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[814] – Hier ein ablehnendes Wort gegen neuerdings hervorgetretene Versuche, den Ursprung der Gerechtigkeit auf einem ganz andren Boden zu suchen – nämlich auf dem des Ressentiment. Den Psychologen voran ins Ohr gesagt, gesetzt daß sie Lust haben sollten, das Ressentiment selbst einmal aus der Nähe zu studieren: diese Pflanze blüht jetzt am schönsten unter Anarchisten und Antisemiten, übrigens so wie sie immer geblüht hat, im Verborgnen, dem Veilchen gleich, wenn schon mit andrem Duft. Und wie aus Gleichem notwendig immer Gleiches hervorgehn muß, so wird es nicht überraschen, gerade wieder aus solchen Kreisen Versuche hervorgehen zu sehn, wie sie schon öfter dagewesen sind – vergleiche oben Seite 792 –, die Rache unter dem Namen der Gerechtigkeit zu heiligen – wie als ob Gerechtigkeit im Grunde nur eine Fortentwicklung vom Gefühle des Verletzt-seins wäre – und mit der Rache die reaktiven Affekte überhaupt und allesamt nachträglich zu Ehren zu bringen. An letzterem selbst würde ich am wenigsten Anstoß nehmen: es schiene mir sogar in Hinsicht auf das ganze biologische Problem (in bezug auf welches der Wert jener Affekte bisher unterschätzt worden ist) ein Verdienst. Worauf ich allein aufmerksam[814] mache, ist der Umstand, daß es der Geist des Ressentiment selbst ist, aus dem diese neue Nuance von wissenschaftlicher Billigkeit (zugunsten von Haß, Neid, Mißgunst, Argwohn, Ranküne, Rache) herauswächst. Diese »wissenschaftliche Billigkeit« nämlich pausiert sofort und macht Akzenten tödlicher Feindschaft und Voreingenommenheit Platz, sobald es sich um eine andre Gruppe von Affekten handelt, die, wie mich dünkt, von einem noch viel höheren biologischen Werte sind als jene reaktiven und folglich erst rechtverdienten, wissenschaftlich abgeschätzt und hochgeschätzt zu werden: nämlich die eigentlich aktiven Affekte, wie Herrschsucht, Habsucht und dergleichen. (E. Dühring, »Wert des Lebens«; »Kursus der Philosophie«; im Grunde überall.) So viel gegen diese Tendenz im allgemeinen: was aber gar den einzelnen Satz Dührings angeht, daß die Heimat der Gerechtigkeit auf dem Boden des reaktiven Gefühls zu suchen sei, so muß man ihm, der Wahrheit zuliebe, mit schroffer Umkehrung diesen andren Satz entgegenstellen: der letzte Boden, der vom Geiste der Gerechtigkeit erobert wird, ist der Boden des reaktiven Gefühls! Wenn es wirklich vorkommt, daß der gerechte Mensch gerecht sogar gegen seine Schädiger bleibt (und nicht nur kalt, maßvoll, fremd, gleichgültig: Gerecht-sein ist immer ein positives Verhalten), wenn sich selbst unter dem Ansturz persönlicher Verletzung, Verhöhnung, Verdächtigung die hohe, klare, ebenso tief als mildblickende Objektivität des gerechten, des richtenden Auges nicht trübt, nun, so ist das ein Stück Vollendung und höchster Meisterschaft auf Erden – sogar etwas, das man hier klugerweise nicht erwarten, woran man jedenfalls nicht gar zu leicht glauben soll. Gewiß ist durchschnittlich, daß selbst bei den rechtschaffensten Personen schon eine kleine Dosis von Angriff, Bosheit, Insinuation genügt, um ihnen das Blut in die Augen und die Billigkeit aus den Augen zu jagen. Der aktive, der angreifende, übergreifende Mensch ist immer noch der Gerechtigkeit hundert Schritte näher gestellt als der reaktive; es ist eben für ihn durchaus nicht nötig, in der Art, wie es der reaktive Mensch tut, tun muß, sein Objekt falsch und voreingenommen abzuschätzen. Tatsächlich hat deshalb zu allen Zeiten der aggressive Mensch, als der Stärkere, Mutigere, Vornehmere, auch das freiere Auge, das bessere Gewissen auf seiner Seite gehabt: umgekehrt errät man schon, wer überhaupt die Erfindung des »schlechten[815] Gewissens« auf dem Gewissen hat – der Mensch des Ressentiment! Zuletzt sehe man sich doch in der Geschichte um: in welcher Sphäre ist denn bisher überhaupt die ganze Handhabung des Rechts, auch das eigentliche Bedürfnis nach Recht auf Erden heimisch gewesen? Etwa in der Sphäre der reaktiven Menschen? Ganz und gar nicht: vielmehr in der der Aktiven, Starken, Spontanen, Aggressiven. Historisch betrachtet, stellt das Recht auf Erden – zum Verdruß des genannten Agitators sei es gesagt (der selber einmal über sich das Bekenntnis ablegt: »die Rachelehre hat sich als der rote Gerechtigkeitsfaden durch alle meine Arbeiten und Anstrengungen hindurchgezogen«) – den Kampf gerade wider die reaktiven Gefühle vor, den Krieg mit denselben seitens aktiver und aggressiver Mächte, welche ihre Stärke zum Teil dazu verwendeten, der Ausschweifung des reaktiven Pathos Halt und Maß zu gebieten und einen Vergleich zu erzwingen. Überall, wo Gerechtigkeit geübt, Gerechtigkeit aufrechterhalten wird, sieht man eine stärkere Macht in bezug auf ihr unterstehende Schwächere (seien es Gruppen, seien es einzelne) nach Mitteln suchen, unter diesen dem unsinnigen Wüten des Ressentiment ein Ende zu machen, indem sie teils das Objekt des Ressentiment aus den Händen der Rache herauszieht, teils an Stelle der Rache ihrerseits den Kampf gegen die Feinde des Friedens und der Ordnung setzt, teils Ausgleiche erfindet, vorschlägt, unter Umständen aufnötigt, teils gewisse Äquivalente von Schädigungen zur Norm erhebt, an welche von nun an das Ressentiment ein für allemal gewiesen ist. Das Entscheidendste aber, was die oberste Gewalt gegen die Übermacht der Gegen- und Nachgefühle tut und durchsetzt – sie tut es immer, sobald sie irgendwie stark genug dazu ist –, ist die Aufrichtung des Gesetzes, die imperativische Erklärung darüber, was überhaupt unter ihren Augen als erlaubt, als recht, was als verboten, als unrecht zu gelten habe: indem sie nach Aufrichtung des Gesetzes Übergriffe und Willkür-Akte einzelner oder ganzer Gruppen als Frevel am Gesetz, als Auflehnung gegen die oberste Gewalt selbst behandelt, lenkt sie das Gefühl ihrer Untergebenen von dem nächsten durch solche Frevel angerichteten Schaden ab und erreicht damit auf die Dauer das Umgekehrte von dem, was alle Rache will, welche den Gesichtspunkt des Geschädigten allein sieht, allein gelten läßt –: von nun an wird das[816] Auge für eine immer unpersönlichere Abschätzung der Tat eingeübt, sogar das Auge des Geschädigten selbst (obschon dies am allerletzten, wie voran bemerkt wurde). – Demgemäß gibt es erst von der Aufrichtung des Gesetzes an »Recht« und »Unrecht« (und nicht, wie Dühring will, von dem Akte der Verletzung an). An sich von Recht und Unrecht reden entbehrt alles Sinns; an sich kann natürlich ein Verletzen, Vergewaltigen, Ausbeuten, Vernichten nichts »Unrechtes« sein, insofern das Leben essentiell, nämlich in seinen Grundfunktionen verletzend, vergewaltigend, ausbeutend, vernichtend fungiert und gar nicht gedacht werden kann ohne diesen Charakter. Man muß sich sogar noch etwas Bedenklicheres eingestehn: daß, vom höchsten biologischen Standpunkte aus, Rechtszustände immer nur Ausnahme-Zustände sein dürfen, als teilweise Restriktionen des eigentlichen Lebenswillens, der auf Macht aus ist, und sich dessen Gesamtzwecke als Einzelmittel unterordnend: nämlich als Mittel, größere Macht-Einheiten zu schaffen. Eine Rechtsordnung souverän und allgemein gedacht, nicht als Mittel im Kampf von Macht-Komplexen, sondern als Mittel gegen allen Kampf überhaupt, etwa gemäß der Kommunisten-Schablone Dührings, daß jeder Wille jeden Willen als gleich zu nehmen habe, wäre ein lebensfeindliches Prinzip, eine Zerstörerin und Auflöserin des Menschen, ein Attentat auf die Zukunft des Menschen, ein Zeichen von Ermüdung, ein Schleichweg zum Nichts. –


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Hier noch ein Wort über Ursprung und Zweck der Strafe – zwei Probleme, die auseinanderfallen oder –fallen sollten: leider wirft man sie gewöhnlich in eins. Wie treiben es doch die bisherigen Moral-Genealogen in diesem Falle? Naiv, wie sie es immer getrieben haben –: sie machen irgendeinen »Zweck« in der Strafe ausfindig, zum Beispiel Rache oder Abschreckung, setzen dann arglos diesen Zweck an den Anfang, als causa fiendi der Strafe, und – sind fertig. Der »Zweck im Rechte« ist aber zuallerletzt für die Entstehungsgeschichte des Rechts zu verwenden: vielmehr gibt es für alle Art Historie gar keinen wichtigeren Satz als jenen, der mit solcher Mühe errungen ist, aber auch wirklich errungen sein sollte – daß nämlich die Ursache der Entstehung[817] eines Dings und dessen schließliche Nützlichkeit, dessen tatsächliche Verwendung und Einordnung in ein System von Zwecken toto coelo auseinander liegen; daß etwas Vorhandenes, irgendwie Zustande-Gekommenes immer wieder von einer ihm überlegnen Macht auf neue Absichten ausgelegt, neu in Beschlag genommen, zu einem neuen Nutzen umgebildet und umgerichtet wird; daß alles Geschehen in der organischen Welt ein Überwältigen, Herr-werden und daß wiederum alles Überwältigen und Herr-werden ein Neu-Interpretieren, ein Zurechtmachen ist, bei dem der bisherige »Sinn« und »Zweck« notwendig verdunkelt oder ganz ausgelöscht werden muß. Wenn man die Nützlichkeit von irgendwelchem physiologischen Organ (oder auch einer Rechts-Institution, einer gesellschaftlichen Sitte, eines politischen Brauchs, einer Form in den Künsten oder im religiösen Kultus) noch so gut begriffen hat, so hat man damit noch nichts in betreff seiner Entstehung begriffen: so unbequem und unangenehm dies älteren Ohren klingen mag – denn von alters her hatte man in dem nachweisbaren Zwecke, in der Nützlichkeit eines Dings, einer Form, einer Einrichtung auch deren Entstehungsgrund zu begreifen geglaubt, das Auge als gemacht zum Sehen, die Hand als gemacht zum Greifen. So hat man sich auch die Strafe vorgestellt als erfunden zum Strafen. Aber alle Zwecke, alle ützlichkeiten sind nur Anzeichen davon, daß ein Wille zur Macht über etwas weniger Mächtiges Herr geworden ist und ihm von sich aus den Sinn einer Funktion aufgeprägt hat; und die ganze Geschichte eines »Dings«, eines Organs, eines Brauchs kann dergestalt eine fortgesetzte Zeichen-Kette von immer neuen Interpretationen und Zurechtmachungen sein, deren Ursachen selbst unter sich nicht im Zusammenhange zu sein brauchen, vielmehr unter Umständen sich bloß zufällig hintereinander folgen und ablösen. »Entwicklung« eines Dings, eines Brauchs, eines Organs ist demgemäß nichts weniger als sein progressus auf ein Ziel hin, noch weniger ein logischer und kürzester, mit dem kleinsten Aufwand von Kraft und Kosten erreichter progressus – sondern die Aufeinanderfolge von mehr oder minder tiefgehenden, mehr oder minder voneinander unabhängigen, an ihm sich abspielenden Überwältigungsprozessen, hinzugerechnet die dagegen jedesmal aufgewendeten Widerstände, die versuchten Form-Verwandlungen zum Zweck der Verteidigung und Reaktion, auch die Resultate[818] gelungener Gegenaktionen. Die Form ist flüssig, der »Sinn« ist es aber noch mehr... Selbst innerhalb jedes einzelnen Organismus steht es nicht anders: mit jedem wesentlichen Wachstum des Ganzen verschiebt sich auch der »Sinn« der einzelnen Organe – unter Umständen kann deren teilweises Zu-Grunde-gehn, deren Zahl-Verminderung (zum Beispiel durch Vernichtung der Mittelglieder) ein Zeichen wachsender Kraft und Vollkommenheit sein. Ich wollte sagen: auch das teilweise Unnützlich-werden, das Verkümmern und Entarten, das Verlustig-gehn von Sinn und Zweckmäßigkeit, kurz der Tod gehört zu den Bedingungen des wirklichen progressus: als welcher immer in Gestalt eines Willens und Wegs zu größerer Macht erscheint und immer auf Unkosten zahlreicher kleinerer Mächte durchgesetzt wird. Die Größe eines »Fortschritts« bemißt sich sogar nach der Masse dessen, was ihm alles geopfert werden mußte; die Menschheit als Masse dem Gedeihen einer einzelnen stärkeren Spezies Mensch geopfert – das wäre ein Fortschritt... Ich hebe diesen Haupt-Gesichtspunkt der historischen Methodik hervor, um so mehr als er im Grunde dem gerade herrschenden Instinkte und Zeitgeschmack entgegengeht, welcher lieber sich noch mit der absoluten Zufälligkeit, ja mechanistischen Unsinnigkeit alles Geschehens vertragen würde, als mit der Theorie eines in allem Geschehen sich abspielenden Macht-Willens. Die demokratische Idiosynkrasie gegen alles, was herrscht und herrschen will, der moderne Misarchismus (um ein schlechtes Wort für eine schlechte Sache zu bilden) hat sich allmählich dermaßen ins Geistige, Geistigste umgesetzt und verkleidet, daß er heute Schritt für Schritt bereits in die strengsten, anscheinend objektivsten Wissenschaften eindringt, eindringen darf; ja er scheint mir schon über die ganze Physiologie und Lehre vom Leben Herr geworden zu sein, zu ihrem Schaden, wie sich von selbst versteht, indem er ihr einen Grundbegriff, den der eigentlichen Aktivität, eskamotiert hat. Man stellt dagegen unter dem Druck jener Idiosynkrasie die »Anpassung« in den Vordergrund, das heißt eine Aktivität zweiten Ranges, eine bloße Reaktivität, ja man hat das Leben selbst als eine immer zweckmäßigere innere Anpassung an äußere Umstände definiert (Herbert Spencer). Damit ist aber das Wesen des Lebens verkannt, sein Wille zur Macht; damit ist der prinzipielle Vorrang übersehn, den die spontanen, angreifenden, übergreifenden,[819] neu-auslegenden, neu-richtenden und gestaltenden Kräfte haben, auf deren Wirkung erst die »Anpassung« folgt; damit ist im Organismus selbst die herrschaftliche Rolle der höchsten Funktionäre abgeleugnet, in denen der Lebenswille aktiv und formgebend erscheint. Man erinnert sich, was Huxley Spencer zum Vorwurf gemacht hat – seinen »administrativen Nihilismus«: aber es handelt sich noch um mehr als ums »Administrieren«...


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– Man hat also, um zur Sache, nämlich zur Strafe zurückzukehren, zweierlei an ihr zu unterscheiden: einmal das relativ Dauerhafte an ihr, den Brauch, den Akt, das »Drama«, eine gewisse strenge Abfolge von Prozeduren, andrerseits das Flüssige an ihr, den Sinn, den Zweck, die Erwartung, welche sich an die Ausführung solcher Prozeduren knüpft. Hierbei wird ohne weiteres vorausgesetzt, per analogiam, gemäß dem eben entwickelten Hauptgesichtspunkte der historischen Methodik, daß die Prozedur selbst etwas Älteres, Früheres als ihre Benützung zur Strafe sein wird, daß letztere erst in die (längst vorhandene, aber in einem anderen Sinne übliche) Prozedur hineingelegt, hineingedeutet worden ist, kurz, daß es nicht so steht, wie unsre naiven Moral- und Rechtsgenealogen bisher annahmen, welche sich allesamt die Prozedur erfunden dachten zum Zweck der Strafe, so wie man sich ehemals die Hand erfunden dachte zum Zweck des Greifens. Was nun jenes andre Element an der Strafe betrifft, das flüssige, ihren »Sinn«, so stellt in einem sehr späten Zustande der Kultur (zum Beispiel im heutigen Europa) der Begriff »Strafe« in der Tat gar nicht mehr einen Sinn vor, sondern eine ganze Synthesis von »Sinnen«: die bisherige Geschichte der Strafe überhaupt, die Geschichte ihrer Ausnützung zu den verschiedensten Zwecken, kristallisiert sich zuletzt in eine Art von Einheit, welche schwer löslich, schwer zu analysieren und, was man hervorheben muß, ganz und gar undefinierbar ist. (Es ist heute unmöglich, bestimmt zu sagen, warum eigentlich gestraft wird: alle Begriffe, in denen sich ein ganzer Prozeß semiotisch zusammenfaßt, entziehn sich der Definition; definierbar ist nur das, was keine Geschichte hat.) In einem früheren Stadium erscheint dagegen jene Synthesis von »Sinnen«[820] noch löslicher, auch noch verschiebbarer; man kann noch wahrnehmen, wie für jeden einzelnen Fall die Elemente der Synthesis ihre Wertigkeit verändern und sich demgemäß umordnen, so daß bald dies, bald jenes Element auf Kosten der übrigen hervortritt und dominiert, ja unter Umständen ein Element (etwa der Zweck der Abschreckung) den ganzen Rest von Elementen aufzuheben scheint. Um wenigstens eine Vorstellung davon zu geben, wie unsicher, wie nachträglich, wie akzidentiell »der Sinn« der Strafe ist, und wie ein und dieselbe Prozedur auf grundverschiedne Absichten hin benützt, gedeutet, zurechtgemacht werden kann: so stehe hier das Schema, das sich mir selbst auf Grund eines verhältnismäßig kleinen und zufälligen Materials ergeben hat. Strafe als Unschädlichmachen, als Verhinderung weiteren Schädigens. Strafe als Abzahlung des Schadens an den Geschädigten, in irgendeiner Form (auch in der einer Affekt-Kompensation). Strafe als Isolierung einer Gleichgewichts-Störung, um ein Weitergreifen der Störung zu verhüten. Strafe als Furcht-einflößen vor denen, welche die Strafte bestimmen und exekutieren. Strafe als eine Art Ausgleich für die Vorteile, welche der Verbrecher bis dahin genossen hat (zum Beispiel wenn er als Bergwerkssklave nutzbar gemacht wird). Strafe als Ausscheidung eines entartenden Elementes (unter Umständen eines ganzen Zweigs, wie nach chinesischem Rechte: somit als Mittel zur Reinerhaltung der Rasse oder zur Festhaltung eines sozialen Typus). Strafe als Fest, nämlich als Vergewaltigung und Verhöhnung eines endlich niedergeworfnen Feindes. Strafe als ein Gedächtnis-machen, sei es für den, der die Strafe erleidet – die sogenannte »Besserung«, sei es für die Zeugen der Exekution. Strafe als Zahlung eines Honorars, ausbedungen seitens der Macht, welche den Übeltäter vor den Ausschweifungen der Rache schützt. Strafe als Kompromiß mit dem Naturzustand der Rache, sofern letzerer durch mächtige Geschlechter noch aufrechterhalten und als Privilegium in Anspruch genommen wird. Strafe als Kriegserklärung und Kriegsmaßregel gegen einen Feind des Friedens, des Gesetzes, der Ordnung, der Obrigkeit, den man als gefährlich für das Gemeinwesen, als vertragsbrüchig in Hinsicht auf dessen Voraussetzungen, als einen Empörer, Verräter und Friedensbrecher bekämpft, mit Mitteln, wie sie eben der Krieg an die Hand gibt. –


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[821] Diese Liste ist gewiß nicht vollständig; ersichtlich ist die Strafe mit Nützlichkeiten aller Art überladen. Um so eher darf man von ihr eine vermeintliche Nützlichkeit in Abzug bringen, die allerdings im populären Bewußtsein als ihre wesentlichste gilt – der Glaube an die Strafe, der heute aus mehreren Gründen wackelt, findet gerade an ihr immer noch seine kräftigste Stütze. Die Strafe soll den Wert haben, das Gefühl der Schuld im Schuldigen aufzuwecken, man sucht in ihr das eigentliche instrumentum jener seelischen Reaktion, welche »schlechtes Gewissen«, »Gewissensbiß« genannt wird. Aber damit vergreift man sich selbst für heute noch an der Wirklichkeit und der Psychologie: und wieviel mehr für die längste Geschichte des Menschen, seine Vorgeschichte! Der echte Gewissensbiß ist gerade unter Verbrechern und Sträflingen etwas äußerst Seltnes, die Gefängnisse, die Zuchthäuser sind nicht die Brutstätten, an denen diese Spezies von Nagewurm mit Vorliebe gedeiht – darin kommen alle gewissenhaften Beobachter überein, die in vielen Fällen ein derartiges Urteil ungern genug und wider die eigensten Wünsche abgeben. Ins große gerechnet, härtet und kältet die Strafe ab; sie konzentriert; sie verschärft das Gefühl der Entfremdung; sie stärkt die Widerstandskraft. Wenn es vorkommt, daß sie die Energie zerbricht und eine erbärmliche Prostration und Selbsterniedrigung zuwege bringt, so ist ein solches Ergebnis sicherlich noch weniger erquicklich als die durchschnittliche Wirkung der Strafe: als welche sich durch einen trocknen düsteren Ernst charakterisiert. Denken wir aber gar an jene Jahrtausende vor der Geschichte des Menschen, so darf man unbedenklich urteilen, daß gerade durch die Strafe die Entwicklung des Schuldgefühls am kräftigsten aufgehalten worden ist – wenigstens in Hinsicht auf die Opfer, an denen sich die strafende Gewalt ausließ. Unterschätzen wir nämlich nicht, inwiefern der Verbrecher gerade durch den Anblick der gerichtlichen und vollziehenden Prozeduren selbst verhindert wird, seine Tat, die Art seiner Handlung an sich als verwerflich zu empfinden: denn er sieht genau die gleiche Art von Handlungen im Dienst der Gerechtigkeit verübt und dann gutgeheißen, mit gutem Gewissen verübt: also Spionage, Überlistung, Bestechung, Fallenstellen, die ganze kniffliche und durchtriebene[822] Polizisten- und Anklägerkunst, sodann das grundsätzliche, selbst nicht durch den Affekt entschuldigte Berauben, Überwältigen, Beschimpfen, Gefangennehmen, Foltern, Morden, wie es in den verschiednen Arten der Strafe sich ausprägt – alles somit von seinen Richtern keineswegs an sich verworfene und verurteilte Handlungen, sondern nur in einer gewissen Hinsicht und Nutzanwendung. Das »schlechte Gewissen«, diese unheimlichste und interessanteste Pflanze unsrer irdischen Vegetation, ist nicht auf diesem Boden gewachsen – in der Tat drückte sich im Bewußtsein der Richtenden, der Strafenden selbst die längste Zeit hindurch nichts davon aus, daß man mit einem »Schuldigen« zu tun habe. Sondern mit einem Schaden-Anstifter, mit einem unverantwortlichen Stück Verhängnis. Und der selber, über den nachher die Strafe, wiederum wie ein Stück Verhängnis, herfiel, hatte dabei keine andre »innere Pein«, als wie beim plötzlichen Eintreten von etwas Unberechnetem, eines schrecklichen Naturereignisses, eines herabstürzenden, zermalmenden Felsblocks, gegen den es keinen Kampf mehr gibt.


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Dies kam einmal auf eine verfängliche Weise Spinoza zum Bewußtsein (zum Verdruß seiner Ausleger, welche sich ordentlich darum bemühen, ihn an dieser Stelle mißzuverstehn, zum Beispiel Kuno Fischer), als er eines Nachmittags, wer weiß, an was für einer Erinnerung sich reibend, der Frage nachhing, was eigentlich für ihn selbst von dem berühmten morsus conscientiae übriggeblieben sei – er, der Gut und Böse unter die menschlichen Einbildungen verwiesen und mit Ingrimm die Ehre seines »freien« Gottes gegen jene Lästerer verteidigt hatte, deren Behauptung dahin ging, Gott wirke alles sub ratione boni (»das aber hieße Gott dem Schicksale unterwerfen und wäre fürwahr die größte aller Ungereimtheiten« –). Die Welt war für Spinoza wieder in jene Unschuld zurückgetreten, in der sie vor der Erfindung des schlechten Gewissens dalag: was war damit aus dem morsus conscientiae geworden? »Der Gegensatz des gaudium«, sagte er sich endlich – »eine Traurigkeit, begleitet von der Vorstellung einer vergangnen Sache, die gegen alles Erwarten ausgefallen ist.« Eth. III propos. XVIII schol. I. II. [823] Nicht anders als Spinoza haben die von der Strafe ereilten Übel-Anstifter jahrtausendelang in betreff ihres »Vergehens« empfunden: »hier ist etwas unvermutet schiefgegangen«, nicht: »das hätte ich nicht tun sollen« –, sie unterwarfen sich der Strafe, wie man sich einer Krankheit oder einem Unglücke oder dem Tode unterwirft, mit jenem beherzten Fatalismus ohne Revolte, durch den zum Beispiel heute noch die Russen in der Handhabung des Lebens gegen uns Westländer im Vorteil sind. Wenn es damals eine Kritik der Tat gab, so war es die Klugheit, die an der Tat Kritik übte: ohne Frage müssen wir die eigentliche Wirkung der Strafe vor allem in einer Verschärfung der Klugheit suchen, in einer Verlängerung des Gedächtnisses, in einem Willen, fürderhin vorsichtiger, mißtrauischer, heimlicher zu Werke zu gehn, in der Einsicht, daß man für vieles ein für allemal zu schwach sei, in einer Art Verbesserung der Selbstbeurteilung. Das, was durch die Strafe im großen erreicht werden kann, bei Mensch und Tier, ist die Vermehrung der Furcht, die Verschärfung der Klugheit, die Bemeisterung der Begierden: damit zähmt die Strafe den Menschen, aber sie macht ihn nicht »besser« – man dürfte mit mehr Recht noch das Gegenteil behaupten. (»Schaden macht klug«, sagt das Volk: soweit er klug macht, macht er auch schlecht. Glücklicherweise macht er oft genug dumm.)


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An dieser Stelle ist es nun nicht mehr zu umgehn, meiner eignen Hypothese über den Ursprung des »schlechten Gewissens« zu einem ersten vorläufigen Ausdrucke zu verhelfen: sie ist nicht leicht zu Gehör zu bringen und will lange bedacht, bewacht und beschlafen sein. Ich nehme das schlechte Gewissen als die tiefe Erkrankung, welcher der Mensch unter dem Druck jener gründlichsten aller Veränderungen verfallen mußte, die er überhaupt erlebt hat – jener Veränderung, als er sich endgültig in den Bann der Gesellschaft und des Friedens eingeschlossen fand. Nicht anders als es den Wassertieren ergangen sein muß, als sie gezwungen wurden, entweder Landtiere zu werden oder zugrunde zu gehn, so ging es diesen der Wildnis, dem Kriege, dem Herumschweifen, dem Abenteuer glücklich angepaßten Halbtieren – mit einem Male waren alle ihre Instinkte entwertet und »ausgehängt«.[824] Sie sollten nunmehr auf den Füßen gehn und »sich selber tragen«, wo sie bisher vom Wasser getragen wurden: eine entsetzliche Schwere lag auf ihnen. Zu den einfachsten Verrichtungen fühlten sie sich ungelenk, sie hatten für diese neue unbekannte Welt ihre alten Führer nicht mehr, die regulierenden unbewußt-sicherführenden Triebe – sie waren auf Denken, Schließen, Berechnen, Kombinieren von Ursachen und Wirkungen reduziert, diese Unglücklichen, auf ihr »Bewußtsein«, auf ihr ärmlichstes und fehlgreifendstes Organ! Ich glaube, daß niemals auf Erden ein solches Elends-Gefühl, ein solches bleiernes Mißbehagen dagewesen ist – und dabei hatten jene alten Instinkte nicht mit einem Male aufgehört, ihre Forderungen zu stellen! Nur war es schwer und selten möglich, ihnen zu Willen zu sein: in der Hauptsache mußten sie sich neue und gleichsam unterirdische Befriedigungen suchen. Alle Instinkte, welche sich nicht nach außen entladen, wenden sich nach innen – dies ist das, was ich die Verinnerlichung des Menschen nenne: damit wächst erst das an den Menschen heran, was man später seine »Seele« nennt. Die ganze innere Welt, ursprünglich dünn wie zwischen zwei Häute eingespannt, ist in dem Maße auseinander- und aufgegangen, hat Tiefe, Breite, Höhe bekommen, als die Entladung des Menschen nach außen gehemmt worden ist. Jene furchtbaren Bollwerke, mit denen sich die staatliche Organisation gegen die alten Instinkte der Freiheit schützte – die Strafen gehören vor allem zu diesen Bollwerken –, brachten zuwege, daß alle jene Instinkte des wilden freien schweifenden Menschen sich rückwärts, sich gegen den Menschen selbst wandten. Die Feindschaft, die Grausamkeit, die Lust an der Verfolgung, am Überfall, am Wechsel, an der Zerstörung – alles das gegen die Inhaber solcher Instinkte sich wendend: das ist der Ursprung des »schlechten Gewissens«. Der Mensch, der sich, aus Mangel an äußeren Feinden und Widerständen, eingezwängt in eine drückende Enge und Regelmäßigkeit der Sitte, ungeduldig selbst zerriß, verfolgte, annagte, aufstörte, mißhandelte, dies an den Gitterstangen seines Käfigs sich wundstoßende Tier, das man »zähmen« will, dieser Entbehrende und vom Heimweh der Wüste Verzehrte, der aus sich selbst ein Abenteuer, eine Folterstätte, eine unsichere und gefährliche Wildnis schaffen mußte – dieser Narr, dieser sehnsüchtige und verzweifelte Gefangne wurde der Erfinder des »schlechten Gewissens«. Mit ihm aber war die[825] größte und unheimlichste Erkrankung eingeleitet, von welcher die Menschheit bis heute nicht genesen ist, das Leiden des Menschen am Menschen, an sich: als die Folge einer gewaltsamen Abtrennung von der tierischen Vergangenheit, eines Sprunges und Sturzes gleichsam in neue Lagen und Daseins-Bedingungen, einer Kriegserklärung gegen die alten Instinkte, auf denen bis dahin seine Kraft, Lust und Furchtbarkeit beruhte. Fügen wir sofort hinzu, daß andrerseits mit der Tatsache einer gegen sich selbst gekehrten, gegen sich selbst Partei nehmenden Tierseele auf Erden etwas so Neues, Tiefes, Unerhörtes, Rätselhaftes, Widerspruchsvolles und Zukunftsvolles gegeben war, daß der Aspekt der Erde sich damit wesentlich veränderte. In der Tat, es brauchte göttlicher Zuschauer, um das Schauspiel zu würdigen, das damit anfing und dessen Ende durchaus noch nicht abzusehn ist – ein Schauspiel zu fein, zu wundervoll, zu paradox, als daß es sich sinnlos-unvermerkt auf irgendeinem lächerlichen Gestirn abspielen dürfte! Der Mensch zählt seitdem mit unter den unerwartetsten und aufregendsten Glückswürfen, die das »große Kind« des Heraklit, heiße es Zeus oder Zufall, spielt – er erweckt für sich ein Interesse, eine Spannung, eine Hoffnung, beinahe eine Gewißheit, als ob mit ihm sich etwas ankündige, etwas vorbereite, als ob der Mensch kein Ziel, sondern nur ein Weg, ein Zwischenfall, eine Brücke, ein großes Versprechen sei...


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Zur Voraussetzung dieser Hypothese über den Ursprung des schlechten Gewissens gehört erstens, daß jene Veränderung keine allmähliche, keine freiwillige war und sich nicht als ein organisches Hineinwachsen in neue Bedingungen darstellte, sondern als ein Bruch, ein Sprung, ein Zwang, ein unabweisbares Verhängnis, gegen das es keinen Kampf und nicht einmal ein Ressentiment gab. Zweitens aber, daß die Einfügung einer bisher ungehemmten und ungestalteten Bevölkerung in eine feste Form, wie sie mit einem Gewaltakt ihren Anfang nahm, nur mit lauter Gewaltakten zu Ende geführt wurde – daß der älteste »Staat« demgemäß als eine furchtbare Tyrannei, als eine zerdrückende und rücksichtslose Maschinerie auftrat und fortarbeitete, bis ein solcher Rohstoff von Volk und Halbtier endlich nicht nur durchgeknetet[826] und gefügig, sondern auch geformt war. Ich gebrauchte das Wort »Staat«: es versteht sich von selbst, wer damit gemeint ist – irgendein Rudel blonder Raubtiere, eine Eroberer- und Herren-Rasse, welche, kriegerisch organisiert und mit der Kraft, zu organisieren, unbedenklich ihre furchtbaren Tatzen auf eine der Zahl nach vielleicht ungeheuer überlegene, aber noch gestaltlose, noch schweifende Bevölkerung legt. Dergestalt beginnt ja der »Staat« auf Erden: ich denke, jene Schwärmerei ist abgetan, welche ihn mit einem »Vertrage« beginnen ließ. Wer befehlen kann, wer von Natur »Herr« ist, wer gewalttätig in Werk und Gebärde auftritt – was hat der mit Verträgen zu schaffen! Mit solchen Wesen rechnet man nicht, sie kommen wie das Schicksal, ohne Grund, Vernunft, Rücksicht, Vorwand, sie sind da, wie der Blitz da ist, zu furchtbar, zu plötzlich, zu überzeugend, zu »anders«, um selbst auch nur gehaßt zu werden. Ihr Werk ist ein instinktives Formen-schaffen, Formen-aufdrücken, es sind die unfreiwilligsten, unbewußtesten Künstler, die es gibt – in Kürze steht etwas Neues da, wo sie erscheinen, ein Herrschafts-Gebilde, das lebt, in dem Teile und Funktionen abgegrenzt und bezüglich gemacht sind, in dem nichts überhaupt Platz findet, dem nicht erst ein »Sinn« in Hinsicht auf das Ganze eingelegt ist. Sie wissen nicht, was Schuld, was Verantwortlichkeit, was Rücksicht ist, diese geborenen Organisatoren; in ihnen waltet jener furchtbare Künstler-Egoismus, der wie Erz blickt und sich im »Werke«, wie die Mutter in ihrem Kinde, in alle Ewigkeit voraus gerechtfertigt weiß. Sie sind es nicht, bei denen das »schlechte Gewissen« gewachsen ist, das versteht sich von vornherein – aber es würde nicht ohne sie gewachsen sein, dieses häßliche Gewächs, es würde fehlen, wenn nicht unter dem Druck ihrer Hammerschläge, ihrer Künstler-Gewaltsamkeit ein ungeheures Quantum Freiheit aus der Welt, mindestens aus der Sichtbarkeit geschafft und gleichsam latent gemacht worden wäre. Dieser gewaltsam latent gemachte Instinkt der Freiheit – wir begriffen es schon –, dieser zurückgedrängte, zurückgetretene, ins Innere eingekerkerte und zuletzt nur an sich selbst noch sich entladende und auslassende Instinkt der Freiheit: das, nur das ist in seinem Anbeginn das schlechte Gewissen.
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Man hüte sich, von diesem ganzen Phänomen deshalb schon gering zu denken, weil es von vornherein häßlich und schmerzhaft ist. Im Grunde ist es ja dieselbe aktive Kraft, die in jenen Gewalt-Künstlern und Organisatoren großartiger am Werke ist und Staaten baut, welche hier, innerlich, kleiner, kleinlicher, in der Richtung nach rückwärts, im »Labyrinth der Brust«, um mit Goethe zu reden, sich das schlechte Gewissenschafft und negative Ideale baut, eben jener Instinkt der Freiheit (in meiner Sprache geredet: der Wille zur Macht): nur daß der Stoff, an dem sich die formbildende und vergewaltigende Natur dieser Kraft ausläßt, hier eben der Mensch selbst, sein ganzes tierisches altes Selbst ist – und nicht, wie in jenem größeren und augenfälligeren Phänomen, der andre Mensch, die andren Menschen. Diese heimliche Selbst-Vergewaltigung, diese Künstler-Grausamkeit, diese Lust, sich selbst als einem schweren widerstrebenden leidenden Stoffe eine Form zu geben, einen Willen, eine Kritik, einen Widerspruch, eine Verachtung, ein Nein einzubrennen, diese unheimliche und entsetzlich-lustvolle Arbeit einer mit sich selbst willig-zwiespältigen Seele, welche sich leiden macht, aus Lust am Leiden-machen, dieses ganze aktivische »schlechte Gewissen« hat zuletzt – man errät es schon – als der eigentliche Mutterschoß idealer und imaginativer Ereignisse auch eine Fülle von neuer befremdlicher Schönheit und Bejahung ans Licht gebracht und vielleicht überhaupt erst die Schönheit... Was wäre denn »schön«, wenn nicht erst der Widerspruch sich selbst zum Bewußtsein gekommen wäre, wenn nicht erst das Häßliche zu sich selbst gesagt hätte: »ich bin häßlich«?... Zum mindesten wird nach diesem Winke das Rätsel weniger rätselhaft sein, inwiefern in widersprüchlichen Begriffen, wie Selbstlosigkeit, Selbstverleugnung, Selbstopferung ein Ideal, eine Schönheit angedeutet sein kann; und eins weiß man hinfort – ich zweifle nicht daran – welcher Art nämlich von Anfang an die Lust ist, die der Selbstlose, der Sich-selbst-Verleugnende, Sich-selber-Opfernde empfindet: diese Lust gehört zur Grausamkeit. – Soviel vorläufig zur Herkunft des »Unegoistischen« als eines moralischen Wertes und zur Absteckung des Bodens, aus dem dieser Wert gewachsen ist: erst das schlechte Gewissen, erst der Wille zur[828] Selbstmißhandlung gibt die Voraussetzung ab für den Wert des Unegoistischen. –


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Es ist eine Krankheit, das schlechte Gewissen, das unterliegt keinem Zweifel, aber eine Krankheit, wie die Schwangerschaft eine Krankheit ist. Suchen wir die Bedingungen auf, unter denen diese Krankheit auf ihren furchtbarsten und sublimsten Gipfel gekommen ist – wir werden sehn, was damit eigentlich erst seinen Eintritt in die Welt gemacht hat. Dazu aber bedarf es eines langen Atems – und zunächst müssen wir noch einmal zu einem früheren Gesichtspunkte zurück. Das privatrechtliche Verhältnis des Schuldners zu seinem Gläubiger, von dem des längeren schon die Rede war, ist noch einmal, und zwar in einer historisch überaus merkwürdigen und bedenklichen Weise, in ein Verhältnis hineininterpretiert worden, worin es uns modernen Menschen vielleicht am unverständlichsten ist: nämlich in das Verhältnis der Gegenwärtigen zu ihren Vorfahren. Innerhalb der ursprünglichen Geschlechtsgenossenschaft – wir reden von Urzeiten – erkennt jedesmal die lebende Generation gegen die frühere und insonderheit gegen die früheste, Geschlecht-begründende eine juristische Verpflichtung an (und keineswegs eine bloße Gefühls-Verbindlichkeit: man dürfte diese letztere sogar nicht ohne Grund für die längste Dauer des menschlichen Geschlechts überhaupt in Abrede stellen). Hier herrscht die Überzeugung, daß das Geschlecht durchaus nur durch die Opfer und Leistungen der Vorfahren besteht – und daß man ihnen diese durch Opfer und Leistungen zurückzuzahlen hat: man erkennt somit eine Schuld an, die dadurch noch beständig anwächst, daß diese Ahnen in ihrer Fortexistenz als mächtige Geister nicht aufhören, dem Geschlechte neue Vorteile und Vorschüsse seitens ihrer Kraft zu gewähren. Umsonst etwa? Aber es gibt kein »Umsonst« für jene rohen und »seelenarmen« Zeitalter. Was kann man ihnen zurückgeben? Opfer (anfänglich zur Nahrung, im gröblichsten Verstande), Feste, Kapellen, Ehrenbezeigungen, vor allem Gehorsam – denn alle Bräuche sind, als Werke der Vorfahren, auch deren Satzungen und Befehle –: gibt man ihnen je genug? Dieser Verdacht bleibt übrig und wächst: von Zeit zu Zeit erzwingt er eine große Ablösung in Bausch und Bogen, irgend[829] etwas Ungeheures von Gegenzahlung an den »Gläubiger« (das berüchtigte Erstlingsopfer zum Beispiel, Blut, Menschenblut in jedem Falle). Die Furcht vor dem Ahnherrn und seiner Macht, das Bewußtsein von Schulden gegen ihn nimmt nach dieser Art von Logik notwendig genau in dem Maße zu, in dem die Macht des Geschlechts selbst zunimmt, in dem das Geschlecht selbst immer siegreicher, unabhängiger, geehrter, gefürchteter dasteht. Nicht etwa umgekehrt! Jeder Schritt zur Verkümmerung des Geschlechts, alle elenden Zufälle, alle Anzeichen von Entartung, von heraufkommender Auflösung vermindern vielmehr immer auch die Furcht vor dem Geiste seines Begründers und geben eine immer geringere Vorstellung von seiner Klugheit, Vorsorglichkeit und Macht-Gegenwart. Denkt man sich diese rohe Art Logik bis an ihr Ende gelangt: so müssen schließlich die Ahnherrn der mächtigsten Geschlechter durch die Phantasie der wachsenden Furcht selbst ins Ungeheure gewachsen und in das Dunkel einer göttlichen Unheimlichkeit und Unvorstellbarkeit zurückgeschoben worden sein – der Ahnherr wird zuletzt notwendig in einen Gott transfiguriert. Vielleicht ist hier selbst der Ursprung der Götter, ein Ursprung also aus der Furcht!... Und wem es nötig scheinen sollte hinzuzufügen: »aber auch aus der Pietät!« dürfte schwerlich damit für jene längste Zeit des Menschengeschlechts recht behalten, für seine Urzeit. Um so mehr freilich für die mittlere Zeit, in der die vornehmen Geschlechter sich herausbilden – als welche in der Tat ihren Urhebern, den Ahnherren (Heroen, Göttern) alle die Eigenschaften mit Zins zurückgegeben haben, die inzwischen in ihnen selbst offenbar geworden sind, die vornehmen Eigenschaften. Wir werden auf die Veradligung und Veredelung der Götter (die freilich durchaus nicht deren »Heiligung« ist) später noch einen Blick werfen: führen wir jetzt nur den Gang dieser ganzen Schuldbewußtseins-Entwicklung vorläufig zu Ende.


20

Das Bewußtsein, Schulden gegen die Gottheit zu haben, ist, wie die Geschichte lehrt, auch nach dem Niedergang der blutverwandtschaftlichen Organisationsform der »Gemeinschaft« keineswegs zum Abschluß gekommen; die Menschheit hat, in gleicher Weise, wie sie die[830] Begriffe »gut und schlecht« von dem Geschlechts-Adel (samt dessen psychologischem Grundhange, Rangordnungen anzusetzen) geerbt hat, mit der Erbschaft der Geschlechts- und Stammgottheiten auch die des Drucks von noch unbezahlten Schulden und des Verlangens nach Ablösung derselben hinzubekommen. (Den Übergang machen jene breiten Sklaven- und Hörigen-Bevölkerungen, welche sich an den Götter-Kultus ihrer Herren, sei es durch Zwang, sei es durch Unterwürfigkeit und mimicry, angepaßt haben: von ihnen aus fließt dann diese Erbschaft nach allen Seiten über.) Das Schuldgefühl gegen die Gottheit hat mehrere Jahrtausende nicht aufgehört zu wachsen, und zwar immerfort im gleichen Verhältnisse, wie der Gottesbegriff und das Gottesgefühl auf Erden gewachsen und in die Höhe getragen worden ist. (Die ganze Geschichte des ethnischen Kämpfens, Siegens, Sich-versöhnens, Sich-verschmelzens, alles was der endgültigen Rangordnung aller Volks-Elemente in jeder großen Rassen-Synthesis vorangeht, spiegelt sich in dem Genealogien-Wirrwarr ihrer Götter, in den Sagen von deren Kämpfen, Siegen und Versöhnungen ab; der Fortgang zu Universal-Reichen ist immer auch der Fortgang zu Universal-Gottheiten, der Despotismus mit seiner Überwältigung des unabhängigen Adels bahnt immer auch irgendwelchem Monotheismus den Weg.) Die Heraufkunft des christlichen Gottes, als des Maximal-Gottes, der bisher erreicht worden ist, hat deshalb auch das Maximum des Schuldgefühls auf Erden zur Erscheinung gebracht. Angenommen, daß wir nachgerade in die umgekehrte Bewegung eingetreten sind, so dürfte man mit keiner kleinen Wahrscheinlichkeit aus dem unaufhaltsamen Niedergang des Glaubens an den christlichen Gott ableiten, daß es jetzt bereits auch schon einen erheblichen Niedergang des menschlichen Schuldbewußtseins gäbe; ja die Aussicht ist nicht abzuweisen, daß der vollkommne und endgültige Sieg des Atheismus die Menschheit von diesem ganzen Gefühl, Schulden gegen ihren Anfang, ihre causa prima zu haben, lösen dürfte. Atheismus und eine Art zweiter Unschuld gehören zueinander. –

Quelle:
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 2, S. 814-831.
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