11

[785] Gerade umgekehrt also wie bei dem Vornehmen, der den Grundbegriff »gut« voraus und spontan, nämlich von sich aus konzipiert und von da aus erst eine Vorstellung von »schlecht« sich schafft! Dies »schlecht« vornehmen Ursprungs und jenes »böse« aus dem Braukessel des ungesättigten Hasses – das erste eine Nachschöpfung, ein Nebenher, eine Komplementärfarbe, das zweite dagegen das Original, der Anfang, die eigentliche Tat in der Konzeption einer Sklaven-Moral – wie verschieden stehn die beiden scheinbar demselben Begriff »gut« entgegengestellten Worte »schlecht« und »böse« da! Aber es ist nicht derselbe Begriff »gut«: vielmehr frage man sich doch, wer eigentlich »böse« ist, im Sinne der Moral des Ressentiment. In aller Strenge geantwortet: eben der »Gute« der andren Moral, eben der Vornehme, der Mächtige, der Herrschende, nur umgefärbt, nur umgedeutet, nur umgesehn durch das Giftauge des Ressentiment. Hier wollen wir eins am wenigsten leugnen: wer jene »Guten« nur als Feinde kennen lernte, lernte auch nichts als böse Feinde kennen, und dieselben Menschen, welche so streng durch Sitte, Verehrung, Brauch, Dankbarkeit, noch mehr durch gegenseitige Bewachung, durch Eifersucht inter pares in Schranken gehalten sind, die andrerseits im Verhalten zueinander so erfinderisch in Rücksicht, Selbstbeherrschung, Zartsinn, Treue, Stolz und Freundschaft sich beweisen – sie sind nach außen hin, dort wo das Fremde, die Fremde beginnt, nicht viel besser als losgelassene[785] Raubtiere. Sie genießen da die Freiheit von allem sozialen Zwang, sie halten sich in der Wildnis schadlos für die Spannung, welche eine lange Einschließung und Einfriedigung in den Frieden der Gemeinschaft gibt, sie treten in die Unschuld des Raubtier-Gewissens zurück, als frohlockende Ungeheuer, welche vielleicht von einer scheußlichen Abfolge von Mord, Niederbrennung, Schändung, Folterung mit einem Übermute und seelischen Gleichgewichte davongehen, wie als ob nur ein Studentenstreich vollbracht sei, überzeugt davon, daß die Dichter für lange nun wieder etwas zu singen und zu rühmen haben. Auf dem Grunde aller dieser vornehmen Rassen ist das Raubtier, die prachtvolle nach Beute und Sieg lüstern schweifende blonde Bestie nicht zu verkennen; es bedarf für diesen verborgenen Grund von Zeit zu Zeit der Entladung, das Tier muß wieder heraus, muß wieder in die Wildnis zurück – römischer, arabischer, germanischer, japanesischer Adel, homerische Helden, skandinavische Wikinger – in diesem Bedürfnis sind sie sich alle gleich. Die vornehmen Rassen sind es, welche den Begriff »Barbar« auf all den Spuren hinterlassen haben, wo sie gegangen sind; noch aus ihrer höchsten Kultur heraus verrät sich ein Bewußtsein davon und ein Stolz selbst darauf (zum Beispiel wenn Perikles seinen Athenern sagt, in jener berühmten Leichenrede, »zu allem Land und Meer hat unsre Kühnheit sich den Weg gebrochen, unvergängliche Denkmale sich überall im Guten und Schlimmen aufrichtend«). Diese »Kühnheit« vornehmer Rassen, toll, absurd, plötzlich, wie sie sich äußert, das Unberechenbare, das Unwahrscheinliche selbst ihrer Unternehmungen – Perikles hebt die rhathymia der Athener mit Auszeichnung hervor –, ihre Gleichgültigkeit und Verachtung gegen Sicherheit, Leib, Leben, Behagen, ihre entsetzliche Heiterkeit und Tiefe der Lust in allem Zerstören, in allen Wollüsten des Siegs und der Grausamkeit – alles faßte sich für die, welche daran litten, in das Bild des »Barbaren«, des »bösen Feindes«, etwa des »Goten«, des »Vandalen« zusammen. Das tiefe, eisige Mißtrauen, das der Deutsche erregt, sobald er zur Macht kommt, auch jetzt wieder – ist immer noch ein Nachschlag jenes unauslöschlichen Entsetzens, mit dem jahrhundertelang Europa dem Wüten der blonden germanischen Bestie zugesehn hat (obwohl zwischen alten Germanen und uns Deutschen kaum eine Begriffs-, geschweige eine Blutsverwandtschaft besteht). Ich habe einmal[786] auf die Verlegenheit Hesiods aufmerksam gemacht, als er die Abfolge der Kultur-Zeitalter aussann und sie in Gold, Silber, Erz auszudrücken suchte: er wußte mit dem Widerspruch, den ihm die herrliche, aber ebenfalls so schauerliche, so gewalttätige Welt Homers bot, nicht anders fertig zu werden, als indem er aus einem Zeitalter zwei machte, die er nunmehr hintereinanderstellte – einmal das Zeitalter der Helden und Halbgötter von Troja und Theben, so wie jene Welt im Gedächtnis der vornehmen Geschlechter zurückgeblieben war, die in ihr die eignen Ahnherrn hatten; sodann das eherne Zeitalter, so wie jene gleiche Welt den Nachkommen der Niedergetretenen, Beraubten, Mißhandelten, Weggeschleppten, Verkauften erschien: als ein Zeitalter von Erz, wie gesagt, hart, kalt, grausam, gefühl- und gewissenlos, alles zermalmend und mit Blut übertünchend. Gesetzt daß es wahr wäre, was jetzt jedenfalls als »Wahrheit« geglaubt wird, daß es eben der Sinn aller Kultur sei, aus dem Raubtiere »Mensch« ein zahmes und zivilisiertes Tier, ein Haustier herauszuzüchten, so müßte man unzweifelhaft alle jene Reaktions- und Ressentiment-Instinkte, mit deren Hilfe die vornehmen Geschlechter samt ihren Idealen schließlich zuschanden gemacht und überwältigt worden sind, als die eigentlichen Werkzeuge der Kultur betrachten; womit allerdings noch nicht gesagt wäre, daß deren Träger zugleich auch selber die Kultur darstellten. Vielmehr wäre das Gegenteil nicht nur wahrscheinlich – nein! es ist heute augenscheinlich! Diese Träger der niederdrückenden und vergeltungslüsternen Instinkte, die Nachkommen alles europäischen und nichteuropäischen Sklaventums, aller vorarischen Bevölkerung insonderheit – sie stellen den Rückgang der Menschheit dar! Diese »Werkzeuge der Kultur« sind eine Schande des Menschen, und eher ein Verdacht, ein Gegenargument gegen »Kultur« überhaupt! Man mag im besten Rechte sein, wenn man vor der blonden Bestie auf dem Grunde aller vornehmen Rassen die Furcht nicht los wird und auf der Hut ist; aber wer möchte nicht hundertmal lieber sich fürchten, wenn er zugleich bewundern darf, als sich nicht fürchten, aber dabei den ekelhaften Anblick des Mißratenen, Verkleinerten, Verkümmerten, Vergifteten nicht mehr loswerden können? Und ist das nicht unser Verhängnis? Was macht heute unsern Widerwillen gegen »den Menschen«? – denn wir leiden am Menschen, es ist kein Zweifel. – Nicht[787] die Furcht; eher, daß wir nichts mehr am Menschen zu fürchten haben; daß das Gewürm »Mensch« im Vordergrunde ist und wimmelt; daß der »zahme Mensch«, der Heillos-Mittelmäßige und Unerquickliche bereits sich als Ziel und Spitze, als Sinn der Geschichte, als »höheren Menschen« zu fühlen gelernt hat – ja daß er ein gewisses Recht darauf hat, sich so zu fühlen, insofern er sich im Abstande von der Überfülle des Mißratenen, Kränklichen, Müden, Verlebten fühlt, nach dem heute Europa zu stinken beginnt, somit als etwas wenigstens relativ Geratenes, wenigstens noch Lebensfähiges, wenigstens zum Leben Ja-sagendes...


12

– Ich unterdrücke an dieser Stelle einen Seufzer und eine letzte Zuversicht nicht. Was ist das gerade mir ganz Unerträgliche? Das, womit ich allein nicht fertig werde, was mich ersticken und verschmachten macht? Schlechte Luft! Schlechte Luft! Daß etwas Mißratenes in meine Nähe kommt; daß ich die Eingeweide einer mißratenen Seele riechen muß!... Was hält man sonst nicht aus von Not, Entbehrung, bösem Wetter, Siechtum, Mühsal, Vereinsamung? Im Grunde wird man mit allem übrigen fertig, geboren wie man ist zu einem unterirdischen und kämpfenden Dasein; man kommt immer wieder einmal ans Licht, man erlebt immer wieder seine goldene Stunde des Siegs- und dann steht man da, wie man geboren ist, unzerbrechbar, gespannt, zu Neuem, zu noch Schwererem, Fernerem bereit, wie ein Bogen, den alle Not immer nur noch straffer anzieht. – Aber von Zeit zu Zeit gönnt mir – gesetzt, daß es himmlische Gönnerinnen gibt, jenseits von Gut und Böse – einen Blick, gönnt mir einen Blick nur auf etwas Vollkommnes, zu-Ende-Geratenes, Glückliches, Mächtiges, Triumphierendes, an dem es noch etwas zu fürchten gibt! Auf einen Menschen, der den Menschen rechtfertigt, auf einen komplementären und erlösenden Glücksfall des Men schen, um deswillen man den Glauben an den Menschen festhalten darf!.. Denn so steht es: die Verkleinerung und Ausgleichung des europäischen Menschen birgt unsre größte Gefahr, denn dieser Anblick macht müde... Wir sehen heute nichts, das größer werden will, wir ahnen, daß es immer noch abwärts, abwärts geht, ins Dünnere, Gutmütigere, Klügere, Behaglichere, Mittelmäßigere,[788] Gleichgültigere, Chinesischere, Christlichere – der Mensch, es ist kein Zweifel, wird immer »besser«... Hier eben liegt das Verhängnis Europas – mit der Furcht vor dem Menschen haben wir auch die Liebe zu ihm, die Ehrfurcht vor ihm, die Hoffnung auf ihn, ja den Willen zu ihm eingebüßt. Der Anblick des Menschen macht nunmehr müde – was ist heute Nihilismus, wenn er nicht das ist?... Wir sind des Menschen müde...


13

– Doch kommen wir zurück: das Problem vom andren Ursprung des »Guten«, vom Guten, wie ihn der Mensch des Ressentiment sich ausgedacht hat, verlangt nach seinem Abschluß. – Daß die Lämmer den großen Raubvögeln gram sind, das befremdet nicht: nur liegt darin kein Grund, es den großen Raubvögeln zu verargen, daß sie sich kleine Lämmer holen. Und wenn die Lämmer unter sich sagen »diese Raubvögel sind böse; und wer so wenig als möglich ein Raubvogel ist, vielmehr deren Gegenstück, ein Lamm – sollte der nicht gut sein?« so ist an dieser Aufrichtung eines Ideals nichts auszusetzen, sei es auch, daß die Raubvögel dazu ein wenig spöttisch blicken werden und vielleicht sich sagen: »wir sind ihnen gar nicht gram, diesen guten Lämmern, wir lieben sie sogar: nichts ist schmackhafter als ein zartes Lamm.« – Von der Stärke verlangen, daß sie sich nicht als Stärke äußere, daß sie nicht ein Überwältigen-Wollen, ein Niederwerfen-Wollen, ein Herrwerden-Wollen, ein Durst nach Feinden und Widerständen und Triumphen sei, ist gerade so widersinnig als von der Schwäche verlangen, daß sie sich als Stärke äußere. Ein Quantum Kraft ist ein ebensolches Quantum Trieb, Wille, Wirken – vielmehr, es ist gar nichts anderes als ebendieses Treiben, Wollen, Wirken selbst, und nur unter der Verführung der Sprache (und der in ihr versteinerten Grundirrtümer der Vernunft), welche alles Wirken als bedingt durch ein Wirkendes, durch ein »Subjekt« versteht und mißversteht, kann es anders erscheinen. Ebenso nämlich, wie das Volk den Blitz von seinem Leuchten trennt und letzteres als Tun, als Wirkung eines Subjekts nimmt, das Blitz heißt, so trennt die Volks-Moral auch die Stärke von den Äußerungen der Stärke ab, wie als ob es hinter dem[789] Starken ein indifferentes Substrat gäbe, dem es freistünde, Stärke zu äußern oder auch nicht. Aber es gibt kein solches Substrat; es gibt kein »Sein« hinter dem Tun, Wirken, Werden; »der Täter« ist zum Tun bloß hinzugedichtet – das Tun ist alles. Das Volk verdoppelt im Grunde das Tun, wenn es den Blitz leuchten läßt, das ist ein Tun-Tun: es setzt dasselbe Geschehen einmal als Ursache und dann noch einmal als deren Wirkung. Die Naturforscher machen es nicht besser, wenn sie sagen »die Kraft bewegt, die Kraft verursacht« und dergleichen – unsre ganze Wissenschaft steht noch, trotz aller ihrer Kühle, ihrer Freiheit vom Affekt, unter der Verführung der Sprache und ist die untergeschobnen Wechselbälge, die »Subjekte« nicht losgeworden (das Atom ist zum Beispiel ein solcher Wechselbalg, insgleichen das Kantische »Ding an sich«): was Wunder, wenn die zurückgetretenen, versteckt glimmenden Affekte Rache und Haß diesen Glauben für sich ausnützen und im Grunde sogar keinen Glauben inbrünstiger aufrechterhalten als den, es stehe dem Starken frei, schwach, und dem Raubvogel, Lamm zu sein – damit gewinnen sie ja bei sich das Recht, dem Raubvogel es zuzurechnen, Raubvogel zu sein... Wenn die Unterdrückten, Niedergetretenen, Vergewaltigten aus der rachsüchtigen List der Ohnmacht heraus sich zureden: »laßt uns anders sein als die Bösen, nämlich gut! Und gut ist jeder, der nicht vergewaltigt, der niemanden verletzt, der nicht angreift, der nicht vergilt, der die Rache Gott übergibt, der sich wie wir im Verborgnen hält, der allem Bösen aus dem Wege geht und wenig überhaupt vom Leben verlangt, gleich uns, den Geduldigen, Demütigen, Gerechten« – so heißt das, kalt und ohne Voreingenommenheit angehört, eigentlich nichts weiter als: »wir Schwachen sind nun einmal schwach; es ist gut, wenn wir nichts tun, wozu wir nicht stark genug sind«; aber dieser herbe Tatbestand, diese Klugheit niedrigsten Ranges, welche selbst Insekten haben (die sich wohl totstellen, um nicht »zu viel« zu tun, bei großer Gefahr), hat sich dank jener Falschmünzerei und Selbstverlogenheit der Ohnmacht in den Prunk der entsagenden stillen abwartenden Tugend gekleidet, gleich als ob die Schwäche des Schwachen selbst – das heißt doch sein Wesen, sein Wirken, seine ganze einzige unvermeidliche, unablösbare Wirklichkeit – eine freiwillige Leistung, etwas Gewolltes, Gewähltes, eine Tat, ein Verdienst sei. Diese Art Mensch hat den Glauben an das[790] indifferente wahlfreie »Subjekt« nötig aus einem Instinkte der Selbsterhaltung, Selbstbejahung heraus, in dem jede Lüge sich zu heiligen pflegt. Das Subjekt (oder, daß wir populärer reden, die Seele) ist vielleicht deshalb bis jetzt auf Erden der beste Glaubenssatz gewesen, weil er der Überzahl der Sterblichen, den Schwachen und Niedergedrückten jeder Art, jene sublime Selbstbetrügerei ermöglichte, die Schwäche selbst als Freiheit, ihr So- und So-sein als Verdienst auszulegen.


14

– Will jemand ein wenig in das Geheimnis hinab- und hinuntersehn, wie man auf Erden Ideale fabriziert? Wer hat den Mut dazu?... Wohlan! Hier ist der Blick offen in diese dunkle Werkstätte. Warten Sie noch einen Augenblick, mein Herr Vorwitz und Wagehals: Ihr Auge muß sich erst an dieses falsche schillernde Licht gewöhnen... So! Genug! Reden Sie jetzt! Was geht da unten vor? Sprechen Sie aus, was Sie sehen, Mann der gefährlichsten Neugierde – jetzt bin ich der, welcher zuhört. –

– »Ich sehe nichts, ich höre um so mehr. Es ist ein vorsichtiges tückisches leises Munkeln und Zusammenflüstern aus allen Ecken und Winkeln. Es scheint mir, daß man lügt; eine zuckrige Milde klebt an jedem Klange. Die Schwäche soll zum Verdienste umgelogen werden, es ist kein Zweifel – es steht damit so, wie Sie es sagten« –

– Weiter!

– »und die Ohnmacht, die nicht vergilt, zur ›Güte‹; die ängstliche Niedrigkeit zur ›Demut‹; die Unterwerfung vor denen, die man haßt, zum ›Gehorsam‹ (nämlich gegen einen, von dem sie sagen, er befehle diese Unterwerfung – sie heißen ihn Gott). Das Unoffensive des Schwachen, die Feigheit selbst, an der er reich ist, sein An-der-Tür-stehn, sein unvermeidliches Warten-müssen kommt hier zu guten Namen, als ›Geduld‹, es heißt auch wohl die Tugend; das Sich-nicht-rächen-Können heißt Sich-nicht-rächen-Wollen, vielleicht selbst Verzeihung (›denn sie wissen nicht, was sie tun – wir allein wissen es, was sie tun!‹). Auch redet man von der ›Liebe zu seinen Feinden‹ – und schwitzt dabei.«

– Weiter![791]

– »Sie sind elend, es ist kein Zweifel, alle diese Munkler und Winkel-Falschmünzer, ob sie schon warm beieinander hocken – aber sie sagen mir, ihr Elend sei eine Auswahl und Auszeichnung Gottes, man prügele die Hunde, die man am liebsten habe; vielleicht sei dies Elend auch eine Vorbereitung, eine Prüfung, eine Schulung, vielleicht sei es noch mehr – etwas, das einst ausgeglichen und mit ungeheuren Zinsen in Gold, nein! in Glück ausgezahlt werde. Das heißen sie ›die Seligkeit‹.«

– Weiter!

– »Jetzt geben sie mir zu verstehen, daß sie nicht nur besser seien als die Mächtigen, die Herrn der Erde, deren Speichel sie lecken müssen (nicht aus Furcht, ganz und gar nicht aus Furcht! sondern weil es Gott gebietet, alle Obrigkeit zu ehren) – daß sie nicht nur besser seien, sondern es auch ›besser hätten‹, jedenfalls einmal besser haben würden. Aber genug! genug! Ich halte es nicht mehr aus. Schlechte Luft! Schlechte Luft! Diese Werkstätte, wo man Ideale fabriziert – mich dünkt, sie stinkt vor lauter Lügen.«

– Nein! Noch einen Augenblick! Sie sagten noch nichts von dem Meisterstücke dieser Schwarzkünstler, welche Weiß, Milch und Unschuld aus jedem Schwarz herstellen – haben Sie nicht bemerkt, was ihre Vollendung im Raffinement ist, ihr kühnster, feinster, geistreichster, lügenreichster Artisten-Griff? Geben Sie acht! Diese Kellertiere voll Rache und Haß – was machen sie doch gerade aus Rache und Haß? Hörten Sie je diese Worte? Würden Sie ahnen, wenn Sie nur ihren Worten trauten, daß Sie unter lauter Menschen des Ressentiment sind?...

– »Ich verstehe, ich mache nochmals die Ohren auf (ach! ach! ach! und die Nase zu). Jetzt höre ich erst, was sie so oft schon sagten: ›Wir Guten – wir sind die Gerechten‹ – was sie verlangen, das heißen sie nicht Vergeltung, sondern ›den Triumph der Gerechtigkeit‹; was sie hassen, das ist nicht ihr Feind, nein! sie hassen das ›Unrecht‹, die ›Gottlosigkeit‹; was sie glauben und hoffen, ist nicht die Hoffnung auf Rache, die Trunkenheit der süßen Rache (– ›süßer als Honig‹ nannte sie schon Homer), sondern der Sieg Gottes, des gerechten Gottes über die Gottlosen; was ihnen zu lieben auf Erden übrigbleibt, sind nicht ihre Brüder im Hasse, sondern ihre ›Brüder in der Liebe‹, wie sie sagen, alle Guten und Gerechten auf der Erde.«[792]

– Und wie nennen sie das, was ihnen als Trost wider alle Leiden des Lebens dient – ihre Phantasmagorie der vorweggenommenen zukünftigen Seligkeit?

– »Wie? Höre ich recht? Sie heißen das ›das jüngste Gericht‹, das Kommen ihres Reichs, des ›Reichs Gottes‹ – einstweilen aber leben sie ›im Glauben‹, ›in der Liebe‹, ›in der Hoffnung‹.«

– Genug! Genug!


15

Im Glauben woran? In der Liebe wozu? In der Hoffnung worauf? – Diese Schwachen – irgendwann einmal nämlich wollen auch sie die Starken sein, es ist kein Zweifel, irgendwann soll auch ihr »Reich« kommen – »das Reich Gottes« heißt es schlechtweg bei ihnen, wie gesagt: man ist ja in allem so demütig! Schon um das zu erleben, hat man nötig, lange zu leben, über den Tod hinaus – ja man hat das ewige Leben nötig, damit man sich auch ewig im »Reiche Gottes« schadlos halten kann für jenes Erden-Leben »im Glauben, in der Liebe, in der Hoffnung«. Schadlos wofür? Schadlos wodurch?... Dante hat sich, wie mich dünkt, gröblich vergriffen, als er, mit einer schreckeneinflößenden Ingenuität, jene Inschrift über das Tor zu seiner Hölle setzte »auch mich schuf die ewige Liebe« – über dem Tore des christlichen Paradieses und seiner »ewigen Seligkeit« würde jedenfalls mit besserem Rechte die Inschrift stehen dürfen »auch mich schuf der ewige Haß« – gesetzt, daß eine Wahrheit über dem Tor zu einer Lüge stehen dürfte! Denn was ist die Seligkeit jenes Paradieses?... Wir würden es vielleicht schon erraten; aber besser ist es, daß es uns eine in solchen Dingen nicht zu unterschätzende Autorität ausdrücklich bezeugt, Thomas von Aquino, der große Lehrer und Heilige. »Beati in regno coelesti«, sagt er sanft wie ein Lamm, »videbunt poenas damnatorum, ut beatitudo illis magis complaceat.« Oder will man es in einer stärkeren Tonart hören, etwa aus dem Munde eines triumphierenden Kirchenvaters, der seinen Christen die grausamen Wollüste der öffentlichen Schauspiele widerriet – warum doch? »Der Glaube bietet uns ja viel mehr« – sagt er, de spectac. c. 29 ss. – »viel Stärkeres; dank der Erlösung stehen uns ja ganz andre Freuden zu Gebote; an Stelle der Athleten[793] haben wir unsre Märtyrer; wollen wir Blut, nun, so haben wir das Blut Christi... Aber was erwartet uns erst am Tage seiner Wiederkunft, seines Triumphes!« – und nun fährt er fort, der entzückte Visionär: »At enim supersunt alia spectacula, ille ultimus et perpetuus judicii dies, ille nationibus insperatus, ille derisus, cum tanta saeculi vetustas et tot ejus nativitates uno igne haurientur. Quae tunc spectaculi latitudo! Quid admirer! Quid rideam! Ubi gaudeam! Ubi exultem, spectans tot et tantos reges, qui in coelum recepti nuntiabantur, cum ipso Jove et ipsis suis testibus in imis tenebris congemescentes! Item praesides« (die Provinzialstatthalter) »persecutores dominici nominis saevioribus quam ipsi flammis saevierunt insultantibus contra Christianos liquescentes! Quos praeterea sapientes illos philosophos coram discipulis suis una conflagrantibus erubescentes, quibus nihil ad deum pertinere suadebant, quibus animas aut nullas aut non in pristina corpora redituras afirmabant! Etiam poëtas non ad Rhadamanti nec ad Minois, sed ad inopinati Christi tribunal palpitantes! Tunc magis tragoedi audiendi, magis scilicet vocales« (besser bei Stimme, noch ärgere Schreier) »in sua propria calamitate; tunc histriones cognoscendi, solutiores multo per ignem; tunc spectandus auriga in flammea rota totus rubens, tunc xystici contemplandi non in gymnasiis, sed in igne jaculati, nisi quod ne tunc quidem illos velim vivos, ut qui malim ad eos potius conspectum insatiabilem conferre, qui in dominum desaevierunt. ›Hic est ille‹, dicam, ›fabri aut quaestuariae filius‹« (wie alles Folgende und insbesondere auch diese aus dem Talmud bekannte Bezeichnung der Mutter Jesu zeigt, meint Tertullian von hier ab die Juden), »›sabbati destructor, Samarites et daemonium habens. Hic est, quem a Juda redemistis, hic est ille arundine et colaphis diverberatus, sputamentis dedecoratus, felle et aceto potatus. Hic est, quem clam discentes subripuerunt, ut resurrexisse dicatur vel hortulanus detraxit, ne lactucae suae frequentia commeantium laederentur.‹ Ut talia spectes, ut talibus exultes, quis tibi praetor aut consul aut quaestor aut sacerdos de sua liberalitate praestabit? Et tamen haec jam habemus quodammodo per fidem spiritu imaginante repraesentata. Ceterum qualia illa sunt, quae nec oculus vidit nec auris audivit nec in cor hominis ascenderunt?« (1. Kor. 2, 9.) »Credo circo et utraque cavea« (erster und vierter Rang oder, nach anderen, komische und tragische Bühne) »et omni stadio gratiora.« – Per fidem: so steht's geschrieben.
[794]


16

Kommen wir zum Schluß. Die beiden entgegengesetzten Werte »gut und schlecht«, »gut und böse« haben einen furchtbaren, jahrtausendelangen Kampf auf Erden gekämpft; und so gewiß auch der zweite Wert seit langem im Übergewichte ist, so fehlt es doch auch jetzt noch nicht an Stellen, wo der Kampf unentschieden fortgekämpft wird. Man könnte selbst sagen, daß er inzwischen immer höher hinauf getragen und eben damit immer tiefer, immer geistiger geworden sei: so daß es heute vielleicht kein entscheidenderes Abzeichen der »höheren Natur«, der geistigeren Natur gibt, als zwiespältig in jenem Sinne und wirklich noch ein Kampfplatz für jene Gegensätze zu sein. Das Symbol dieses Kampfes, in einer Schrift geschrieben, die über alle Menschengeschichte hinweg bisher lesbar blieb, heißt »Rom gegen Judäa, Judäa gegen Rom«: – es gab bisher kein größeres Ereignis als diesen Kampf, diese Fragestellung, diesen todfeindlichen Widerspruch. Rom empfand im Juden etwas wie die Widernatur selbst, gleichsam sein antipodisches Monstrum; in Rom galt der Jude »des Hasses gegen das ganze Menschengeschlecht überführt«: mit Recht, sofern man ein Recht hat, das Heil und die Zukunft des Menschengeschlechts an die unbedingte Herrschaft der aristokratischen Werte, der römischen Werte anzuknüpfen. Was dagegen die Juden gegen Rom empfunden haben? Man errät es aus tausend Anzeichen; aber es genügt, sich einmal wieder die Johanneische Apokalypse zu Gemüte zu führen, jenen wüstesten aller geschriebenen Ausbrüche, welche die Rache auf dem Gewissen hat. (Unterschätze man übrigens die tiefe Folgerichtigkeit des christlichen Instinktes nicht, als er gerade dieses Buch des Hasses mit dem Namen des Jüngers der Liebe überschrieb, desselben, dem er jenes verliebt-schwärmerische Evangelium zu eigen gab –: darin steckt ein Stück Wahrheit, wieviel literarische Falschmünzerei auch zu diesem Zwecke nötig gewesen sein mag.) Die Römer waren ja die Starken und Vornehmen, wie sie stärker und vornehmer bisher auf Erden nie dagewesen, selbst niemals geträumt worden sind; jeder Überrest von ihnen, jede Inschrift entzückt, gesetzt daß man errät, was da schreibt. Die Juden umgekehrt waren jenes priesterliche Volk des Ressentiment par excellence, dem eine volkstümlich-moralische Genialität sondergleichen[795] innewohnte: man vergleiche nur die verwandt-begabten Völker, etwa die Chinesen oder die Deutschen, mit den Juden, um nachzufühlen, was ersten und was fünften Ranges ist. Wer von ihnen einstweilen gesiegt hat, Rom oder Judäa? Aber es ist ja gar kein Zweifel: man erwäge doch, vor wem man sich heute in Rom selber als vor dem Inbegriff aller höchsten Werte beugt – und nicht nur in Rom, sondern fast auf der halben Erde, überall wo nur der Mensch zahm geworden ist oder zahm werden will –, vor drei Juden, wie man weiß, und einer Jüdin (vor Jesus von Nazareth, dem Fischer Petrus, dem Teppichwirker Paulus und der Mutter des anfangs genannten Jesus, genannt Maria). Dies ist sehr merkwürdig: Rom ist ohne allen Zweifel unterlegen. Allerdings gab es in der Renaissance ein glanzvoll-unheimliches Wiederaufwachen des klassischen Ideals, der vornehmen Wertungsweise aller Dinge: Rom selber bewegte sich wie ein aufgeweckter Scheintoter unter dem Druck des neuen, darüber gebauten judaisierten Rom, das den Aspekt einer ökumenischen Synagoge darbot und »Kirche« hieß: aber sofort triumphierte wieder Judäa, dank jener gründlich pöbelhaften (deutschen und englischen) Ressentiment-Bewegung, welche man die Reformation nennt, hinzugerechnet, was aus ihr folgen mußte, die Wiederherstellung der Kirche – die Wiederherstellung auch der alten Grabesruhe des klassischen Rom. In einem sogar entscheidenderen und tieferen Sinne als damals kam Judäa noch einmal mit der französischen Revolution zum Siege über das klassische Ideal: die letzte politische Vornehmheit, die es in Europa gab, die des siebzehnten und achtzehnten französischen Jahrhunderts, brach unter den volkstümlichen Ressentiment-Instinkten zusammen – es wurde niemals auf Erden ein größerer Jubel, eine lärmendere Begeisterung gehört! zwar geschah mitten darin das Ungeheuerste, das Unerwartetste: das antike Ideal selbst trat leibhaft und mit unerhörter Pracht vor Auge und Gewissen der Menschheit – und noch einmal, stärker, einfacher, eindringlicher als je, erscholl, gegenüber der alten Lügen-Losung des Ressentiment vom Vorrecht der Meisten, gegenüber dem Willen zur Niederung, zur Erniedrigung, zur Ausgleichung, zum Abwärts und Abendwärts des Menschen, die furchtbare und entzückende Gegenlosung vom Vorrecht der Wenigsten! Wie ein letzter Fingerzeig zum andren Wege erschien Napoleon, jener einzelnste und spätestgeborne[796] Mensch, den es jemals gab, und in ihm das fleischgewordne Problem des vornehmen Ideals an sich – man überlege wohl, was es für ein Problem ist: Napoleon, diese Synthesis von Unmensch und Übermensch...


17

– War es damit vorbei? Wurde jener größte aller Ideal-Gegensätze damit für alle Zeiten ad acta gelegt? Oder nur vertagt, auf lange vertagt?... Sollte es nicht irgendwann einmal ein noch viel furchtbareres, viel länger vorbereitetes Auflodern des alten Brandes geben müssen? Mehr noch: wäre nicht gerade das aus allen Kräften zu wünschen? selbst zu wollen? selbst zu fördern?... Wer an dieser Stelle anfängt, gleich meinen Lesern, nachzudenken, weiterzudenken, der wird schwerlich bald damit zu Ende kommen – Grund genug für mich, selbst zu Ende zu kommen, vorausgesetzt, daß es längst zur Genüge klar geworden ist, was ich will, was ich gerade mit jener gefährlichen Losung will, welche meinem letzten Buche auf den Leib geschrieben ist: »Jenseits von Gut und Böse«... Dies heißt zum mindesten nicht »Jenseits von Gut und Schlecht«. – –


Anmerkung. Ich nehme die Gelegenheit wahr, welche diese Abhandlung mir gibt, um einen Wunsch öffentlich und förmlich auszudrücken, der von mir bisher nur in gelegentlichem Gespräche mit Gelehrten geäußert worden ist: daß nämlich irgendeine philosophische Fakultät sich durch eine Reihe akademischer Preisausschreiben um die Förderung moralhistorischer Studien verdient machen möge – vielleicht dient dies Buch dazu, einen kräftigen Anstoß gerade in solcher Richtung zu geben. In Hinsicht auf eine Möglichkeit dieser Art sei die nachstehende Frage in Vorschlag gebracht: sie verdient ebensosehr die Aufmerksamkeit der Philologen und Historiker als die der eigentlichen Philosophie-Gelehrten von Beruf.

»Welche Fingerzeige gibt die Sprachwissenschaft, insbesondere die etymologische Forschung, für die Entwicklungsgeschichte der moralischen Begriffe ab?«

– Andrerseits ist es freilich ebenso nötig, die Teilnahme der Physiologen und Mediziner für diese Probleme (vom Werte der bisherigen Wertschätzungen) zu gewinnen: wobei es den Fach-Philosophen überlassen sein mag, auch in diesem einzelnen Falle die Fürsprecher und Vermittler zu machen, nachdem es ihnen im ganzen gelungen ist, das ursprünglich so spröde, so mißtrauische Verhältnis zwischen Philosophie, Physiologie und Medizin in den freundschaftlichsten und fruchtbringendste Austausch umzugestalten. In der Tat bedürfen alle Gütertafeln, alle »du sollst«, von denen die Geschichte oder die ethnologische Forschung weiß, zunächst der physiologischen Beleuchtung und Ausdeutung, eher jedenfalls noch als der psychologischen; alle insgleichen warten auf eine Kritik von seiten der medizinischen Wissenschaft. Die Frage: was ist diese oder jene Gütertafel und »Moral« wert? will unter die verschiedensten Perspektiven gestellt sein; man kann namentlich das »wert wozu?« nicht fein genug auseinanderlegen. Etwas zum Beispiel, das ersichtlich Wert hätte in Hinsicht[797] auf möglichste Dauerfähigkeit einer Rasse (oder auf Steigerung ihrer Anpassungskräfte an ein bestimmtes Klima oder auf Erhaltung der größten Zahl) hätte durchaus nicht den gleichen Wert, wenn es sich etwa darum handelte, einen stärkeren Typus herauszubilden. Das Wohl der Meisten und das Wohl der Wenigsten sind entgegengesetzte Wert- Gesichtspunkte: an sich schon den ersteren für den höherwertigen zu halten, wollen wir der Naivität englischer Biologen überlassen... Alle Wissenschaften haben nunmehr der Zukunfts-Aufgabe des Philosophen vorzuarbeiten: diese Aufgabe dahin verstanden, daß der Philosoph das Problem vom Werte zu lösen hat, daß er die Rangordnung der Werte zu bestimmen hat. –[798]

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 2, S. 785-799.
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