II.
Altstadt Magdeburg. Belagerung. Meine Verwilderung durch den Krieg und seine Folgen.

[28] Eine neue Welt that sich mir auf! So schloß ich meine erste Erzählung. Eine neue Welt, denn wir wohnten nun selbst in der für uns Neustädter Kinder mysteriösen Altstadt und – wir wohnten zur Miethe. Zwar unsere Wohnung war geräumig genug. Der obere Stock des Hauses zum goldenen A bot nach vorn hin den Anblick der großen Jakobikirche und ihres von einer Mauer im Quadrat umgebenen Friedhofes dar. Links zogen sich die Häusermassen der blauen Beilsstraße, rechts die des Thrönberges hin. Uns Kindern wurde eine Stube in einem hintern Seitenflügel angewiesen, neben welcher sich das Schlafzimmer der Eltern befand. Wir hatten von hier den mit einigen Nußbäumen geschmückten Hof vor uns, der zu den verschiedensten Zimmerarbeiten benutzt wurde und deshalb auch nach zwei Seiten hin mit großen Schuppen versehen war, Balken, Bretter und Arbeiter vor Nässe zu schützen.

Das war nun Alles recht gut: allein das Gefühl der Unbedingtheit des Schaltens und Waltens, das ein eigenes Haus gewährt, war dahin. Keine Veränderung konnte nun ohne den Willen des Vermiethers vorgenommen werden. Es entspannen sich Streitigkeiten wegen des Gesindes. Wir Kinder wußten nicht recht, wie weit wir unsere Berechtigung zum Spiel auf dem Hofe, auf dem Heuboden, im Pferdestall ausdehnen durften und gaben dem Hauswirth wegen unseres Benehmens zu mancher Beschwerde Veranlassung.

Für die Selbständigkeit der Familien wäre es wünschenswerth, daß jede ein eigenes Haus besäße. Nur in einem solchen werden Verbesserungen[29] gern und für die Dauer vorgenommen. Nur in einem solchen ist eine consequente Erziehung der Kinder möglich, weil fremdartige Einflüsse sich nicht so unberufen eindrängen können. Nur in einem solchen gewinnen die Zimmer und Oertlichkeiten eine bestimmte Physiognomie, weil die Eigenthümlichkeit der Bewohner Raum und Zeit hat, das Lokal mit sich zu durchdringen und weil eine Tradition der Vorfälligkeiten entsteht, wie sie mit dem Lokal verwachsen sind. Und so sollte auch zur Vollständigkeit des menschlichen Daseins jedes Haus etwas Natur, einen Hof und Garten haben; wenn keinen Garten, mindestens einen Hof mit einigem Rasen und einigen Bäumen, damit die Kinder sich darauf tummeln mögen, damit frische Luft geathmet und so manche größere wirthschaftliche Arbeit, namentlich das Waschen auf ebener Erde vorgenommen werden könnte; überhaupt damit auch Handarbeit mannichfaltigster Art möglich sei. Bei den conservativen Engländern herrscht bekanntlich dieser Sinn für eigene Häuslichkeit und ist gewiß nicht ohne Einfluß auf den gemüthvollen Untergrund, der ihre Sitte und ganze Literatur trägt. Jene großen, auf Speculation des Vermiethers erbauten Häuser unserer modernen Städte schichten bereits ihre Bewohner casernenartig zusammen und erzeugen im steten Wechsel der Ein- und Ausziehenden eine Art von flüchtiger und neuerungssüchtiger Wirthshausstimmung.

Wir wohnten also zur Miethe. Doch hatten wir noch die Ruine unseres Hauses in der Neustadt; denn es dauerte lange, bevor auch die Kellergewölbe und das Fundament ausgebrochen waren. Eine halbe Meile von der Stadt hatten wir einen Bauplatz angewiesen bekommen. Hierhin, wo die neue Neapolis erstehen sollte, wurden die Baumaterialien unseres abgerissenen Hauses gefahren. Der Vater miethete deshalb einen Mann, der sich eine Hütte erbaute, worin er zum Schutz der Baumaterialien wohnte, da natürlich die Lust zum Stehlen in jener Zeit noch größer als gewöhnlich war. Doch wurde aus Rücksicht auf das Amt des Vaters, das ihn an die Altstadt band, der Verkauf des Bauplatzes und der Materialien beschlossen. Es ist der Platz der jetzigen Apotheke der neuen Neustadt.

Da man uns Kinder den Winter von 1812 auf 1813 nicht zur Schule schickte, sondern nur zu Hause beschäftigte, so hatten wir zum[30] Hinausschweifen in die alte und neue Neustadt, wie zum Herumgaffen in der Altstadt viel Zeit übrig und wurden nicht müde, die Veränderungen zu verfolgen, die von Tag zu Tag Neues brachten. Im Frühjahr wurde auch der kleine Wald bei der Neustadt neben dem Vogelgesang, kurzweg der Busch geheißen, von den Franzosen niedergehauen. Auch dies war für uns ein ungeheures Schauspiel, denn dieser Wald hatte für uns Kinder eine solche Ewigkeit der Existenz gehabt, wie unser väterliches Haus, wie der Elbstrom, wie die Sterne. Wenn solch eine majestätische Eiche am Fuß fast durchgeschlagen war, wurden Stricke um die Aeste der Krone geschlungen und sie nach einer Seite hingerissen. Der krachende Sturz des Baumes fesselte mich nun zwar höchlich, schmerzte mich aber auch unsäglich. Wie oft hatten wir Kinder zur sommerlichen Zeit im Schatten dieser ehrwürdigen grünen Bäume geruht, gespielt, Eicheln gelesen, Kränze gewunden! Mit Fahnen und Trommeln waren die Schulen hierher zum jährlichen Schulfest gezogen. Den einzelnen Baum, der sich zu überleben anfing, fällen zu lassen, fanden wir in der Ordnung; allein einen ganzen Wald auf den Befehl eines fremden Volkes, nur wegen kommender Möglichkeiten vom Boden vertilgt zu sehen, das erschien uns fast noch barbarischer, als die Zertrümmerung unserer Häuser. Denn von diesen sahen wir wenigstens klärlich, daß sie dicht vor den Kanonen der Festung gestanden hatten und vermochten also die Nothwendigkeit ihrer Entfernung zu verstehen. Aber auch den schönen Busch und die zu ihm führende Allee zu zerstören, dünkte uns grausam. Wie kahl, wie prosaisch ist seitdem jene Gegend nach Rothensee, Bardeleben und Glindenberg zu geworden! Magdeburg liegt schon in einer äußerst unmalerischen, wenngleich sehr fetten Gegend; um wie viel nöthiger ist ihm Busch und Wald!

Dem Gräuel der Verwüstung hatte bisher noch die Kirche der Neustadt mit ihrem Thurme widerstanden, als die Franzosen im Sommer auch diesen in die Luft zu sprengen beschlossen. Dies Schauspiel anzusehen, waren Tausende von Menschen auf dem innersten und höchsten Wall der Altstadt, zwischen dem Krökenthor (d.h. Kerken- oder Kirchenthor) und dem Thor der hohen Pforte zusammengeströmt. In banger Erwartung stand ich mit meiner Schwester auf dem Balkon des Gartenhauses der Lhermet'schen Seidenstrumpfwirkerei. Immer noch wollten[31] wir an das schreckliche Attentat nicht glauben. Plötzlich ertönten drei Kanonenschüsse, die das Signal gaben. Wie bei einer Hinrichtung vor dem zuckenden Streich schwieg die Menge athemlos. Da mit einem Mal ein weißer Dampf, ein gelb-rother Blitz, eine nach allen Seiten geschleuderte Wolke von Steinen, ein fürchterlicher Krach. Man sah die schieferschwarze Spitze des Thurmes gehoben und dann seitwärts als einen dunklen Schatten im Pulverdampf stürzen. – Es war geschehen. Das Volk schrie auf; der Rauch verzog sich und man erblickte die zusammengesunkenen gewaltigen Trümmer, die noch viele Jahre hinterher unter dem Namen des Kirchberges dalagen.

Vor dem Sudenburger Thor, zwischen der Stadt und dem nahen freundlichen Dorfe Bukau, wurde das berühmte Lyceum, Kloster Bergen, auf dem die Concordienformel einst abgeschlossen worden, auf welchem Wieland seine Erziehung genossen, ebenfalls zerstört, und auch hier standen die Ruinen noch viele Jahre, bis sie geräumt und die Anlagen des heutigen Friedrich-Wilhelmsgartens dort begründet wurden.

Ein Act der Gewalt, der Zerstörung, der Auflösung der bisherigen Ordnung der Dinge folgte dem andern und riß seine Furchen durch die empfängliche Kinderseele. – Die Stadt mußte sich auf anderthalb Jahre verproviantiren. Wer sich nicht zu erhalten vermochte, durfte auswandern, was uns Kindern abermals eine ganz neue Erscheinung war. Wir hörten unsere Eltern von diesen und jenen uns näher stehenden Familien sprechen, wie dieselben, aller Anstrengung ungeachtet, sich doch nicht lange mehr würden halten können, bis wir es zu unserer Verwunderung wirklich erlebten, daß diese uns wohlbekannten Menschen eines Tages mit Tornistern und Säcken auf dem Rücken, mit Wanderstäben in der Hand, mit kleinen Handwagen, worin Betten und Kinder gefahren wurden, zum Thor hinauszogen, um nicht wiederzukommen.

So verschwanden vor meinen Augen die halbe Vorstadt, ein Wald, eine hohe Schule, eine Kirche, ganze Familien. War das nicht genug! Und doch sollte sich mir die gewohnte Anschauung des Lebens noch ganz anders verkehren und erschüttern: denn auch die Kirchen der Stadt, auch unsere wallonische, wurden mit wenigen Ausnahmen zu Heu- und Strohmagazinen, zur Aufbewahrung von Sätteln und Waffen, ja zu Viehställen verwendet. Dies letztere Schauspiel bot mir, so oft ich bis[32] zum Georgenplatz den langen Weg zur Schule wanderte, die Katharinenkirche am breiten Wege, und so jung ich war, so empfand ich doch hierüber einen unendlichen Schmerz. Ochsen und Schafe da, wo gläubige Menschen Trost und Erhebung durch die göttliche Gnade gefunden. Mist, stinkender Mist, und – als eine Seuche einriß – Aas und Verwesung da, wo die Andacht sonst Alles auf's Beste und Reinlichste geschmückt hatte. Ob überhaupt damals anderwärts Gottesdienst gehalten ward, entsinne ich mich nicht und weiß nur, daß Sonntags der Chor der Glocken sein himmelflehendes Gebet nicht mehr über die Stadt zu den Wolken emporsandte.

Und immer enger ward der Kreis gezogen, immer düsterer und verzagter wurden die Menschen. Alle Festlichkeiten hörten auf. Spaziergänge außerhalb der Stadt waren unmöglich, da der Blokadezustand eintrat und die Wälle die Stadt mit tyrannischem Zwang umklammerten. Man empfand das Gefühl einer großartigen Gefangenschaft. Die Lebensmittel wurden unendlich theuer und die lieben Eltern hatten ihre Noth, auf so viele Monate hinreichenden Vorrath von Mehl, Butter, Häringen, Käse, Syrup, Kartoffeln, Speck u.s.w. zusammen zu schaffen. Die Kost wurde einförmiger, geringhaltiger und genauer zugemessen. Jene Wundermänner, jene Favreau, hatten nach langem vergeblichen Sträuben ihr Haus auch mit dem Rücken ansehen müssen. Abraham ging nach Amerika. Dem Alten und Friedrich überließen meine Eltern einen Theil der vorderen Wohnung. Viele ihrer Sachen und Maschinen wurden auf unseren Bodenkammern aufgestellt. Durch solche Nähe verloren diese außerordentlichen Menschen nur wenig von ihrem Nimbus und wirkten für die Belebung unseres Hauswesens sehr anregend, zumal die kranke Mutter an Friedrichs wirklichen Talenten einen willkommenen Anhalt fand. Auch hier im Hause kam der Alte Nachmittags drei Uhr, wie immer, zum Kaffee; eine wohlthuende Unerschütterlichkeit der süßen Gewohnheit des Daseins.

Magdeburg befand sich in einer eigenthümlichen Lage. Die Heere der Alliirten zogen nach der Schlacht bei Leipzig immer weiter westwärts und ließen vor Magdeburg nur ein aus Russen und Preußen gemischtes Beobachtungscorps unter Tauenzien zurück. Die Franzosen aber waren Napoleon getreuer, als der General von Kleist 1806 dem[33] König von Preußen gewesen war. Sie schränkten sich auf's kärglichste ein, so daß einzelne Soldaten bei den Bürgern hungernd um Essen flehten. Krankheit raffte Viele hin. Frisches Pferdefleisch wurde gegessen. Es fehlte eigentlich, wie sich beim Abmarsch ergab, nicht an Vorräthen, weder an Mehl, noch an gesalzenem Fleisch; allein im Angesicht einer ungewissen Zukunft war man haushälterisch damit umgegangen. Von Zeit zu Zeit machte man Ausfälle in die Umgegend und kehrte zuweilen mit glücklicher Beute an Gemüse und Schlachtvieh aus den benachbarten Dörfern heim. Diese Gefechte verdünnten die Mannschaft der Franzosen und sie zogen daher zu Schanzarbeiten die Bürger ohne Ansehen der Person heran. Dennoch ergaben sie sich nicht und capitulirten erst, nachdem Napoleon im April 1814 abgedankt hatte, im Mai dieses Jahres. Die Magdeburger waren entschieden preußisch gesinnt und diese Gesinnung stärkte sich, seitdem man, wenn auch dunkel, von den Niederlagen des Weltkaisers hörte und nachdem so manche schlachtengraue Krieger als Invaliden aus Rußland zurückkamen, haarsträubende Dinge erzählten und allerlei Pretiosen verkauften, um sich nur rasch weiter nach Frankreich zu helfen. Die Philologen können für Leonidas' Thermopylentod und für die Schlacht bei Marathon nicht begeisterter sein, als wir es für Rostopschin's Selbstverbrennung Moskau's und für die Völkerschlacht bei Leipzig waren.

Monate lang schwebte die Stadt in todtenstiller Angst und heimlich verzehrender Unruhe. Bald hieß es – besonders nachdem einmal am Ulrichsthor im Hauptgraben eine Pulverremise in die Luft geflogen war – die Franzosen würden im äußersten Falle die Stadt in die Höhe sprengen, und vom Stern aus, einem der festesten Punkte am Sudenburger Thor, sei bereits ein Theil der Stadt unterminirt. Bald hieß es, die Verbündeten würden, wie zu Wittenberg, stürmen und die Stadt vielleicht unter den Kosaken und Baschkiren zum zweiten Male ein Geschick erdulden, das sie im dreißigjährigen Kriege unter Tilly's Panduren und Kroaten zu einem zweiten Troja gemacht hatte.

Fielen die Franzosen aus, so eilten wir auf den Boden, von dem aus wir uns weit umschauen konnten, und verfolgten mit dem Fernrohr die Bewegungen der Truppen so weit als möglich. Wir hörten oft das Knattern des Gewehrfeuers, den Donner des Geschützes; wir sahen[34] oft Häuser, Windmühlen, Dörfer brennen; ja im Winter, als die Verbündeten jenseits der Elbe bis in den Biederitzer Busch vordrangen, erblickten wir sogar einige Male Gefechte in ziemlicher Nähe bei der Stadt. Sehr lebhaft ist mir hieraus die Anschauung eines Kampfes um einen Kahn mit Heu zurückgeblieben, der, da das Gefecht unentschieden blieb und Keiner ihn dem Andern gönnte, von beiden Seiten her in Brand geschossen wurde. Diese Stunden mit ihrer eigenthümlichen Bangigkeit waren köstlich für uns Kinder. Wonneschauer durchrieselten uns, wenn Jemand in der Stube plötzlich aufhorchte, ob man nicht schon wieder schießen höre? Dann war kein Halten. Man stürzte auf den Boden und freute sich kindisch, wenn das Schießen sich der Stadt näherte, weil man dann wußte, daß die Franzosen geschlagen wurden und sich zurückziehen mußten. Wenn die Franzosen mit einigen Kanonen in verschiedenen Truppengattungen über den großen Anger sich hinzogen, den Biederitzer Busch nach Jerwisch zu vom Feind zu säubern; wenn zuerst in dem dunklen Hintergrunde des Gehölzes Alles still war, dann aber mit einem Male eine Salve hervorkrachte, hier ein Pferd, dort ein Mensch stürzte, nun besonders die von uns vergötterten Kosaken mit ihren Riesenspeeren auf kleinen Pferden pfeilschnell auf die Franzosen losstürmten und, nachdem sie mit großer Verwegenheit oft einzelne Soldaten niedergestochen, auch wohl mit ihren Pistolen niedergeschossen hatten, eben so schnell sich wieder zur Flucht wandten und im Waldesdickicht verschwanden – so waren wir vor Jubel außer uns.

Wenn ich sagte: die von uns vergötterten Kosaken, so ist das buchstäblich wahr. In der landläufigen Anschauung der heutigen Tage gilt der Kosak mit seiner Knute als der Repräsentant systematischer Barbarei und Verknechtung. Wie ganz anders damals! Der Russe war unser Kampfgenosse, unser Freund, und der Kosak die naturwüchsige Poesie des Krieges. Mit dem Wort: »Die Kosaken kommen!« schüchterte man die Franzosen ebenso ein, wie Kinder mit dem Ruf des schwarzen Mannes. Die von den Franzosen gefangen eingebrachten Russen wurden von der Bürgerschaft verpflegt. Wir mußten der Reihe nach für sie mitkochen und die Magd trug das Essen selbst nach dem Gefängniß. Alle Anstrengung wurde aufgeboten, gut und reichlich für[35] sie zu sorgen, namentlich ihnen ihr Lieblingsgericht, Kohl mit Speck, zu bereiten. Auf dem alten Markt, in den oberen Gemächern des alten Gildehauses waren ebenfalls russische Gefangene einquartiert, die sich oft am Fenster zeigten und denen die Schildwache es nachsah, wenn sie durch die Eisenstäbe an Bindfaden kleine Leinwandbeutel herabließen, die ihnen oft mit Eßwaaren gefüllt wurden, wofür sie sehr freundlich mit Kußfingern dankten. Dies Geschäft übernahmen auch wir Schulbuben, weil es uns schmeichelte, mit den Vaterlandsvertheidigern auf solche Art in unmittelbare Berührung zu kommen. Die beste Semmel, die beste Salzbrezel meines Frühstücks sparte ich gewiß für sie auf. Große Freude machte mir Cousin Friedrich, als er einst einem Franzosen einen Bogen und zwei buntbefiederte, eisenspitzige Rohrpfeile abgehandelt hatte und sie mir schenkte. Der Franzose hatte sie bei der Gefangennahme einiger Baschkiren erbeutet. Eine solche Waffe von einem wilden Volk, wofür die Baschkiren galten, zu besitzen, war für mich ein außerordentliches Ereigniß.

Unweit unserer Wohnung lag eine Kaserne, in welche die Sachsen einquartiert wurden, bis sie über eine Schiffbrücke zur Schlacht bei Mökkern abmarschierten. Diese Truppen wurden unendlich bedauert. Sie betrugen sich höchst artig und sangen Abends im Chor oft schwermüthige, oft aber auch lustige Lieder. Auch spielten sie theils auf dem Hofe der Kasernen, theils auf der Straße, zwischen dem Abendessen und dem Zapfenstreich, mit vielem Humor allerhand Spiele, wie »Jakob, wo bist Du?« u. dgl., woran wir Kinder uns höchlich ergötzten. Die Elasticität des menschlichen Geistes ist zum Glück unzerstörbar. Der einzelne Mensch kann geknickt werden, aber eine Familie, eine Corporation, eine Partei, ein Volk richtet sich immer wieder auf und schöpft Hoffnung auch aus einem Nichts. Instinktiv strebt die Natur nach Ausgleichung und durchbricht die Monotonie trister Zustände mit unterhaltenden Erfindungen. So hatte unser Nachbar zur Linken, ein Müller, einen Sohn, der das Domgymnasium besuchte und demnach schon eine höhere Cultur besaß. Dieser hatte sich mit anderen jungen Leuten zusammengethan, kleine Stücke aufzuführen und durch sie die Phantasie mit anderen Bildern, als den trübseligen der nächsten Gegenwart zu erfüllen. Ich hatte noch nie eine theatralische Darstellung gesehen und[36] war daher sehr erfreut, als ich mit meiner Schwester, da wir Nachbarskinder waren, auch eingeladen wurde. Die Bühne war beschränkt und ärmlich genug und anstatt der Stühle waren großentheils Mehlsäcke verwendet. Mit feinem Takt hatten die jungen Leute ein Stück gewählt, welches rührend und doch frei von aller schlechten Sentimentalität, unbefangen und doch patriotisch war. Sie führten Engel's Edelknaben auf. Ich enthalte mich der Ausmalung des gewaltigen Eindrucks, den dies erste Schauspiel, das ich sah, auf mich ebenso gut machte, als es damit jeder einigermaßen empfänglichen Natur zu gehen pflegt. –

Der letzte Tag des Jahres 1813 sollte für mein Gemüth unerwartet eine besondere Wichtigkeit bekommen. Der Vater hatte mich gegen Abend mitgenommen, Honigkuchen zu tragen, den er für die Feier des Sylvesters einkaufte, die unter den damaligen Umständen nur sehr spärlich und einsam erfolgen konnte. Man zog sich in's Innerste der Familien zurück und vertraute sich nur den nächsten Freunden an, denn man hatte nur Wünsche für die Preußen im Herzen und Gebete für sie auf den Lippen. Ganz ohne Feier sollte aber der Abend doch nicht hingehen, und würde der Kuchen auch nur durch Honigkuchen und der Punsch, da Citronen unendlich theuer waren, auch nur durch schwachen Grog repräsentiert. – Die Straßen waren ungewöhnlich menschenleer; kein Fahren, Laufen, Singen, wie sonst am Sylvester. Nirgends festlich erleuchtete Fenster, nirgends ein Ball. Düster und in sich gekehrt, schlichen einzelne Menschen über die Straße, durch die eine grimmige Kälte hinstrich. Der Himmel war trübe und der Vater stumm und mißgelaunt. So kamen wir wieder nach Hause und fanden schon die beiden Favreau in der Schlafstube der Eltern, in welcher, als der wärmsten im Hause, der Abend zugebracht werden sollte. Während nun der Tisch gedeckt ward, stand ich am Fenster, wischte den Schweiß von den Scheiben, blickte in den grauen, schneedunklen Himmel, brütete in unbestimmter Nachdenklichkeit und fühlte, so jung ich war, tief den grenzenlosen Druck, unter dem wir Alle, namentlich aber die Erwachsenen, schmachteten. Der Vater er zählte, wie öde er es auf den Straßen gefunden. Da entgegnete der gute Friedrich halb scherzend: »Ja, für uns Magdeburger ist jetzt die Welt mit Brettern vernagelt!«[37]

Diese Redensart fiel mir ungemein auf. Den Spott des Volkswitzes auf alle Bornirtheit merkte ich noch nicht darin. Ich hielt mich an die Vorstellung. Gelernt hatte ich bereits, daß die Welt ein unendlicher Raum sei, worin unendlich viele Sterne schwebten, aber gefühlt hatte ich diese Unendlichkeit noch nicht. Ich starrte in den Himmel hinaus, wie er sternlos einem großen Leichentuch glich. Ich stellte mir die Welt vor, wie sie weit, weit in's Unendliche hin sich ausdehnt. Ich machte nun das Experiment, irgendwo in ihr eine sinnliche Grenze zu ziehen. Umsonst! Das Experiment gelang nicht, denn hinter den Brettern war ja wieder ein Raum, hinter dem Ende wieder ein Anfang. Ich mußte mir gestehen, daß der Raum, wenn er einmal existirte, nur als unendlicher existiren könne. Diese Einsicht war mir gräßlich und der Abgrund des Universums klaffte mir wie ein Nichts entgegen. Ich erschrak heftig als über eine furchtbare Entdeckung, schwieg ganz still, war den Abend über unlustig und wiederholte insgeheim immer den Versuch, mir eine Grenze der Welt vorzustellen, mit demselben Erfolg der Unmöglichkeit. Die Wüste des unendlichen Raumes erfüllte mich mit kaltem Entsetzen. Hatte sich mir die Gebrechlichkeit unseres Daseins durch die Vorstellung eines immer und überall möglichen Erdbebens und die Verantwortlichkeit für unser Handeln durch die Vorstellung einer Hölle früherhin sehr lebhaft eingeprägt, so war doch hierbei die Phantasie sehr thätig gewesen, mir die Qual zu vergegenwärtigen, von aufgähnenden Erdspalten verschlungen, lebendig begraben, zermalmt, oder von Teufeln in einem Flammenpfuhl ewig gemartert zu werden. Bei dieser neuen Vorstellung aber, die mir, wie es Kindern so im Verkehr mit den Erwachsenen geschieht, aus einer unschuldigen Frage zufiel, die wohl nur unter den geschilderten Umständen so eigenthümlich zünden konnte, hatte die Phantasie nur wenig Stoff. Sie eilte von Stern zu Stern, von Raum zu Raum, und konnte damit nicht fertig werden, konnte es zu keiner Abschränkung bringen. Ich verstand noch nicht, was eigentlich in mir vorging; ich ahnte nicht, daß ich zu denken und der fleischlichen Sicherheit des gewöhnlichen unkritischen Bewußtseins mich zu entreißen angefangen hatte und besaß noch nicht einmal das Geschick, aussprechen zu können, was mir eigentlich vorschwebte. Ich verbrachte mehren Tage in einer gewissen Betroffenheit[38] und versuchte nur, meine Schwester aufmerksam zu machen, was für eine sonderbare Redensart Cousin Friedrich am Sylvesterabend gebraucht habe. –

Allein die Zeit war nicht dazu angethan, solchen Grübeleien nachzuhängen. Eingeengt in eine blokirte Festung, abgeschnitten vom Verkehr mit der übrigen Welt, in welcher, während uns der Alp eines eisernen Quietismus drückte, Schlacht auf Schlacht geschlagen wurde; umgeben von Kummer, Elend und Tod, nahmen die kleinsten Vorfälligkeiten unsere gespannte Theilnahme und Erwartung in Anspruch. Endlich am 24. Mai 1814 marschirten die Franzosen frühmorgens zum Sudenburger Thor mit klingendem Spiel ab, während fast gleichzeitig vom Krökenthor her die Verbündeten einrückten. Uns Kindern hatte der Vater in der Mitte des breiten Weges auf dem alten Accisegebäude ein Plätzchen zu sichern gewußt, von dem aus wir das interessante Schauspiel, das von schönem Wetter begünstigt war, bequem genießen konnten. Die erste und überraschendste Erscheinung war ein Kosakenhettmann, der in rother Nationaluniform mit Blitzesschnelle den breiten Weg heruntergaloppirt kam. Ihm folgten einige Regimenter regulärer Don'scher Kosaken in brauner Uniform, mit schwarzledernen, breiten, silberverzierten Gürteln, in denen sie schöne Pistolen stecken hatten. Sie standen mehr in den Steigbügeln, als daß sie saßen. Als Instrument diente ihnen das Tamburin, zu dessen Klängen sie Nationallieder sangen. Hurrah auf Hurrah jauchzte diesen eigenthümlichen und wirklich schönen Truppen entgegen und aus allen Fenstern wehten die Taschentücher der Damen. Es folgte russische Infanterie und Artillerie, bis der Ruf erscholl: »Die Preußen kommen!« Hatte ich nun auch schon Preußen als Gefangene und in der Ferne bei Gefechten gesehen, so war doch meine Erwartung auf's Höchste gespannt, weil ich sie nun in der Nähe und im Paradeanzug erblicken sollte. Hatte mein Vater doch selbst so lange im preußischen Heere gedient und hatte ich doch die Geschichte Friedrichs des Großen nicht blos so oft vernommen, sondern auch in vielen Bildern angeschaut, auf denen mir die gewaltigen Figuren der Grenadiere immer sehr wohl gefallen hatten. Diese martialischen Gestalten mit ihren zugeknöpften Gamaschen, ihren langen Schooßwesten, ihren breitschößigen Leibröcken,[39] mit ihren großen Patrontaschen, ihren dreieckigen Hüten oder Blechhauben sollten nun leibhaftig an mir vorübermarschiren. Wie wurde ich enttäuscht! Männer von gewöhnlichem Wuchs, zum Theil Jünglinge, im kurzen blauen, oft sehr abgeschabten Rock, der sogenannten Kutka, eine kleine blaue Tuchmütze auf dem Kopf, woran ein weißes Blechkreuz mit den Worten: »Mit Gott für König und Vaterland!« befestigt war – das waren die Preußen. Ich konnte mich erst nicht recht darein finden, hörte, daß dies Landwehrregimenter seien und hoffte also auf die Linie, von der aber nichts kam, als einige Artillerie und Husaren. Nach dem Vorbeimarsch der Truppen eilten wir auf den alten Markt, wo sich die Bürger zur Huldigung versammelten.

Der preußische Bevollmächtigte trat, vom Bürgermeister begleitet, auf den Balkon des schönen Rathhauses und las eine feierliche Ansprache des Königs von Preußen vor, welche durch den tausendstimmigen Schwur der Bürger mit erhobenen Händen beantwortet wurde – eine Scene, die mich im Innersten bewegte. Innigere Liebe, als von den Magdeburgern damals Preußens König entgegengebracht wurde, ist kaum denkbar.

Die Jahre 1814 bis 1816 verliefen in steter Aufregung. Die beiden Söhne unseres Wirthes, obwohl der eine erst sechszehn Jahre zählte, zogen als Freiwillige in's Feld, und ihre, wenn auch seltenen Briefe wurden vom ganzen Hause mit Andacht vernommen. Die freiwilligen Jäger nebst den schwarzen Husaren wurden die besonderen Lieblinge des Publikums, und Körner's »Leier und Schwert« wurde gleichsam das Gesangbuch der neuen Zeit. Das Lied: »Das Volk steht auf, der Sturm bricht los; wer legt noch die Hände feig in den Schooß?« war in Aller Munde. Ein Umschlag der öffentlichen Meinung aber ward mir unfaßlich. Carricaturen auf Napoleon füllten die Schaufenster der Kunsthändler. Bald ritt er auf einem Krebs nach Rußland; bald steckte sein Sohn, der König von Rom, in einem Tintenfaß; bald sah man ihn auf Elba eine Compagnie Ratten commandiren; bald brach er auf der obersten Stufe einer Leiter ein und verlor, rückwärts stürzend, eine Menge Kronen vom Haupte; bald floh er über eine Schneefläche zu Fuß in großen Reiterstiefeln mit einer langen Nase vor einem gemeinen Kosaken u.s.w.[40]

Diese oft sehr triviale Verspottung zog mich, als etwas Neues, zwar an, ließ aber einen Zweifel bei mir zurück. Napoleon, dieser große Krieger, dieser Halbgott, dem alle Fürsten Deutschlands gehuldigt und geschmeichelt hatten; Napoleon, vor dem ganz Europa, das stolze Albion nicht ausgenommen, gezittert hatte; Napoleon, dem wir Knaben selbst Vive l'Empereur! zugeschrieen hatten – er sollte mit einem Male nicht nur ein Tyrann, sondern auch ein Dummkopf, ein Wicht, ein Feigling sein? Er sollte nur ein politischer Charlatan gewesen sein? und doch hörte ich die Erwachsenen selber urtheilen, daß nur der strenge Winter eigentlich seine Armee vernichtet, nur York's Abfall ihn gelähmt habe. So sehr ich Preuße war, so ahnte ich doch in dem Spott über Napoleon, wie er beinahe modisch wurde, die in's Unwahre übertreibende, lang niedergehaltene, nun zurückschlagende Rache des Patriotismus. Doch kam man zu keiner ruhigen Besinnung und erschien sich als Unpatriot, wenn man nicht in den allgemeinen Haß einstimmte. Ich folgte dem Strom und suchte diesen Napoleon, dessentwillen das große Moskau in Feuer aufgegangen, dessentwillen in Leipzigs Ebenen die Völkerschlacht drei Tage lang geschlagen war, ebenfalls mit meinem jungen Herzen recht gründlich zu hassen.

Der Patriotismus war zur Religion geworden und nahm selbst kirchliche Gestalt an. Landwehrpiken, Kosakenlanzen, Offizierschärpen wurden in den Kirchen aufgestellt. Am 18. Oktober brannten zur Nacht Feuer auf den Hügeln, Tausende und wieder Tausende sangen: »Heil Dir im Siegerkranz!« und sämmtliche Glocken der Stadt wurden dazu geläutet. Als Napoleon 1815 von Elba wieder losgebrochen war, wurde in der Jakobikirche, an welcher wir wohnten, von den ehrwürdigen Pfarrern Treuding und Breitung jeden Abend Betstunden gehalten, für das Glück unserer Waffen den Segen des Himmels zu erflehen und Trost in die Herzen Derer zu gießen, die Söhne, Brüder oder Gatten draußen im Felde stehen hatten. Diese Abendgottesdienste waren mir wieder etwas Neues und ich besuchte sie eifrig. Die Verklärung der Kirche durch das Licht der Abendsonne war oft wunderschön. Rosig glänzten die Pfeiler von der einen Seite, während von der andern schwarze Schlagschatten sich entfalteten, die dann mehr und mehr sich abdämpften. Nie schien mir die Orgel so süß, so wehmüthig,[41] so überirdisch geklungen zu haben. Die Andacht der Menschen war echt und das Gebet ein wirklich einmüthiges. Beim Schluß-Vaterunser vermochte die Stimme des selbst bewegten Geistlichen das Schluchzen der Frauen und Mädchen oft kaum zu übertönen.

Damals waren die Deutschen wirklich auf dem Wege, sich als eine Nation zu fühlen. Kein Opfer war zu groß, das nicht die Einzelnen an Arbeit, an Geld, an Gut und Blut brachten. Alle Reflexion in dieser Hinsicht hatte aufgehört; der Egoismus war einen Augenblick vernichtet. Die Fürsten konnten lernen, wie gern die Völker für sie kämpfen, wenn sie nur das Bewußtsein haben dürfen, daß auch die Fürsten das Interesse ihrer Völker zu ihrem eigenen machen. –

Daß in einer so bewegten Zeit ein lebhafter Knabe wenig im Hause zu halten war, zumal die Mutter größtentheils krank lag und der Vater draußen auf seinem Bureau sich befand, wird man begreiflich finden. Es war zu reizend, bei Allem dabei zu sein. Da wurden dem alten Blücher die Pferde ausgespannt, ihn nach dem Hôtel »zur Stadt London« hinzuziehen; da passirten Kalmucken oder muhamedanische Baschkiren die Stadt; da gab es wegen irgend einer militärischen oder fürstlichen Notabilität einen großen Zapfenstreich; da ward ein Te deum gefeiert; da ward Fort Scharnhorst, eine von den Franzosen angelegte, von den Preußen fertig gemauerte Redoute am Sudenburger Thor, mit einer prachtvoll anzuschauenden Scheinvertheidigung eingeweiht; da brannte man im Herrenkrug am 3. August, als am Geburtstage des geliebten Königs, ein großes Feuerwerk ab, und so ging es fort, von Aufregung zu Aufregung.

So sehr nun meine Knabenseele in der lebhaften Theilnahme an all' diesen Vorgängen sich ausweitete, so darf ich doch nicht verschweigen, daß ich in dieser glorreichen Periode auch sehr verwilderte. Das Herumlaufen und Herumlungern auf den Straßen und Plätzen, das zufällige Zusammentreffen mit fremden Knaben, die Lust an allem Geräuschvollen und Massenhaften, die Anschauung gar mancher Rohheiten und Gewaltsamkeiten blieb nicht ohne üble Einwirkung auf meine Sitten. Unter den Knaben, die in der Nähe unseres Hauses wohnten, fand ich leider keinen, der mir durch Bildung überlegen gewesen wäre. Mit besonderer Leidenschaftlichkeit trieben wir das Exerciren und Ballspiel,[42] wozu der Kirchhof uns einen bequemen Raum bot. Längere Zeit zogen wir auch nach der Neustadt hinaus, wo uns die Ruinen des Nonnenklosters und der Kirche den Schauplatz zu großartigen Schlägereien lieferten, die endlich von der Polizei mit Gewalt unterdrückt werden mußten. Die im stehen gebliebenen Theil der Neustadt lebende Jugend hielt sich nämlich für die rechtmäßigen Besitzer jener Trümmer und uns Stadtknaben für Usurpatoren. Sie fing daher an, die Ruinen zu besetzen und uns das Spielen von Räuber und Gensd'arm u. dgl. zu verbieten. Wir wollten uns das nicht gefallen lassen, weil die Ruinen, da wir keinen Stein entwendeten, uns ein ebenso gemeinsames Eigenthum zu sein schienen, als der Boden der Landstraße. Da nun so viele meiner Verwandten, ja meine Eltern selbst Grund und Boden in der Neustadt besessen hatten, so dünkte es mich erst recht eine Anmaßung der Zurückgebliebenen, uns vom Spiel auf diesen Plätzen auszuschließen, und ich warb daher immer mehr zum Auszug gegen die alten Neustädter, der in einer gewissen Regelmäßigkeit am Sonntag Nachmittag mit Stöcken, Schleudern u. dgl. stattfand. Längere Zeit hatte man mit unserem tumultuarischen Gebahren viel Nachsicht, bis eines Tages einem Lehrburschen durch einen Steinwurf der Arm zerschmettert, einem Schüler die Nase zerschlagen wurde und nun die Wache von der hohen Pforte zur Gefangennahme der Tumultuanten vorrückte. Ich entkam zeitig und glücklich durch das Krökenthor, während viele Andere sich im Weidicht am Elbufer versteckten, die Neustädter aber eiligst in ihre Häuser flohen. – Ich muß bemerken, daß in einer kriegerisch so aufgeregten Zeit Manches nicht auffiel, was im tiefen und gewohnten Frieden strenger Ueberwachung nicht entgeht. Pulver z.B. wußten wir uns stets zu verschaffen, wandten es aber meist nur zu kleinen künstlichen Vulkanen an, die wir mit Branntwein einfeuchteten, mit Eisenfeilspänen ausstatteten, auf Brettern in den Gärten losbrannten und die wir »Zündskerle« zu nennen pflegten. Da aus der Werkstatt des Großvaters Ziehbanken, Ziehmesser, Hobel, Meißel und Bohrer in meinen Händen waren, so fertigte ich besonders an, was wir von Armbrüsten, hölzernen Dolchen u. dgl. brauchten. Ganz ruchlos aber benahmen wir uns auf den Klosterruinen. Hier fanden wir viele Schädel und Gebeine, da der ganze Kirchhof umgewühlt[43] und – wie wir selbst beim Ausgraben gesehen hatten – den Gerippen die etwaigen Ringe, Ohrgehänge, Perlenschnüre etc. von den Franzosen entrissen waren. Mit diesen Gebeinen nun prügelten wir, mit den Todenköpfen warfen wir uns; ja wenn der Frost die Elbe mit Eis überdeckte, fanden wir ein absonderliches Vergnügen daran, mit den Todtenköpfen zu kugeln, so daß sie mit hohlem Schall auf der Eisfläche dahinkollerten.

Während dieser durch den Krieg und den patriotischen Enthusiasmus so sehr beunruhigten Zeit blieb meine Bildung in der regelmäßigen Erwerbung von Fertigkeiten und Kenntnissen außerordentlich zurück. Die französische Kantorschule, die ich besuchte, war nicht sonderlich und voll des ärgsten Unfugs. Zwei große Zimmer neben einander, von denen das eine nach der Straße, das andere nach dem Hofe zu ging. Zwischen beiden war eine Verbindungsthür ausgehoben, an ihre Stelle ein Katheder gesetzt und über diesem ein Schieber befestigt, den der Lehrer aufziehen konnte. Im vorderen Zimmer befanden sich die Mädchen, im hinteren die Knaben. Sollten die Classen combinirt werden, was mit Ausnahme des Unterrichts zu Nachmittag in weiblichen Handarbeiten, Vormittag beständig der Fall war, so wurde der sinnreiche Schieber aufgezogen, im Gegenfall und in den Zwischenviertelstunden heruntergelassen. Man kann sich leicht denken, welch' unwiderstehlichen Reiz es für beide Geschlechter hatte, Beziehungen durch den Schieber hin anzuknüpfen, Löcher in den Schieber zu bohren, ihn selbst in die Höhe zu ziehen, die Lehrer zu parodiren, wie sie von dieser Wetterscheide aus nach rechts und links donnerten und tausenderlei Narrenspossen zu treiben, die sich bei den älteren Zöglingen auch in Liebeleien verloren. Der Unterricht lief in seiner Spitze lediglich auf das Französische hinaus, das erlernen zu müssen wir Deutsche uns einmal zum aromatischen Vorurtheil gemacht haben. Alle übrigen Unterrichtszweige waren unter aller Kritik. Die Geographie z.B., eine der angenehmsten Wissenschaften, die sich denken läßt, wurde uns auf das Aeußerste verhaßt gemacht, weil man das Unwesentliche zum Wesentlichen erhob. Es wurde nur politische Geographie gelehrt. Jede Beschreibung eines Landes fing mit den Quadratmeilen des Flächeninhaltes und mit abstracter Herzählung der Grenzen an. Dann folgten trockene Angaben[44] der Gebirge und Flüsse ohne alle Veranschaulichung und ein Durcheinander von Produkten, von denen man sich nur die Südfrüchte gern einprägte; endlich ein Katalog von Städtenamen mit Hinzufügung ihrer Einwohnerzahl; diese war uns natürlich sehr gleichgültig, aber sie gerade wurde unerbittlich abgefragt, während wir von merkwürdigen Einrichtungen und Gebäuden der Städte nichts erfuhren; nur daß eine Stadt auch Festung war, schärfte man mit Nachdruck ein. Ein Glück war noch, daß als Haupt-Lesebuch die französische Bearbeitung des Campe'schen Robinson Crusoe gehalten wurde, der meiner Phantasie die willkommenste Nahrung bot und ihr zuerst den transatlantischen Zug einimpfte, den wir Europäer in unserem Jahrhundert wohl mehr oder weniger alle fühlen. Ich faßte von hier ab eine Vorliebe für alle Fortsetzungen und Nachahmungen des Robinson, unter denen mir der schweizerische Robinson am besten gefallen hat. Auch die Insel Felsenburg lernte ich schon damals durch einen Mitschüler, der sie besaß, kennen, und verschlang sie, trotz ihrer breiten Schreibart, mit heißer Begier, wenn ich auch in den Lebensbeschreibungen ihrer Helden Vieles noch nicht verstand.

Doch Alles im Leben hat seinen Höhepunkt, und so sollte auch die Verwilderung, in die ich gerathen war, ein Ende mit Schrecken nehmen. – Vom Kutscher unseres Wirthes hatte ich Binsenruthen geschenkt bekommen und saß damit an einem Spätnachmittage auf der Bank vor dem Hause, die Blätter von ihnen abzustreifen und sie zu recht schwippen Gerten zu gestalten. Da kam der Sohn eines Strumpfwirkers aus der Nachbarschaft, Louis L., und bat mich um eine der schönen Weidenruthen. Ich schlug ihm seine Bitte ab. Er bat noch einmal. Ich blieb bei meiner Weigerung. Nun drohte er. Ich spottete und verlachte seine Reden und Geberden. Nun griff er nach den Ruthen. Ich schlug ihn. Da mit einem Male hatte er doch eine erwischt und lief damit fort. Voller Wuth, eine Gerte in der Hand schwingend, stürze ich ihm nach. Endlich gelingt es mir, ihn an der Kirchhofsmauer zum Stehen zu bringen. Zornschnaubend, nur durch den Rinnstein getrennt, blicken wir uns an. Ich drohe, ihm meine Gerte um den Kopf zu schlagen, wenn er nicht sofort die geraubte zurückgäbe. Er hebt die Weide zum Schlag gegen mich. Außer mir, vollführe[45] ich den gedrohten Hieb, und zwar mit solcher Heftigkeit, daß die glatte Ruthe sogleich meiner Hand entgleitet.

Da – welch ein Anblick für mich! – da läßt er plötzlich aus der gehobenen Hand die Gerte fallen, bedeckt sich mit beiden Händen die Augen, stößt einen furchtbaren, mich zermalmenden Schrei aus und wankt auf mich los. Ich pralle zurück. Er taumelt mir nach. Ich sehe Blut fließen. Da, bei der Bank, dicht am Laternenpfahl, hebt er die Hand vom rechten Auge und brüllt: »Du hast mir das Auge ausgeschlagen!« Schaudernd sah ich, wie eine trübe, blutige Masse da hervorquoll, wo sonst der Stern seines Auges geschimmert hatte, und noch jetzt, nach so vielen Jahren, schreibe ich diese Worte nicht ohne Entsetzen.

Aber damals! Ein Kainsgefühl kam über mich. Mein nächster Gedanke war nicht, dem Unglücklichen zu helfen, sondern recht egoistisch und recht kindisch, zu fliehen und mich zu verbergen. Doch wohin? Ich stürze in das Haus, eile über den Hof, wo gerade Niemand von den Zimmerleuten arbeitet, krieche in den dicksten Haufen der Stangen, Karren und Fässer, die auf der rechten Seite des hinteren Schuppens in buntem Gewirr standen, und wühle mich unter die Hobelspäne, die hier mehrere Fuß hoch lagen. In diesem Versteck, das mir wie eine Art von freiwilligem Begräbniß vorkam, lag ich in gräßlicher Angst, bald mich anklagend, bald mich entschuldigend.

Mit gespanntem Ohr, in meiner Gruft, von Angstschweiß gebadet, lauschte ich auf alle Vorgänge im Hause. Ich hörte den Zusammenlauf und das Geschrei der Menschen. Ich hörte, wie die klingelnde Hausthür geöffnet ward, wie man nach einem Napf mit Wasser, nach einem Leinentuche zum vorläufigen Verbinden des Auges rief. Ich hörte, wie man den Unglücklichen in seine nahe Behausung abführte und wie man mich beschrieb, wie man meine Nankinghosen, meine blaue Berkanjacke, meine blanken Messingknöpfe, meinen weißen Ueberklappkragen als Kennzeichen des Thäters angab. Ich hörte meinen Namen rufen, hörte auch, wie die Suchenden zuweilen an meinem Versteck vorüberschritten. Ich lag still, von unendlichen Qualen gefoltert. Ich fühlte mich in jener Hölle, vor welcher mein sanfter Jakob sich immer so sehr gefürchtet hatte.[46]

Die arme Mutter lag krank im Bett und der Vater war nicht zu Hause. Aber der Vater des Knaben erschien nun, und ich vernahm seine laut klagende Stimme aus dem Schlafzimmer der Eltern, denn die Mutter hatte seinen Besuch annehmen müssen. Unterdessen kam auch mein Vater, und nun stieg meine Verzweiflung. Kinder haben schon eine gewisse psychologische Berechnung. Ich wollte gewiß nur nicht bei der ersten Entdeckung, bei der ersten Mittheilung gegenwärtig sein. Ich wollte mich selbst erst vermissen, bei der zärtlichen Mutter vielleicht Sorge um den Vermißten entstehen und den Schreck und Zorn des Vaters sich mäßigen lassen. Doch interpretire ich dies jetzt in mein damaliges Betragen hinein, während ich damals zu gar keinem deutlichen Bewußtsein kam, sondern in dumpfer Angst hinbrütete. – Endlich aber, als es ganz dunkel ward und ich wohl schon an vier Stunden in meinem Versteck zugebracht hatte, kam meine Schwester mit Nanni Lhermet (später die Gattin des Kunsthändlers Sachse in Berlin), einer Verwandten und Gespielin von uns, die eine große Macht über mich hatte meine Wildheit mit einem Blick besänftigen konnte. Sie riefen meinen Namen so klagend, sie stöberten überall so mitfühlend umher, daß ich endlich mich zu verrathen beschloß. Sie bedauerten mich liebevoll, halfen mich reinigen und riethen mir, nur ohne Weiteres zum Vater zu gehen, denn – Prügel würd' ich doch und Abendessen nicht bekommen.

Und so geschah es auch. Die Eltern aber mußten für den Unglücklichen einen Arzt annehmen und, so lange die Behandlung dauerte, das Mittagsessen schicken. – Mit Zittern macht' ich mich am folgenden Tage auf, den Kranken zu besuchen, der mir gar nicht grollte und – auch seiner Schuld sich bewußt – mir die Hand reichte.

In Folge des Schreckens und wohl auch der Vergrabung unter den Hobelspänen wurde ich bald nach diesem Vorfall krank. Das Fieber schlug in eine Hautkrankheit, ich glaube den Scharlach, aus. Ich war bis dahin noch niemals krank gewesen, und Bett und Stube zu hüten, zumal in noch schöner Jahreszeit, war mir daher ein sehr ungewohnter Zustand, während dessen ich denn recht in mich ging, meine Heftigkeit und Habgier verwünschte, mich über den armen Louis erst gar nicht trösten konnte und die besten Vorsätze zu einem gegen alle Menschen[47] sanften, liebreichen und zuvorkommenden Betragen faßte; ernstlich gemeinte Vorsätze, die aber natürlich, sobald ich wieder gesund war, oft genug gebrochen wurden. Meine Lebhaftigkeit riß mich immer wieder zu den tollsten Ausgelassenheiten hin.

Hatte mich die schlechte Schule innerlich, die unruhige Zeit äußerlich verwildert, so bedurfte ich zur Rettung des Besseren in mir einer Hülfe. Und diese blieb auch nicht aus, denn dem redlich Strebenden sind die Götter hold.

Quelle:
Rosenkranz, Karl: Von Magdeburg bis Königsberg. Leipzig 1878, S. 28-48.
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