asketische Ideal und sein sublimmoralischer Kultus, diese geistreichste, unbedenklichste und gefährlichste Systematisierung aller Mittel der Gefühls-Ausschweifung unter dem Schutzheiliger Absichten, auf eine furchtbare und unvergeßliche Weise in die ganze Geschichte des Menschen eingeschrieben; und leider nicht nur in seine Geschichte... Ich wüßte kaum noch etwas anderes geltendzumachen, was dermaßen zerstörerisch der Gesundheit und Rassen-Kräftigkeit, namentlich der Europäer, zugesetzt hat als dies Ideal; man darf es ohne alle Übertreibung das eigentliche Verhängnis in der Gesundheitsgeschichte des europäischen Menschen nennen. Höchstens, daß seinem Einflusse noch der spezifisch-germanische Einfluß[883] gleichzusetzen wäre: ich meine die Alkohol-Vergiftung Europas, welche streng mit dem politischen und Rassen-Über gewicht der Germanen bisher Schritt gehalten hat (– wo sie ihr Blut einimpften, impften sie auch ihr Laster ein). – Zu dritt in der Reihe wäre die Syphilis zu nennen – magno sed proxima intervallo.


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Der asketische Priester hat die seelische Gesundheit verdorben, wo er auch nur zur Herrschaft gekommen ist, er hat folglich auch den Geschmack verdorben in artibus et litteris – er verdirbt ihn immer noch. »Folglich?« – Ich hoffe, man gibt mir dies Folglich einfach zu; zum mindesten will ich es nicht erst beweisen. Ein einziger Fingerzeig: er gilt dem Grundbuche der christlichen Literatur, ihrem eigentlichen Modell, ihrem »Buche an sich«. Noch inmitten der griechisch-römischen Herrlichkeit, welche auch eine Bücher-Herrlichkeit war, angesichts einer noch nicht verkümmerten und zertrümmerten antiken Schriften-Welt, zu einer Zeit, da man noch einige Bücher lesen konnte, um deren Besitz man jetzt halbe Literaturen eintauschen würde, wagte es bereits die Einfalt und Eitelkeit christlicher Agitatoren – man heißt sie Kirchenväter –, zu dekretieren: »auch wir haben unsre klassische Literatur, wir brauchen die der Griechen nicht« – und dabei wies man stolz auf Legendenbücher, Apostelbriefe und apologetische Traktätlein hin, ungefähr so, wie heute die englische »Heilsarmee« mit einer verwandten Literatur ihren Kampf gegen Shakespeare und andre »Heiden« kämpft. Ich liebe das »Neue Testament« nicht, man errät es bereits; es beunruhigt mich beinahe, mit meinem Geschmack in betreff dieses geschätztesten, überschätztesten Schriftwerks dermaßen alleinzustehn (der Geschmack zweier Jahrtausende ist gegen mich): aber, was hilft es! »Hier stehe ich, ich kann nicht anders«, – ich habe den Mut zu meinem schlechten Geschmack. Das Alte Testament – ja, das ist ganz etwas anderes: alle Achtung vor dem Alten Testament! In ihm finde ich große Menschen, eine heroische Landschaft und etwas vom Allerseltensten auf Erden, die unvergleichliche Naivität des starken Herzens; mehr noch, ich finde ein Volk. Im Neuen dagegen lauter kleine Sekten-Wirtschaft, lauter Rokoko der Seele, lauter Verschnörkeltes,[884] Winkliges, Wunderliches, lauter Konventikel-Luft, nicht zu vergessen einen gelegentlichen Hauch bukolischer Süßlichkeit, welcher der Epoche (und der römischen Provinz) angehört und nicht sowohl jüdisch als hellenistisch ist. Demut und Wichtigtuerei dicht nebeneinander; eine Geschwätzigkeit des Gefühls, die fast betäubt; Leidenschaftlichkeit, keine Leidenschaft; peinliches Gebärdenspiel; hier hat ersichtlich jede gute Erziehung gefehlt. Wie darf man von seinen kleinen Untugenden so viel Wesens machen, wie es diese frommen Männlein tun! Kein Hahn kräht danach; geschweige denn Gott. Zuletzt wollen sie gar noch »die Krone des ewigen Lebens« haben, alle diese kleinen Leute der Provinz; wozu doch? wofür doch? – man kann die Unbescheidenheit nicht weiter treiben. Ein »unsterblicher« Petrus: wer hielte den aus! sie haben einen Ehrgeiz, der lachen macht: das käut sein Persönlichstes, seine Dummheiten, Traurigkeiten und Eckensteher-Sorgen vor, als ob das An-sich der Dinge verpflichtet sei, sich darum zu kümmern; das wird nicht müde, Gott selber in den kleinsten Jammer hineinzuwickeln, in dem sie drinstecken. Und dieses beständige Auf-du-und-du mit Gott des schlechtesten Geschmacks! Diese jüdische, nicht bloß jüdische Zudringlichkeit gegen Gott mit Maul und Tatze!... Es gibt kleine verachtete »Heidenvölker« im Osten Asiens, von denen diese ersten Christen etwas Wesentliches hätten lernen können, etwas Takt der Ehrfurcht; jene erlauben sich nicht, wie christliche Missionare bezeugen, den Namen ihres Gottes überhaupt in den Mund zu nehmen. Dies dünkt mich delikat genug; gewiß ist, daß es nicht nur für »erste« Christen zu delikat ist: man erinnere sich doch etwa, um den Gegensatz zu spüren, an Luther, diesen »beredtesten« und unbescheidensten Bauer, den Deutschland gehabt hat, und an die Lutherische Tonart, die gerade ihm in seinen Zwiegesprächen mit Gott am besten gefiel. Luthers Widerstand gegen die Mittler-Heiligen der Kirche (insbesondere gegen »des Teuffels Saw den Bapst«) war, daran ist kein Zweifel, im letzten Grunde der Widerstand eines Rüpels, den die gute Etikette der Kirche verdroß, jene Ehrfurchts-Etikette des hieratischen Geschmacks, welche nur die Geweihteren und Schweigsameren in das Allerheiligste einläßt und es gegen die Rüpel zuschließt. Diese sollen ein für allemal gerade hier nicht das Wort haben – aber Luther, der Bauer, wollte es schlechterdings anders, so[885] war es ihm nicht deutsch genug: er wollte vor allem direkt reden, selber reden, »ungeniert« mit seinem Gotte reden... Nun, er hat's getan. – Das asketische Ideal, man errät es wohl, war niemals und nirgendswo eine Schule des guten Geschmacks, noch weniger der guten Manieren – es war im besten Fall eine Schule der hieratischen Manieren –: das macht, es hat selber etwas im Leibe, das allen guten Manieren todfeind ist – Mangel an Maß, Widerwillen gegen Maß, es ist selbst ein »non plus ultra«.


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Das asketische Ideal hat nicht nur die Gesundheit und den Geschmack verdorben, es hat noch etwas Drittes, Viertes, Fünftes, Sechstes verdorben – ich werde mich hüten, zu sagen was alles (wann käme ich zu Ende!). Nicht was dies Ideal gewirkt hat, soll hier von mir ans Licht gestellt werden; vielmehr ganz allein nur, was es bedeutet, worauf es raten läßt, was hinter ihm, unter ihm, in ihm versteckt liegt, wofür es der vorläufige, undeutliche, mit Fragezeichen und Mißverständnissen überladne Ausdruck ist. Und nur in Hinsicht auf diesen Zweck durfte ich meinen Lesern einen Blick auf das Ungeheure seiner Wirkungen, auch seiner verhängnisvollen Wirkungen nicht ersparen: um sie nämlich zum letzten und furchtbarsten Aspekt vorzubereiten, den die Frage nach der Bedeutung jenes Ideals für mich hat. Was bedeutet eben die Macht jenes Ideals, das Ungeheure seiner Macht? Weshalb ist ihm in diesem Maße Raum gegeben worden? weshalb nicht besser Widerstand geleistet worden? Das asketische Ideal drückt einen Willen aus: wo ist der gegnerische Wille, in dem sich ein gegnerisches Ideal ausdrückte? Das asketische Ideal hat ein Ziel – dasselbe ist allgemein genug, daß alle Interessen des menschlichen Daseins sonst, an ihm gemessen, kleinlich und eng erscheinen; es legt sich Zeiten, Völker, Menschen unerbittlich auf dieses eine Ziel hin aus, es läßt keine andre Auslegung, kein andres Ziel gelten, es verwirft, verneint, bejaht, bestätigt allein im Sinne seiner Interpretation (– und gab es je ein zu Ende gedachteres System von Interpretation?); es unterwirft sich keiner Macht, es glaubt vielmehr an sein Vorrecht vor jeder Macht, an seine unbedingte Rang-Distanz in Hinsicht auf jede Macht – es glaubt daran, daß nichts auf Erden von Macht da ist, das nicht von ihm aus erst[886] einen Sinn, ein Daseins-Recht, einen Wert zu empfangen habe, als Werkzeug zu seinem Werke, als Weg und Mittel zu seinem Ziele, zu einem Ziele... Wo ist das Gegenstück zu diesem geschlossenen System von Wille, Ziel und Interpretation? Warum fehlt das Gegenstück?... Wo ist das andre »eine Ziel«?... Aber man sagt mir, es fehle nicht, es habe nicht nur einen langen glücklichen Kampf mit jenem Ideale gekämpft, es sei vielmehr in allen Hauptsachen bereits über jenes Ideal Herr geworden: unsre ganze moderne Wissenschaft sei das Zeugnis dafür – diese moderne Wissenschaft, welche, als eine eigentliche Wirklichkeits-Philosophie, ersichtlich allein an sich selber glaube, ersichtlich den Mut zu sich, den Willen zu sich besitze und gut genug bisher ohne Gott, Jenseits und verneinende Tugenden ausgekommen sei. Indessen mit solchem Lärm und Agitatoren- Geschwätz richtet man nichts bei mir aus: diese Wirklichkeits-Trompeter sind schlechte Musikanten, ihre Stimmen kommen hörbar genug nicht aus der Tiefe, aus ihnen redet nicht der Abgrund des wissenschaftlichen Gewissens – denn heute ist das wissenschaftliche Gewissen ein Abgrund –, das Wort »Wissenschaft« ist in solchen Trompeter-Mäulern einfach eine Unzucht, ein Mißbrauch, eine Schamlosigkeit. Gerade das Gegenteil von dem, was hier behauptet wird, ist die Wahrheit: die Wissenschaft hat heute schlechterdings keinen Glauben an sich, geschweige ein Ideal über sich – und wo sie überhaupt noch Leidenschaft, Liebe, Glut, Leiden ist, da ist sie nicht der Gegensatz jenes asketischen Ideals, vielmehr dessen jüngste und vornehmste Form selber. Klingt euch das fremd?... Es gibt ja genug braves und bescheidnes Arbeiter-Volk auch unter den Gelehrten von heute, dem sein kleiner Winkel gefällt, und das darum, weil es ihm darin gefällt, bisweilen ein wenig unbescheiden mit der Forderung laut wird, man solle überhaupt heute zufrieden sein, zumal in der Wissenschaft – es gäbe da gerade so viel Nützliches zu tun. Ich widerspreche nicht; am wenigsten möchte ich diesen ehrlichen Arbeitern ihre Lust am Handwerk verderben: denn ich freue mich ihrer Arbeit. Aber damit, daß jetzt in der Wissenschaft streng gearbeitet wird und daß es zufriedne Arbeiter gibt, ist schlechterdings nicht bewiesen, daß die Wissenschaft als ganzes heute ein Ziel, einen Willen, ein Ideal, eine Leidenschaft des großen Glaubens habe. Das Gegenteil, wie gesagt, ist der Fall: wo sie nicht die jüngste Erscheinungsform[887] des asketischen Ideals ist – es handelt sich da um zu seltne, vornehme, ausgesuchte Fälle, als daß damit das Gesamturteil umgebogen werden könnte –, ist die Wissenschaft heute ein Versteck für alle Art Mißmut, Unglauben, Nagewurm, despectio sui, schlechtes Gewissen – sie ist die Unruhe der Ideallosigkeit selbst, das Leiden am Mangel der großen Liebe, das Ungenügen an einer unfreiwilligen Genügsamkeit. O was verbirgt heute nicht alles Wissenschaft! wieviel soll sie mindestens verbergen! Die Tüchtigkeit unsrer besten Gelehrten, ihr besinnungsloser Fleiß, ihr Tag und Nacht rauchender Kopf, ihre Handwerks-Meisterschaft selbst – wie oft hat das alles seinen eigentlichen Sinn darin, sich selbst irgend etwas nicht mehr sichtbar werden zu lassen! Die Wissenschaft als Mittel der Selbst-Betäubung: kennt ihr das?... Man verwundet sie – jeder erfährt es, der mit Gelehrten umgeht – mitunter durch ein harmloses Wort bis auf den Knochen, man erbittert seine gelehrten Freunde gegen sich, im Augenblick, wo man sie zu ehren meint, man bringt sie außer Rand und Band, bloß weil man zu grob war, um zu erraten, mit wem man es eigentlich zu tun hat, mit Leidenden, die es sich selbst nicht eingestehn wollen, was sie sind, mit Betäubten und Besinnungslosen, die nur eins fürchten: zum Bewußtsein zu kommen...


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– Und nun sehe man sich dagegen jene seltneren Fälle an, von denen ich sprach, die letzten Idealisten, die es heute unter Philosophen und Gelehrten gibt: hat man in ihnen vielleicht die gesuchten Gegner des asketischen Ideals, dessen Gegen-Idealisten? In der Tat, sie glauben sich als solche, diese »Ungläubigen« (denn das sind sie allesamt); es scheint gerade das ihr letztes Stück Glaube, Gegner dieses Ideals zu sein, so ernsthaft sind sie an dieser Stelle, so leidenschaftlich wird da gerade ihr Wort, ihre Gebärde – brauchte es deshalb schon wahr zu sein, was sie glauben?... Wir »Erkennenden« sind nachgerade mißtrauisch gegen alle Art Gläubige unser Mißtrauen hat uns allmählich darauf eingeübt, umgekehrt zu schließen, als man ehedem schloß: nämlich überall, wo die Stärke eines Glaubens sehr in den Vordergrund tritt, auf eine gewisse Schwäche der Beweisbarkeit, auf Unwahrscheinlichkeit selbst des Geglaubten zu schließen. Auch wir leugnen nicht, daß der Glaube[888] »selig macht«: eben deshalb leugnen wir, daß der Glaube etwas beweist – ein starker Glaube, der selig macht, ist ein Verdacht gegen das, woran er glaubt, er begründet nicht »Wahrheit«, er begründet eine gewisse Wahrscheinlichkeit – der Täuschung. Wie steht es nun in diesem Falle? – Diese Verneinenden und Abseitigen von heute, diese Unbedingten in einem, im Anspruch auf intellektuelle Sauberkeit, diese harten, strengen, enthaltsamen, heroischen Geister, welche die Ehre unsrer Zeit ausmachen, alle diese blassen Atheisten, Antichristen, Immoralisten, Nihilisten, diese Skeptiker, Ephektiker, Hektiker des Geistes (letzteres sind sie samt und sonders in irgendeinem Sinne), diese letzten Idealisten der Erkenntnis, in denen allein heute das intellektuelle Gewissen wohnt und leibhaft ward – sie glauben sich in der Tat so losgelöst als möglich vom asketischen Ideale, diese »freien, sehr freien Geister«: und doch, daß ich ihnen verrate, was sie selbst nicht sehen können – denn sie stehen sich zu nahe –: dies Ideal ist gerade auch ihr Ideal, sie selbst stellen es heute dar und niemand sonst vielleicht, sie selbst sind seine vergeistigtste Ausgeburt, seine vorgeschobenste Krieger- und Kundschafter-Schar, seine verfänglichste, zarteste, unfaßlichste Verführungsform – wenn ich irgendworin Rätselrater bin, so will ich es mit diesem Satze sein!... Das sind noch lange keine freien Geister: denn sie glauben noch an die Wahrheit... Als die christlichen Kreuzfahrer im Orient auf jenen unbesiegbaren Assassinen-Orden stießen, jenen Freigeister-Orden par excellence, dessen unterste Grade in einem Gehorsame lebten, wie einen gleichen kein Mönchsorden erreicht hat, da bekamen sie auf irgendwelchem Wege auch einen Wink über jenes Symbol und Kerbholz-Wort, das nur den obersten Graden, als deren secretum, vorbehalten war: »Nichts ist wahr, alles ist erlaubt«... Wohlan, das war Freiheit des Geistes, damit war der Wahrheit selbst der Glaube gekündigt... Hat wohl je schon ein europäischer, ein christlicher Freigeist sich in diesen Satz und seine labyrinthischen Folgerungen verirrt? kennt er den Minotauros dieser Höhle aus Erfahrung?... Ich zweifle daran, mehr noch, ich weiß es anders – nichts ist diesen Unbedingten in einem, diesen sogenannten »freien Geistern« gerade fremder als Freiheit und Entfesselung in jenem Sinne, in keiner Hinsicht sind sie gerade fester gebunden, im Glauben gerade an die Wahrheit sind sie, wie niemand anderes sonst, fest und unbedingt. Ich kenne dies alles vielleicht[889] zu sehr aus der Nähe: jene verehrenswürdige Philosophen-Enthaltsamkeit, zu der ein solcher Glaube verpflichtet, jener Stoizismus des Intellekts, der sich das Nein zuletzt ebenso streng verbietet wie das Ja, jenes Stehen-bleiben-Wollen vor dem Tatsächlichen, dem factum brutum, jener Fatalismus der »petits faits« (ce petit faitalisme, wie ich ihn nenne), worin die französische Wissenschaft jetzt eine Art moralischen Vorrangs vor der deutschen sucht, jenes Verzichtleisten auf Interpretation überhaupt (auf das Vergewaltigen, Zurechtschieben, Abkürzen, Weglassen, Ausstopfen, Ausdichten, Umfälschen und was sonst zum Wesen alles Interpretierens gehört) – das drückt, ins große gerechnet, ebensogut Asketismus der Tugend aus, wie irgendeine Verneinung der Sinnlichkeit (es ist im Grunde nur ein Modus dieser Verneinung). Was aber zu ihm zwingt, jener unbedingte Wille zur Wahrheit, das ist der Glaube an das asketische Ideal selbst, wenn auch als sein unbewußter Imperativ, man täusche sich hierüber nicht – das ist der Glaube an einen metaphysischen Wert, einen Wert an sich der Wahrheit, wie er allein in jenem Ideal verbürgt und verbrieft ist (er steht und fällt mit jenem Ideal). Es gibt, streng geurteilt, gar keine »voraussetzungslose« Wissenschaft, der Gedanke einer solchen ist unausdenkbar, paralogisch: eine Philosophie, ein »Glaube« muß immer erst da sein, damit aus ihm die Wissenschaft eine Richtung, einen Sinn, eine Grenze, eine Methode, ein Recht auf Dasein gewinnt. (Wer es umgekehrt versteht, wer zum Beispiel sich anschickt, die Philosophie »auf streng wissenschaftliche Grundlage« zu stellen, der hat dazu erst nötig, nicht nur die Philosophie, sondern auch die Wahrheit selber auf den Kopf zu stellen: die ärgste Anstands-Verletzung, die es in Hinsicht auf zwei so ehrwürdige Frauenzimmer geben kann!) Ja, es ist kein Zweifel – und hiermit lasse ich meine »fröhliche Wissenschaft« zu Worte kommen, vgl. deren fünftes Buch: (II 208) – »der Wahrhaftige, in jenem verwegenen und letzten Sinne, wie ihn der Glaube an die Wissenschaft voraussetzt, bejaht damit eine andre Welt als die des Lebens, der Natur und der Geschichte; und insofern er diese ›andre Welt‹ bejaht, wie? muß er nicht eben damit ihr Gegenstück, diese Welt, unsre Welt – verneinen?... Es ist immer noch ein metaphysischer Glaube, auf dem unser Glaube an die Wissenschaft ruht – auch wir Erkennenden von heute, wir Gottlosen und Antimetaphysiker, auch wir nehmen unser Feuer noch von jenem[890] Brande, den ein jahrtausendealter Glaube entzündet hat, jener Christen-Glaube, der auch der Glaube Platos war, daß Gott die Wahrheit ist, daß die Wahrheit göttlich ist... Aber wie, wenn dies gerade immer mehr unglaubwürdig wird, wenn nichts sich mehr als göttlich erweist, es sei denn der Irrtum, die Blindheit, die Lüge – wenn Gott selbst sich als unsre längste Lüge erweist?« – – An dieser Stelle tut es not, haltzumachen und sich lange zu besinnen. Die Wissenschaft selber bedarf nunmehr einer Rechtfertigung (womit noch nicht einmal gesagt sein soll, daß es eine solche für sie gibt). Man sehe sich auf diese Frage die ältesten und die jüngsten Philosophien an: in ihnen allen fehlt ein Bewußtsein darüber, inwiefern der Wille zur Wahrheit selbst erst einer Rechtfertigung bedarf, hier ist eine Lücke in jeder Philosophie – woher kommt das? Weil das asketische Ideal über alle Philosophie bisher Herr war, weil Wahrheit als Sein, als Gott, als oberste Instanz selbst gesetzt wurde, weil Wahrheit gar nicht Problem sein durfte. Versteht man dies »durfte«? – Von dem Augenblick an, wo der Glaube an den Gott des asketischen Ideals verneint ist, gibt es auch ein neues Problem: das vom Werte der Wahrheit. – Der Wille zur Wahrheit bedarf einer Kritik – bestimmen wir hiermit unsre eigene Aufgabe –, der Wert der Wahrheit ist versuchsweise einmal in Frage zu stellen... (Wem dies zu kurz gesagt scheint, dem sei empfohlen, jenen Abschnitt der »fröhlichen Wissenschaft« nachzulesen, welcher den Titel trägt: »Inwiefern auch wir noch fromm sind«: (II 206 ff.), am besten das ganze fünfte Buch des genannten Werks, insgleichen die Vorrede zur »Morgenröte«.)


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Nein! Man komme mir nicht mit der Wissenschaft, wenn ich nach dem natürlichen Antagonisten des asketischen Ideals suche, wenn ich frage: »wo ist der gegnerische Wille, in dem sich sein gegnerisches Ideal ausdrückt?« Dazu steht die Wissenschaft lange nicht genug auf sich selber, sie bedarf in jedem Betrachte erst eines Wert-Ideals, einer werteschaffenden Macht, in deren Dienste sie an sich selber glauben darf – sie selbst ist niemals werteschaffend. Ihr Verhältnis zum asketischen Ideal ist an sich durchaus noch nicht antagonistisch; sie stellt in der Hauptsache sogar eher noch die vorwärtstreibende Kraft in dessen[891] innerer Ausgestaltung dar. Ihr Widerspruch und Kampf bezieht sich, feiner geprüft, gar nicht auf das Ideal selbst, sondern nur auf dessen Außenwerke, Einkleidung, Maskenspiel, auf dessen zeitweilige Verhärtung, Verholzung, Verdogmatisierung – sie macht das Leben in ihm wieder frei, indem sie das Exoterische an ihm verneint. Diese beiden, Wissenschaft und asketisches Ideal, sie stehen ja auf einem Boden – ich gab dies schon zu verstehen –: nämlich auf der gleichen Überschätzung der Wahrheit (richtiger: auf dem gleichen Glauben an die Unabschätzbarkeit, Unkritisierbarkeit der Wahrheit), eben damit sind sie sich notwendig Bundesgenossen – so daß sie, gesetzt, daß sie bekämpft werden, auch immer nur gemeinsam bekämpft und in Frage gestellt werden können. Eine Wertabschätzung des asketischen Ideals zieht unvermeidlich auch eine Wertabschätzung der Wissenschaft nach sich: dafür mache man sich bei Zeiten die Augen hell, die Ohren spitz! (Die Kunst, vorweg gesagt, denn ich komme irgendwann des längeren darauf zurück – die Kunst, in der gerade die Lüge sich heiligt, der Wille zur Täuschung das gute Gewissen zur Seite hat, ist dem asketischen Ideale viel grundsätzlicher entgegengestellt als die Wissenschaft: so empfand es der Instinkt Platos, dieses größten Kunstfeindes, den Europa bisher hervorgebracht hat. Plato gegen Homer: das ist der ganze, der echte Antagonismus – dort der »Jenseitige« besten Willens, der große Verleumder des Lebens, hier dessen unfreiwilliger Vergöttlicher, die goldene Natur. Eine Künstler-Dienstbarkeit im Dienste des asketischen Ideals ist deshalb die eigentlichste Künstler-Korruption, die es geben kann, leider eine der allergewöhnlichsten: denn nichts ist korruptibler als ein Künstler.) Auch physiologisch nachgerechnet, ruht die Wissenschaft auf dem gleichen Boden wie das asketische Ideal: eine gewisse Verarmung des Lebens ist hier wie dort die Voraussetzung, – die Affekte kühl geworden, das Tempo verlangsamt, die Dialektik an Stelle des Instinktes, der Ernst den Gesichtern und Gebärden aufgedrückt (der Ernst, dieses unmißverständlichste Abzeichen des mühsameren Stoffwechsels, des ringenden, schwerer arbeitenden Lebens). Man sehe sich die Zeiten eines Volkes an, in denen der Gelehrte in den Vordergrund tritt: es sind Zeiten der Ermüdung, oft des Abends, des Niederganges – die überströmende Kraft, die Lebens-Gewißheit, die Zukunfts–Gewißheit sind dahin. Das Übergewicht des Mandarinen[892] bedeutet niemals etwas Gutes: so wenig als die Heraufkunft der Demokratie, der Friedens-Schiedsgerichte an Stelle der Kriege, der Frauen-Gleichberechtigung, der Religion des Mitleids und was es sonst alles für Symptome des absinkenden Lebens gibt. (Wissenschaft als Problem gefaßt; was bedeutet Wissenschaft? – vgl. darüber die Vorrede zur »Geburt der Tragödie«.) – Nein! diese »moderne Wissenschaft« – macht euch nur dafür die Augen auf! – ist einstweilen die beste Bundesgenossin des asketischen Ideals, und gerade deshalb, weil sie die unbewußteste, die unfreiwilligste, die heimlichste und unterirdischste ist! Sie haben bis jetzt ein Spiel gespielt, die »Armen des Geistes« und die wissenschaftlichen Widersacher jenes Ideals (man hüte sich, anbei gesagt, zu denken, daß sie deren Gegensatz seien, etwa als die Reichen des Geistes – das sind sie nicht, ich nannte sie Hektiker des Geistes). Diese berühmten Siege der letzteren: unzweifelhaft, es sind Siege – aber worüber? Das asketische Ideal wurde ganz und gar nicht in ihnen besiegt, es wurde eher damit stärker, nämlich unfaßlicher, geistiger, verfänglicher gemacht, daß immer wieder eine Mauer, ein Außenwerk, das sich an dasselbe angebaut hatte und seinen Aspekt vergröberte, seitens der Wissenschaft schonungslos abgelöst, abgebrochen worden ist. Meint man in der Tat, daß etwa die Niederlage der theologischen Astronomie eine Niederlage jenes Ideals bedeute?.. Ist damit vielleicht der Mensch weniger bedürftig nach einer Jenseitigkeits-Lösung seines Rätsels von Dasein geworden, daß dieses Dasein sich seitdem noch beliebiger, eckensteherischer, entbehrlicher in der sichtbaren Ordnung der Dinge ausnimmt? Ist nicht gerade die Selbstverkleinerung des Menschen, sein Wille zur Selbstverkleinerung seit Kopernikus in einem unaufhaltsamen Fortschritte? Ach, der Glaube an seine Würde, Einzigkeit, Unersetzlichkeit in der Rangabfolge der Wesen ist dahin – er ist Tier geworden, Tier, ohne Gleichnis, Abzug und Vorbehalt, er, der in seinem früheren Glauben beinahe Gott (»Kind Gottes«, »Gottmensch«) war... Seit Kopernikus scheint der Mensch auf eine schiefe Ebene geraten – er rollt immer schneller nunmehr aus dem Mittelpunkte weg – wohin? ins Nichts? ins »durchbohrende Gefühl seines Nichts«?... Wohlan! dies eben wäre der gerade Weg – ins alte Ideal?... Alle Wissenschaft (und keineswegs nur die Astronomie, über deren demütigende und herunterbringende Wirkung Kant ein bemerkenswertes[893] Geständnis gemacht hat, »sie vernichtet meine Wichtigkeit«..), alle Wissenschaft, die natürliche sowohl, wie die unnatürliche – so heiße ich die Erkenntnis-Selbstkritik –, ist heute darauf aus, dem Menschen seine bisherige Achtung vor sich auszureden, wie als ob dieselbe nichts als ein bizarrer Eigendünkel gewesen sei; man könnte sogar sagen, sie habe ihren eigenen Stolz, ihre eigene herbe Form von stoischer Ataraxie darin, diese mühsam errungene Selbstverachtung des Menschen als dessen letzten, ernstesten Anspruch auf Achtung bei sich selbst aufrechtzuerhalten (mit Recht, in der Tat: denn der Verachtende ist immer noch einer, der »das Achten nicht verlernt hat«...). Wird damit dem asketischen Ideale eigentlich entgegengearbeitet? Meint man wirklich allen Ernstes noch (wie es die Theologen eine Zeitlang sich einbildeten), daß etwa Kants Sieg über die theologische Begriffs-Dogmatik (»Gott«, »Seele«, »Freiheit«, »Unsterblichkeit«) jenem Ideale Abbruch getan habe? – wobei es uns einstweilen nichts angehn soll, ob Kant selber etwas Derartiges überhaupt auch nur in Absicht gehabt hat. Gewiß ist, daß alle Art Transzendentalisten seit Kant wieder gewonnenes Spiel haben – sie sind von den Theologen emanzipiert: welches Glück! – er hat ihnen jenen Schleichweg verraten, auf dem sie nunmehr auf eigne Faust und mit dem besten wissenschaftlichen Anstande den »Wünschen ihres Herzens« nachgehn dürfen. Insgleichen: wer dürfte es nunmehr den Agnostikern verargen, wenn sie, als die Verehrer des Unbekannten und Geheimnisvollen an sich, das Fragezeichen selbst jetzt als Gott anbeten? (Xaver Doudan spricht einmal von den ravages, welche »l'habitude d'admirer l'inintelligible au lieu de rester tout simplement dans l'inconnu« angerichtet habe; er meint, die Alten hätten dessen entraten.) Gesetzt, daß alles, was der Mensch »erkennt«, seinen Wünschen nicht genugtut, ihnen vielmehr widerspricht und Schauder macht, welche göttliche Ausflucht, die Schuld davon nicht im »Wünschen«, sondern im »Erkennen« suchen zu dürfen!... »Es gibt kein Erkennen: folglich – gibt es einen Gott«: welche neue elegantia syllogismi! welcher Triumph des asketischen Ideals! –


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– Oder zeigte vielleicht die gesamte moderne Geschichtsschreibung eine lebensgewissere, idealgewissere Haltung? Ihr vornehmster Anspruch[894] geht jetzt dahin, Spiegel zu sein; sie lehnt alle Teleologie ab; sie will nichts mehr »beweisen«; sie verschmäht es, den Richter zu spielen, und hat darin ihren guten Geschmack – sie bejaht so wenig, als sie verneint, sie stellt fest, sie »beschreibt«... Dies alles ist in einem hohen Grade asketisch; es ist aber zugleich in einem noch höheren Grade nihilistisch, darüber täusche man sich nicht! Man sieht einen traurigen, harten, aber entschlossenen Blick – ein Auge, das hinausschaut, wie ein vereinsamter Nordpolfahrer hinausschaut (vielleicht um nicht hineinzuschauen? um nicht zurückzuschauen?...). Hier ist Schnee, hier ist das Leben verstummt; die letzten Krähen, die hier laut werden, heißen »Wozu?«, »Umsonst!«, »Nada!« – hier gedeiht und wächst nichts mehr, höchstens Petersburger Metapolitik und Tolstoisches »Mitleid«. Was aber jene andre Art von Historikern betrifft, eine vielleicht noch »modernere« Art, eine genüßliche, wollüstige, mit dem Leben ebensosehr als mit dem asketischen Ideal liebäugelnde Art, welche das Wort »Artist« als Handschuh gebraucht und heute das Lob der Kontemplation ganz und gar für sich in Pacht genommen hat: o welchen Durst erregen diese süßen Geistreichen selbst noch nach Asketen und Winterlandschaften! Nein! dies »beschauliche« Volk mag sich der Teufel holen! Um wieviel lieber will ich noch mit jenen historischen Nihilisten durch die düstersten grauen kalten Nebel wandern! – ja es soll mir nicht darauf ankommen, gesetzt daß ich wählen muß, selbst einem ganz eigentlich Unhistorischen, Widerhistorischen Gehör zu schenken (wie jenem Dühring, an dessen Tönen sich im heutigen Deutschland eine bisher noch schüchterne, noch uneingeständliche Spezies »schöner Seelen« berauscht, die species anarchistica innerhalb des gebildeten Proletariats). Hundertmal schlimmer sind die »Beschaulichen« –: ich wüßte nichts, was so sehr Ekel machte, als solch ein »objektiver« Lehnstuhl, solch ein duftender Genüßling vor der Historie, halb Pfaff, halb Satyr, Parfum Renan, der schon mit dem hohen Falsett seines Beifalls verrät, was ihm abgeht, wo es ihm abgeht, wo in diesem Falle die Parze ihre grausame Schere ach! allzu chirurgisch gehandhabt hat! Das geht mir wider den Geschmack, auch wider die Geduld: behalte bei solchen Aspekten seine Geduld, wer nichts an ihr zu verlieren hat – mich ergrimmt solch ein Aspekt, solche »Zuschauer« erbittern mich gegen das »Schauspiel«, mehr noch als das Schauspiel[895] (die Historie selbst, man versteht mich), unversehens kommen mir dabei anakreontische Launen. Diese Natur, die dem Stier das Horn, dem Löwen das chasm odoniôn gab, wozu gab mir die Natur den Fuß?... Zum Treten, beim heiligen Anakreon! und nicht nur zum Davonlaufen; zum Zusammentreten der morschen Lehnstühle, der feigen Beschaulichkeit, des lüsternen Eunuchentums vor der Historie, der Liebäugelei mit asketischen Idealen, der Gerechtigkeits-Tartüfferie der Impotenz! Alle meine Ehrfurcht dem asketischen Ideale, sofern es ehrlich ist! solange es an sich selber glaubt und uns keine Possen vormacht! Aber ich mag alle diese koketten Wanzen nicht, deren Ehrgeiz unersättlich darin ist, nach dem Unendlichen zu riechen, bis zuletzt das Unendliche nach Wanzen riecht; ich mag die übertünchten Gräber nicht, die das Leben schauspielern; ich mag die Müden und Vernutzten nicht, welche sich in Weisheit einwickeln und »objektiv« blicken; ich mag die zu Helden aufgeputzten Agitatoren nicht, die eine Tarnkappe von Ideal um ihren Strohwisch von Kopf tragen; ich mag die ehrgeizigen Künstler nicht, die den Asketen und Priester bedeuten möchten und im Grunde nur tragische Hanswürste sind; ich mag auch sie nicht, diese neuesten Spekulanten in Idealismus, die Antisemiten, welche heute ihre Augen christlich-arisch-biedermännisch verdrehn und durch einen jede Geduld erschöpfenden Mißbrauch des wohlfeilsten Agitationsmittels, der moralischen Attitüde, alle Hornvieh-Elemente des Volkes aufzuregen suchen (– daß jede Art Schwindel-Geisterei im heutigen Deutschland nicht ohne Erfolg bleibt, hängt mit der nachgerade unableugbaren und bereits handgreiflichen Verödung des deutschen Geistes zusammen, deren Ursache ich in einer allzu ausschließlichen Ernährung mit Zeitungen, Politik, Bier und Wagnerscher Musik suche, hinzugerechnet, was die Voraussetzung für diese Diät abgibt: einmal die nationale Einklemmung und Eitelkeit, das starke, aber enge Prinzip »Deutschland, Deutschland über alles«, sodann aber die paralysis agitans der »modernen Ideen«). Europa ist heute reich und erfinderisch vor allem in Erregungsmitteln, es scheint nichts nötiger zu haben als Stimulantia und gebrannte Wasser: daher auch die ungeheure Fälscherei in Idealen, diesen gebranntesten Wassern des Geistes, daher auch die widrige, übelriechende, verlogne, pseudo-alkoholische Luft überall. Ich möchte wissen, wieviel Schiffsladungen[896] von nachgemachtem Idealismus, von Helden-Kostümen und Klapperblech großer Worte, wieviel Tonnen verzuckerten spirituosen Mitgefühls (Firma: la religion de la souffrance), wieviel Stelzbeine »edler Entrüstung« zur Nachhilfe geistig Plattfüßiger, wieviel Komödianten des christlich-moralischen Ideals heute aus Europa exportiert werden müßten, damit seine Luft wieder reinlicher röche... Ersichtlich steht in Hinsicht auf diese Überproduktion eine neue Handels–Möglichkeit offen, ersichtlich ist mit kleinen Ideal-Götzen und zugehörigen »Idealisten« ein neues »Geschäft« zu machen – man überhöre diesen Zaunpfahl nicht! Wer hat Mut genug dazu? – wir haben es in der Hand, die ganze Erde zu »idealisieren«!.. Aber was rede ich von Mut: hier tut eins nur not, eben die Hand, eine unbefangne, eine sehr unbefangne Hand...


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– Genug! Genug! Lassen wir diese Kuriositäten und Komplexitäten des modernsten Geistes, an denen ebensoviel zum Lachen als zum Verdrießen ist: gerade unser Problem kann deren entraten, das Problem von der Bedeutung des asketischen Ideals – was hat dasselbe mit gestern und heute zu tun! Jene Dinge sollen von mir in einem andren Zusammenhange gründlicher und härter angefaßt werden (unter dem Titel »Zur Geschichte des europäischen Nihilismus«; ich verweise dafür auf ein Werk, das ich vorbereite: Der Wille zur Macht. Versuch einer Umwertung aller Werte). Worauf es mir allein ankommt, hier hingewiesen zu haben, ist dies: das asketische Ideal hat auch in der geistigsten Sphäre einstweilen immer nur noch eine Art von wirklichen Feinden und Schädigern: das sind die Komödianten dieses Ideals – denn sie wecken Mißtrauen. Überall sonst, wo der Geist heute streng, mächtig und ohne Falschmünzerei am Werke ist, entbehrt er jetzt überhaupt des Ideals – der populäre Ausdruck für diese Abstinenz ist »Atheismus« –: abgerechnet seines Willens zur Wahrheit. Dieser Wille aber, dieser Rest von Ideal, ist, wenn man mir glauben will, jenes Ideal selbst in seiner strengsten, geistigsten Formulierung, esoterisch ganz und gar, alles Außenwerks entkleidet, somit nicht sowohl sein Rest, als sein Kern. Der unbedingte redliche Atheismus (– und seine Luft allein atmen wir, wir geistigeren Menschen dieses Zeitalters!) steht[897] demgemäß nicht im Gegensatz zu jenem Ideale, wie es den Anschein hat; er ist vielmehr nur eine seiner letzten Entwicklungsphasen, eine seiner Schlußformen und inneren Folgerichtigkeiten – er ist die Ehrfurcht gebietende Katastrophe einer zweitausendjährigen Zucht zur Wahrheit, welche am Schlusse sich die Lüge im Glauben an Gott verbietet. (Derselbe Entwicklungsgang in Indien, in vollkommner Unabhängigkeit und deshalb etwas beweisend; dasselbe Ideal zum gleichen Schlusse zwingend; der entscheidende Punkt fünf Jahrhunderte vor der europäischen Zeitrechnung erreicht, mit Buddha, genauer: schon mit der Sankhyam-Philosophie, diese dann durch Buddha popularisiert und zur Religion gemacht.) Was, in aller Strenge gefragt, hat eigentlich über den christlichen Gott gesiegt? Die Antwort steht in meiner »fröhlichen Wissenschaft« (II 227 f.): »Die christliche Moralität selbst, der immer strenger genommene Begriff der Wahrhaftigkeit, die Beichtväter-Feinheit des christlichen Gewissens, übersetzt und sublimiert zum wissenschaftlichen Gewissen, zur intellektuellen Sauberkeit um jeden Preis. Die Natur ansehn, als ob sie ein Beweis für die Güte und Obhut eines Gottes sei; die Geschichte interpretieren zu Ehren einer göttlichen Vernunft, als beständiges Zeugnis einer sittlichen Weltordnung und sittlicher Schlußabsichten; die eignen Erlebnisse auslegen, wie sie fromme Menschen lange genug ausgelegt haben, wie als ob alles Fügung, alles Wink, alles dem Heil der Seele zu Liebe ausgedacht und geschickt sei: das ist nunmehr vorbei, das hat das Gewissen gegen sich, das gilt allen feineren Gewissen als unanständig, unehrlich, als Lügnerei, Feminismus, Schwachheit, Feigheit – mit dieser Strenge, wenn irgendwomit, sind wir eben gute Europäer und Erben von Europas längster und tapferster Selbstüberwindung.«... Alle großen Dinge gehen durch sich selbst zugrunde, durch einen Akt der Selbstaufhebung: so will es das Gesetz des Lebens, das Gesetz der notwendigen »Selbstüberwindung« im Wesen des Lebens – immer ergeht zuletzt an den Gesetzgeber selbst der Ruf: »patere legem, quam ipse tulisti.« Dergestalt ging das Christentum als Dogma zugrunde, an seiner eignen Moral; dergestalt muß nun auch das Christentum als Moral noch zugrunde gehn – wir stehen an der Schwelle dieses Ereignisses. Nachdem die christliche Wahrhaftigkeit einen Schluß nach dem andern gezogen hat, zieht sie am Ende ihren stärksten Schluß, ihren Schluß [898] gegen sich selbst; dies aber geschieht, wenn sie die Frage stellt »was bedeutet aller Wille zur Wahrheit?« ... Und hier rühre ich wieder an mein Problem, an unser Problem, meine unbekannten Freunde (– denn noch weiß ich von keinem Freunde): welchen Sinn hätte unser ganzes Sein, wenn nicht den, daß in uns jener Wille zur Wahrheit sich selbst als Problem zum Bewußtsein gekommen wäre?.. An diesem Sich-bewußt-werden des Willens zur Wahrheit geht von nun an – daran ist kein Zweifel – die Moral zugrunde: jenes große Schauspiel in hundert Akten, das den nächsten zwei Jahrhunderten Europas aufgespart bleibt, das furchtbarste, fragwürdigste und vielleicht auch hoffnungsreichste aller Schauspiele...


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Sieht man vom asketischen Ideale ab: so hatte der Mensch, das Tier Mensch bisher keinen Sinn. Sein Dasein auf Erden enthielt kein Ziel; »wozu Mensch überhaupt?« – war eine Frage ohne Antwort; der Wille für Mensch und Erde fehlte; hinter jedem großen Menschen-Schicksale klang als Refrain ein noch größeres »Umsonst!« Das eben bedeutet das asketische Ideal: daß etwas fehlte, daß eine ungeheure Lücke den Menschen umstand – er wußte sich selbst nicht zu rechtfertigen, zu erklären, zu bejahen, er litt am Probleme seines Sinns. Er litt auch sonst, er war in der Hauptsache ein krankhaftes Tier: aber nicht das Leiden selbst war sein Problem, sondern daß die Antwort fehlte für den Schrei der Frage »wozu leiden?« Der Mensch, das tapferste und leidgewohnteste Tier, verneint an sich nicht das Leiden; er will es, er sucht es selbst auf, vorausgesetzt, daß man ihm einen Sinn dafür aufzeigt, ein Dazu des Leidens. Die Sinnlosigkeit des Leidens, nicht das Leiden, war der Fluch, der bisher über der Menschheit ausgebreitet lag – und das asketische Ideal bot ihr einen Sinn! Es war bisher der einzige Sinn; irgendein Sinn ist besser als gar kein Sinn; das asketische Ideal war in jedem Betracht das »faute de mieux« par excellence, das es bisher gab. In ihm war das Leiden ausgelegt; die ungeheure Leere schien ausgefüllt; die Tür schloß sich vor allem selbstmörderischen Nihilismus zu. Die Auslegung – es ist kein Zweifel – brachte neues Leiden mit sich, tieferes, innerlicheres, giftigeres, am Leben nagenderes: sie brachte alles Leiden unter die Perspektive der Schuld... Aber trotz alledem – der[899] Mensch war damit gerettet, er hatte einen Sinn, er war fürderhin nicht mehr wie ein Blatt im Winde, ein Spielball des Unsinns, des »Ohne-Sinns«, er konnte nunmehr etwas wollen – gleichgültig zunächst, wohin, wozu, womit er wollte: der Wille selbst war gerettet. Man kann sich schlechterdings nicht verbergen, was eigentlich jenes ganze Wollen ausdrückt, das vom asketischen Ideale her seine Richtung bekommen hat: dieser Haß gegen das Menschliche, mehr noch gegen das Tierische, mehr noch gegen das Stoffliche, dieser Abscheu vor den Sinnen, vor der Vernunft selbst, die Furcht vor dem Glück und der Schönheit, dieses Verlangen hinweg aus allem Schein, Wechsel, Werden, Tod, Wunsch, Verlangen selbst – das alles bedeutet, wagen wir es, dies zu begreifen, einen Willen zum Nichts, einen Widerwillen gegen das Leben, eine Auflehnung gegen die grundsätzlichsten Voraussetzungen des Lebens, aber es ist und bleibt ein Wille!.. Und, um es noch zum Schluß zu sagen, was ich anfangs sagte: lieber will noch der Mensch das Nichts wollen, als nicht wollen...[900]

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 2.
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