III.
Errettung des höheren Sinnes in mir durch die Eindrücke der bildenden Kunst.

[48] Habe ich im ersten Abschnitt dieser Erzählung eine idyllische, mit phantastisch anregenden Elementen versetzte Kindheit, und im zweiten die Verwilderung geschildert, welche der Belagerungszustand Magdeburgs mit seinen Folgen in mir hervorbrachte, so will ich jetzt eine Reihe von wohlthätigen Wirkungen anführen, die ich hauptsächlich der bildenden Kunst verdankte.

Während ich mich, fortgerissen von den Unruhen der Epoche, in den Straßen der Altstadt umhertrieb, bot sie selber zunächst mir eine Beschäftigung dar. In der heiteren Vorstadt war der Uebergang von der Stadt selbst frei und unmerklich gewesen, in der Altstadt dagegen fühlte ich mich von dem Harnisch der Festung umhüllt, deren »Werke«, wie man in Magdeburg par excellence sagt, sich zwischen Häuser und Feld wie ein künstliches Gebirge hinlagern. Die Altstadt Magdeburg bildet im Großen ein ungefähres Parallelogramm, das nach Süden, Westen und Norden von den Basteien der Festung, nach Osten von dem Elbstrom umschlossen wird, nach welchem hin die Ufer ziemlich steil abfallen und am Jakobs-, Peters-und Johannisföder Einschnitte haben. Im Elbstrom selbst liegen zwei langgedehnte, aus der Verwachsung[48] mehrerer Sanddünen entstandene Inseln, deren schmälere in ihrer Mitte die berühmte Citadelle trägt, welche mit ihren Kanonen den Fluß und die gegenüberliegende Stadt beherrscht, und die Gefängnisse der Baugefangenen und der Staatsgefangenen in sich schließt. Südlich von der Citadelle streckt sich der sogenannte Horn, nördlich der sogenannte Werder hin. Auf ersterem befinden sich vorzüglich Bleichen und Schießplätze, auf letzterem Kaffeegärten mit anmuthigen Baumgängen.

Die Stadt selbst läßt sich daher bequem übersehen. Eine einzige lange Straße, der sogenannte breite Weg, zieht sich durch sie von Norden nach Süden hin. Von dieser Mitte laufen die Querstraßen einerseits westlich auf die Festungswerke, andererseits östlich auf den Elbstrom zu. Zwei große Plätze, der alte Markt in der Mitte, der neue am Südrande der Stadt, sowie große, in alle Stadtviertel vertheilte Kirchen erleichtern die Orientirung.

Magdeburg gehört zu den Städten, die ihre gegenwärtige Physiognomie aus einer weitgreifenden Zerstörung ableiten müssen. Wie London durch seine Riesenfeuersbrunst 1666 sein Mittelalter nur auf wenige Reste zusammengedrängt und sich daher in der Architektur einen ganz modernen Charakter geschaffen hat, so ist auch Magdeburg in seiner Außenseite bis auf die Kirchen vom Mittelalter losgerissen. Allein auch selbst die Kirchen sind großentheils, weil sie viel gelitten hatten, modernisirt, und nur der Dom, wenn auch von der Süd- und Westseite stark zerschossen, in seiner Gesammtheit mittelalterlich geblieben. Die Pfeiler und Thürme eines solchen Steingiganten ragen als ein steter Protest gegen die Gemeinheit banausischer Gesinnung gen Himmel und flößen auch dem geringsten Bewohner der Stadt ein gewisses ideales Selbstgefühl ein. Der Magdeburger Dom wird von den Aesthetikern nicht gerade bevorzugt, besitzt aber die seltene Eigenschaft, eine Einheit des Plans und diese Einheit ziemlich fertig darzustellen.

Die Begründung des Doms geht bis auf Kaiser Otto I. zurück, welcher erste Bau aber, zum Theil aus Holz, 963 niederbrannte. Der jetzige Bau wurde 1208 vom Bischof Adelbert unternommen und durch den Werkmeister Bonsack von der Chorseite her angefangen, jedoch in der Hauptsache erst 1363 vollendet. Seine Grundform ist ein lateinisches Kreuz, welches in der Länge fünf, in den Armen desselben drei[49] Einheiten enthält. Auf jeder Seite des Schiffs stehen daher fünf schlanke Pfeiler, so wie auch der Schluß des Chores fünf Seiten und an jeder Seite eine Kapelle hat. In der mittleren Kapelle befindet sich das Grabmal Editha's, der Gemahlin Otto's I., einer englischen Prinzessin. Die dem Chor gegenüberliegende Vorhalle zwischen den beiden Thürmen ließ der Erzbischof Ernst von Sachsen 1493 zu seiner Grabkapelle einrichten, so daß beide Monumente gewissermaßen Anfang und Ende des Baues darstellen, denn die Grabkapelle des Bischofs sperrte den Zugang in die Kirche von der großen, reich verzierten Thorpforte her, so daß eine Seitenpforte dafür geöffnet ward, die letzte wesentliche, an dem Bau vorgenommene Veränderung. Einen andern Ersatz für jene Beschränkung gab Ernst von Sachsen auch dadurch, daß er sein Monument von Vischer in Nürnberg ausführen ließ. Vom Schiff der Kirche ist dasselbe durch ein großes Eisengitter abgesperrt, das – wenigstens so lange ich in Magdeburg war – eigens geöffnet werden mußte, eine Umständlichkeit, die vielleicht dazu beigetragen hat, dies Grabmal nicht so bekannt werden zu lassen, als das ähnliche des heiligen Sebaldus in Nürnberg. Unstreitig steht dies als Kunstwerk noch höher, denn es ist freier, weicher, idealischer gehalten, und die Apostelgestalten daran sind bis zu einer unübertrefflichen Charakteristik herausgearbeitet, während das Magdeburger Monument noch den zwar markigen, aber auch schrofferen und eckigeren Typus der Krafft'schen Schule an sich trägt. Nichtsdestoweniger bleibt es ein vorzügliches Werk, das anzuschauen mir stets hohen Genuß gewährte und dessen genauer eingehende Vergleichung mit dem Nürnberger sehr interessant und lehrreich sein müßte. Da der Magdeburger Dom noch viele andere Denkmale aus Stein oder Metall, oft in Verbindung mit Gemälden, enthält, so konnte selbst meiner noch ungeschulten Phantasie der große Unterschied ihrer Behandlung von der idealen Bedeutendheit der Vischer'schen nicht entgehen.

Der Magdeburger Dom hat noch einige Eigenthümlichkeiten, die ihn bemerkenswerth machen. Ich will absehen von dem Reichthum, den das nordwärts gelegene Seitenschiff mit seiner Gallerie und seinem Spitzgiebeln entfaltet; ich will absehen von der freien Umgebung eines großen Platzes, der die Auffassung des Baues begünstigt und der so[50] vielen Kathedralen mangelt; ich will absehen von dem imposanten Schauspiel, welches der Dom von der Chorseite her darbietet, wenn man dieselbe über Gärten und Häuser hinweg von der Höhe des Fürstenwalles aus anschaut; ich will absehen von dem schönen Kreuzgang, der sich unmittelbar an die Südseite anschließt; ich will nur auf den Umstand aufmerksam machen, daß dieser Dom wenigstens zwei vollständig ausgebaute Thürme besitzt. Zwei kleinere Thürme auf der Ostseite, wo Chor und Schiff sich schneiden, sind nicht vollständig zu Ende geführt, die Thürme auf der Abendseite dagegen in einer Höhe von beinahe viertehalbhundert Fuß (die bestimmte Zahl ist mir entfallen). Die Thürme, welche das Atrium zwischen sich einschließen, bestehen aus einem dreigliedrigen Parallelepipedon, worauf ein Polygon gesetzt ist, das von einer Pyramide beschlossen wird, die in einen breiten Blumenkelch ausläuft. Die Verhältnisse dieser Thürme sind nicht so kühn, wie die mancher anderen, es fehlt ihnen eine gewisse ätherische Leichtigkeit, jene zierliche, blumendurchwirkte Wipfelung, die wir anderwärts bewundern müssen. Dennoch sind die Formen edel und in ihrer Beziehung zur Totalität des Gebäudes vom schönsten Ebenmaß. Die Mehrzahl der Kirchen in Deutschland hat nur einen Thurm fertig gebaut, wovon der Straßburger Münster das bekannteste Beispiel ist; oder die Thürme sind oft nur bis zur gleichen Höhe mit dem Dach des Mittelschiffs fortgeführt und dann oft mit architektonisch-heterogenen Kappenaufsätzen nur äußerlich beendet, während der Magdeburger Dom ein Vollbild der Großartigkeit solcher Thurmbauten gewährt. Das Dach des Atriums geht bis dahin, wo der viereckte Stamm der Thürme abschließt. Im Glühen des Sonnenuntergangs, wenn die Fenster des Atriums in Purpurflammen brennen und der braune Pirnaer Sandstein, in welchem der Bau ausgeführt ist, mit schönen Tinten gegen das Himmelblau absticht, bieten die Thürme einen prächtigen Anblick dar, wogegen die Langseite ihren schönsten Effect im Mondlicht zeigt.

Magdeburg ist nicht, wie die Rhein- und Donaustädte, aus einem römischen Lagerplatz hervorgegangen. Es reicht mit seiner Entstehung noch in unmittelbar deutsche Zustände und ist aus einem Fischerdorf zu einer großen Handelsstadt erwachsen. Die Ottonenzeit ist die Zeit seiner wahren Begründung, ihr folgt die kriegerische Zeit des Kampfes[51] der Magdeburger Bischöfe mit den Brandenburgischen Markgrafen und Bischöfen; es folgt die Zeit der Reformation, die an Magdeburg eine lebhafte Unterstützung fand und seine Zerstörung im dreißigjährigen Kriege zur Folge hatte. Es folgt die Einverleibung des Herzogthums Magdeburg in die preußische Monarchie. Alle diese Zustände haben an dem Dom, an seinem Bau im Großen, wie an seinen Denkmalen, Beschädigungen und Restaurationen im Einzelnen sich reflectirt. Seine Thürme beherrschen die große fruchtbare Ebene der langen Börde, wo die Longobarden ihren Ursitz gehabt haben sollen. Für dies Bauwerk nun habe ich in meiner Jugend geschwärmt und dasselbe von Außen und Innen oftmals liebevoll betrachtet, wenngleich ich erst in viel späteren Jahren zu einer begründeten Einsicht in die Stellung gelangte, die es in der Geschichte der deutschen Baukunst einnimmt, indem es von dem Chor ab, der seinen Kapellengürtel noch durch einen schönen Umgang absondert, bis zu den Thürmen hin, den Uebergang vom romanischen Styl zum germanischen darstellt und in der Ornamentik byzantinische und deutsche Formen selbst mit antiken mischt. Von den Eltern wurde zwar als Regel angenommen, daß ich Sonntags in unsere wallonisch-reformirte Kirche ging, doch hatten sie auch nichts dawider, wenn ich von Zeit zu Zeit auch andere Kirchen besuchte; ja der Vater selbst nahm mich zuweilen in den Dom mit, weil er zur Abwechselung die philosophische Manier in den Predigten des Consistorialraths Koch, der sich durch eine Schrift über den Magdeburger Dom und eine solche über das Schachspiel auch literarisch bekannt gemacht hat, sowie dem pomphaften Vortrag des Bischofs Westermeier gern hörte. Da ging ich denn vor Allem gern in den Dom und hing mit träumerischen Blicken, mit romantisch angehauchten Gefühlen an seinen Schwibbogen und Fenstern, Statuen und Bildern, Fahnen und Waffen.

Während meines unruhigen Umhertreibens beschäftigte mich auch die Individualität der Straßen. Es liegt in der Jugend ein poetischer Trieb, der mir selbst die verschiedenen Wochentage gleichsam personificirte, so daß mir z.B. der Montag nicht blos Zeit, sondern ein ganz apartes Wesen war, und ich aus solcher Anschauung heraus auch zu jedem Tage eine andere Stimmung mitbrachte. Die Woche war mir vom Montag bis Sonntag ein gegliedertes Ganze, das seine totale[52] Färbung für mich durch das jedesmalige Sonntags-Evangelium des Kirchenjahres empfing. Und so war mir denn auch jede Straße gewissermaßen ein anderes Individuum. Die eine, von hochgethürmten Häusern besetzt, erschien so düster, wie ein grämlicher, schweigsamer Alter; die andere, von bunten, fensterhellen Häusern gebildet, erschien so heiter, wie eine liebliche Kokette. Gewiß wirkten auch die Namen der Straßen auf die Phantasie; allein die Hauptsache blieb doch der wirkliche Eindruck, den die Straße nach ihrer Lage und Bauart und nach der Beschaffenheit ihrer Bevölkerung auf mich machte und den ich selbst auf einen gewissen specifischen Duft jeder Straße, sowie ich nur um die Ecke in sie einbog, zu spüren glaubte. Und noch jetzt ergeht es mir ähnlich.

Die Häuser Magdeburgs sind zwar modern und gewöhnlich, doch besitzt es noch eine Anzahl im siebzehnten Jahrhundert erbauter, mit Sandsteinornamenten, mit großen Bogenthüren und mit stattlichen Giebeln ausgestatteter. Der breite Weg und der alte Markt enthalten besonders viel Häuser in diesem nicht reinen, allein immerhin kräftigen Styl, wie auch das Rathhaus mit einer Pfeilerhalle unten, einer luftigen Gallerie oben und einem säulengestützten geräumigen Balkon in der Mitte sich recht würdig ausnimmt. Vor ihm versetzt die einfache Sandstein-Rei terstatue Otto's I. auf einem von Statuen in knappen Rüstungen umgebenen Piedestal in die Wiegenzeit der Stadt, ein Effect, der noch größer sein würde, wenn die kleine Kaiserstatue zum Schutz nicht mit einem modernen Tempelchen überdacht wäre, dessen wulstige Thurmhaube und griechisch sein sollende Säulchen zu dem schlichten Wesen der alten Bildhauerei gar nicht passen. Diese Statue erfreute sich von den Fischer- und Hökerfrauen eines gewissen Cultus, indem dieselben am Morgen des ersten Mai dem Kaiser Blumensträuße und einige Gläser Liqueur auf den Rand der Plattform, die ihn trägt, hinstellten. Der alte Markt war die Gegend des weltlichen Verkehrs, und die hinter dem Rathhaus nach der Elbseite liegende mächtige Johanniskirche führte in den Urkunden den Namen ecclesia mercatorum. Der dem directen bischöflichen Dominium unterworfene Stadttheil konnte gegen diesen weltlichen durch ein Thor abgeschlossen werden, welches sich da befand, wo jetzt der sogenannte Schwibbogen vom alten Markt[53] nach dem Königshof führt. Und nach so vielen Jahren läßt sich wahrnehmen, daß die Stadt um den alten Markt herum die der Nothdurft des Lebens dienenden Gewerke und den Kleinhandel concentrirt, während die Luxusarbeiten, der Großhandel, das Kapital, das vornehmere Beamtenthum und das Vergnügen mehr in derjenigen Stadthälfte wohnen, die vom alten Markt bis zum neuen sich hinzieht. Die ärmste und in sittlicher Hinsicht verrufenste Gegend war die der sogenannten Baracken zwischen der Stadt und den Wällen der Westseite, namentlich zwischen dem Ulrichs-und dem Schrotdorfer Thor. Vom Wall aus gewährten sie einen sehr malerischen Anblick. Verwohnte Häuser mit bauchigen Mauern, mit zerbröckelnden moosgrünen Dächern, mit schlotternden Fenstern und Thüren. Mehrere Familien in eine Stube zusammengepreßt, doch Blumentöpfe in den Fenstern, Bohnen und spanische Kresse an Bindfaden aus erdgefüllten Schachteln emporgerankt, dazwischen Vogelbauer mit Wachteln und Zeisigen. Schmale, schmutzige Treppen, aus den Fenstern auf Stangen trocknende Lumpen hängend, das Glas in allen Regenbogenfarben schillernd, halbnackte Kinder mit Gelärm umhertollend, eisgraue Mütterchen Lieder summend am Spinnrade sitzend, verdächtig aussehende Männergestalten in lebhaftem Zank mit einander oder gedankenlos eine kurze Pfeife schmauchend, Hunde und Katzen aller Rassen und Farben fehlten selbstverständlich nicht. – Ob dieser Wunderhof Magdeburgs noch existirt, vermag ich nicht zu sagen, in meiner Jugend aber reizte er mich öfter zu seiner Anschauung. Diese Baracken schienen mir zwischen dem Wall und den soliden Bürgerhäusern eine Art socialer Hölle abzulagern, die sich aber in ihrem Elend mit Zigeunermuth lustig genug benahm.

Viele Häuser Magdeburgs hatten noch symbolische Namen. Gewöhnlich war das Symbol, in Stein ausgehauen, über der Thür zu sehen, wie z.B. der steinerne Tisch, der Lindwurm, das goldene Scepter, der schwarze Bock, der schwarze Bär, der grüne Arm, die fleißige Hand, die goldene Axt, der lange Hals, das Weinfaß u.s.w.; oder es war in Blech geformt und hing schwebend über dem Eingange, wie: die Stadt Braunschweig, die Weintraube u.a. Diese an sich oft roh gearbeiteten Bildwerke verfehlten doch nicht, der Phantasie Ruhepunkte und Beschäftigung zu verleihen, und gaben auch wohl der ganzen[54] Straße, worin sie sich fanden, den Namen. Lebhaft erinnere ich mich, daß man es als etwas Neues ansah, als nach den Befreiungskriegen das Hôtel »zur Stadt London« am breiten Wege eingerichtet wurde und nun kein Bild der Stadt London als Schild erschien, sondern ein langes Brett, auf dessen streusandblauem Grunde mit goldenen Lettern zu lesen war: »Zur Stadt London.« Wie kahl, wie prosaisch gegen die Stadt Braunschweig, die in Blech ausgeschnitten, ganz natürlich bemalt, ihre Thürme aus einem reichen Frucht- und Aehrenkranze hervorstreckte! –

Lange Zeit führte mich mein Schulweg von dem goldenen A über den breiten Weg an der Katharinenkirche vorbei, über deren Eingange die heilige Katharina mit dem Rade, das sie hingemartert, zu ihren Füßen und mit dem Palmsiegerzweige in den Händen stand. In einem Winkel am Thurme hatte ein Steinmetz seine Werkstatt aufgeschlagen. Viele Arbeiten wurden bei halbweg günstigem Wetter im Freien ausgeführt. Diese Beschäftigung zog mich ungemein an und ich konnte mit innigster Lust zusehen, wie Meißel und Schlägel die Steinblöcke gestalteten. Die Arbeiten waren meistentheils nur gewöhnlicher monumentaler Art, aber tiefes Entzücken durchdrang mich, wenn ich die vorgezeichnete Form, den Epheukranz, die Lampe, den Anker, die Fackel, die Kugel u.s.w. sich aus dem Stein als eine palpable Wirklichkeit reinlich und glatt hervorheben sah. Selbst das Einhauen der Inschriften unterhielt mich, und wäre ich noch einige Jahre dort vorübergegangen, würde ich vielleicht der Begierde nicht haben widerstehen können, mich dieser strengen und edlen Kunst zu widmen.

Für die Malerei wurde mein Interesse dadurch erhöht, daß mein Oheim David Grüson nach mehrjährigen Studien, namentlich in Dresden, uns besuchte und, um in den schlesischen und böhmischen Bädern als Portraitmaler ein ungehindertes Reiseleben führen zu können, den größten Theil seiner Zeichnungen, Modelle und Oelbilder unserem Verwahrsam übergab, aus welchem er sie erst im Anfang der Zwanziger Jahre, als er sich in Breslau niedergelassen hatte, wie der fortnahm. Unter diesen Schätzen befand sich auch eine italienische Prachtausgabe des Vignola, aus welcher ich den Schlüssel aller antiken und aller ihnen nachgeahmten Bauwerke, die fünf Säulenordnungen, kennen lernte.[55] Diese schönen Kupferstiche ließen mich auch im höchsten Grade empfinden, wie wundervoll die einfachen Gestalten des Würfels und der Kugel, des Prisma's und des Cylinders, der Pyramide und des Kegels sind, aus welchen Grundformen doch am Ende mehr oder weniger alle sichtbare Erscheinung besteht. Die vorzüglichsten Antiken, welche das japanische Palais und die Mengs'sche Abgußsammlung zu Dresden enthält, hatte mein Oheim in trefflichen Zeichnungen mit Kreide auf farbigen Papieren copirt, so daß ich auch hier frühzeitig und unbefangen zu einer reichen Anschauung der unendlichen Schönheit der menschlichen Gestalt und des antiken Faltenwurfs gelangte, deren unermeßlichen Werth ich erst in späteren Perioden meines Lebens nach Gebühr sollte schätzen lernen. Die Primogenitur dieser Anschauung war so unverwüstlich, daß die großen Ausschweifungen meines Geistes im Studium und in der Verehrung des christlichen Mittelalters sie doch nicht zu absorbiren vermochten.

Unter den Oelbildern griffen mir einige tief in die Seele. Wir hatten bis dahin, außer mehreren Familienportraits und Kupferstichen, unter denen der damals sehr beliebte vom Tode des General Wolf in der Schlacht bei Quebeck das vorzüglichste Blatt war, nur kleine in Oel gemalte Landschaften an den Wänden des Schlafzimmers und auf dem Flur ein lebensgroßes Brustbild gehabt, das einen Mönch darstellte, der mit lüsternen Mienen einem schlafenden Mädchen einen Maikäfer auf den Busen setzte. Jene Landschaften mit ihren Baumgruppen, ihren Hafenprospekten, Thurmruinen, ihren Mühlen und Viehmatten waren mir allerdings auch eine Nahrung gewesen. Denn der lungernde, in die Welt sich erst einlebende Kindersinn nimmt sich die Nahrung aus Allem, weil das stoffartige Interesse bei ihm noch überwiegt, wie denn selbst ganz untergeordnete Kupferstiche mir unvergeßlich geworden sind, weil ich sie täglich vor Angen hatte und weil sie etwas Merkwürdiges darstellten, z.B. Trenck und Stahlberg im Gefängniß, das Leichenbegängniß des edlen Herzogs Leopold von Braunschweig, der bei einer Ueberschwemmung ein Opfer seiner Menschenliebe ward, u. dgl. Ja sogar allegorische, im Kunstwerth ganz geringe Darstellungen prägten sich mir scharf ein, weil sie etwas Paradoxes hatten, an das zu denken der Kampf des späteren Lebens mich oft bewegte. So blickte aus einem[56] Bilde in unserer Schlafstube mich von früh bis spät Jahre hindurch das wehmüthige Auge eines Mannes an, der mit einem Hut auf dem Kopf, im langen Oberrock, wie die Tugendhelden der Cramer'schen Romane gehalten, an einem Felsblock stand, aus welchem ein Quell schäumend hervorrauschte. Unter dem Kreis, der diese Scene umschloß, standen die Worte: Ich stehe am Quell und dürste! O wie oft ist mir diese elegische Gestalt wieder aufgetaucht, wie oft habe ich nicht, bald resignirend, bald zornig, jene Worte ausgerufen! Wie oft stehen wir Menschen am Quell und dürsten, weil wir nicht trinken dürfen, nicht trinken können, nicht trinken wollen, oder gar den Quell, dessen Krystall uns lockt, für vergiftet halten!

Doch zurück zu jenen Oelbildern. Denn nun wurden unsere Wände, außer durch mehrere bessere Thierstücke, noch durch einige größere Werke geziert, die einen nachhaltigen Eindruck bei mir hinterließen. Das eine war das Portrait des italienischen Malers Tibaldi, Kniestück in Lebensgröße, eine edle, ernste Künstlergestalt; das zweite war eine Copie des bekannten Portraits von Rembrandt in Dresden, die mich zuerst auf diesen Maler und seine eigenthümliche, schattendunkle Manier hinlenkte; das dritte eine in etwas kleinerem Maßstabe ausgeführte Copie der büßenden Magdalena, von Battoni in Dresden; das vierte eine Copie des Christus im Disput mit den Pharisäern und Schriftgelehrten, von Leonardo da Vinci, in gleicher Größe als das Original. Nach dem damaligen Zeitgeschmack galt, wie ich oft vernehmen mußte, die Magdalena für das bedeutendste dieser Bilder, ähnlich wie die Mediceische Venus, die als Gypsstatuette bei uns auch auf einer Console stand, für das absolute Ideal weiblicher Schönheit genommen wurde, bis die Melische Aphrodite sie nunmehr dethronisirt hat. Die Reue erscheint bei Battoni so anmuthig, daß wir ohne die halbwilde Umgebung und ohne den im Vordergrunde liegenden Todtenkopf vielmehr eine Schöne zu erblicken glauben würden, die in einem interessanten Roman liest, und, der Sommerschwüle zu entgehen, sich im leichten Ueberwurf auf das weiche Moos in dieser dämmernden Einsamkeit träumerisch hingebettet hat. Pompeo Battoni kämpfte im letzten Drittel des vorigen Jahrhunderts mit Energie gegen den Verfall der Malerei, kam jedoch über den Standpunkt der Eklektiker nicht hinaus. Die[57] Weichheit seiner correcten Formen, die Lieblichkeit seines Colorits verdienen alle Anerkennung, aber der höhere Gedanke fehlte ihm. Als ich später in Dresden das Original seiner Magdalena zu sehen bekam, wollte es mich fast bedünken, als ob die Lebensgröße des Formates seiner sentimentalen Auffassung im Wege stünde und als ob der kleinere Umfang, an den ich mich bei unserer Copie gewöhnt hatte, seinem Pinsel hier angemessener gewesen wäre.

Leonardo da Vinci's Bild wurde nicht so geschätzt, ich selbst aber fühlte mich von ihm unwiderstehlich immer auf's Neue angezogen. Christus steht in der Mitte zwischen vier Pharisäern, kraftvollen Männergestalten in Kapuzen und Kappen; links im Hintergrunde ein greises Haupt mit grauem Barte, die gehörten Worte mit empfänglichem Sinn in sich beherbergend; vor ihm ein soeben sprechender, mit Zeigefinger und Daumen demonstrirender ernster Schriftgelehrter. Beide stellen die geheime Sympathie mit Christus dar, wogegen rechts im Hintergrunde eine schwarzbärtige, energische Physiognomie mit hierarchisch-finsterer Miene sich von Christus ab-, ihrem Nachbar zuwendet, der bartlos, mit pfiffigen Augen, mit herabgebogener starker Nase, mit dünnen, zugekniffenen Lippen und sinnlich ausgerundetem Unterkinn den kühlen Zweifelmuth ausdrückt. Zwischen diesen beiden zum Glauben und zum Unglauben geneigten Gruppen Christus mit bloßem Haupte, in einem herrlichen, oberhalb gestickten Purpurmantel, über den zwei Riemen, auf das Kreuz hindeutend, vor der Brust sich kreuzen. Die rothe Farbe ist hier gegen die dunkleren Farben der anderen Gewänder von außerordentlicher Wirkung, wahrhaft majestätisch. Das Gesicht Christi hat noch einen Nachhall vom byzantinischen Typus, in den mandelartig geschlitzten Augen, in der langen, schmalen Nase, im reichen Gelock des nußbraundunklen Haares, das gescheitelt auf den freien Hals herniederfällt. Die Hände sind wunderzart und eigenthümlich gehalten, indem der Zeigefinger der rechten Hand sich auf den Mittelfinger der linken legt, neben welchem aber auch der Zeigefinger derselben ausgestreckt ist – unstreitig als symbolische Bezeichnung der Dreieinigkeit. Der Ausdruck in den Zügen Christi ist bei aller ruhigen Milde, die vorzüglich aus der offenen Stirn und den klaren Augen hervordringt, nicht ohne eine erhabene Ironie auf den Lippen, die soeben das Alles[58] erklärende, Alles belebende, Alles erlösende Wort sprechen wollen. Das Bild ist in mehreren Exemplaren vorhanden, das als Original geltende befindet sich jetzt auf der Nationalgallerie in London und gilt nunmehr bei den Kunstkennern als ein Werk von Bernardo Luini. Mir ist bei den Bildern, die ich von da Vinci in Wien und Paris gesehen habe, weder in der Composition noch im Colorit etwas aufgefallen, weshalb das Original nicht von ihm sollte herrühren können. Luini war sein Schüler, und wie weit der Meister ihn hier inspirirt habe, läßt sich natürlich gar nicht entscheiden. Doch bescheide ich mich gern, daß die Macht eines Jugendeindrucks mich beschränkt, da ich für Leonardo von diesem Bilde aus stets die höchste Verehrung empfand und darin durch Alles, was ich von diesem reinen und universellen Geiste vernahm, immer mehr bestärkt worden bin.

Dies schöne Bild machte mich aber auch nach einer andern Seite hin aufmerksam. Ich war gewohnt, Christus mir durchschnittlich als einen reifen Mann vorzustellen, während er hier noch dem Jünglingsalter nahe erschien. Jene Gewohnheit entsprang nicht nur daraus, daß ich in den Kirchen und auf den Grabmälern Christus in solcher Männlichkeit dargebildet fand, sondern vornehmlich daraus, daß ich mich an die Sandrart'schen Kupfer der großväterlichen Nürnberger Bibel gewöhnt hatte. Diese Bibel, deren ich schon im ersten Abschnitte dieser Selbstschau Erwähnung gethan, ist nicht nur als Schriftwerk durch die aufgenommenen Erklärungen des Bibeltextes aus Luthers Schriften, nicht nur durch die Darstellung der sächsischen Churfürsten, sondern auch durch die Kupfer Sandrart's ein überaus würdiges Product des Protestantismus. Sandrart gehörte zwar völlig dem siebzehnten Jahrhundert an, allein er brachte noch in die Composition eine frische Naivität und in die Zeichnung die Traditionen einer besseren Zeit mit. Manches ist flüchtig, besonders in den Schlachten, in denen er oft nur Merian nachahmt, aber gerade in Aufgaben, die eine größere geistige Tiefe verlangen, hat er ein so treffendes psychologisches Talent entwickelt, daß seine Entwürfe einen bleibenderen Werth ansprechen dürfen. Da ist weder die falsche Ueberschwänglichkeit eines pietistisch gereizten Gefühls, noch die historische Dürre einer selbstklugen Aufklärung, sondern der Hauptpunkt, auf welchen es dem wahren Glauben ankommen muß, ist[59] mit Sinnigkeit ergriffen. Im Costüm und in den Beiwerken ist auf die geschichtliche Treue eine mäßige Rücksicht genommen, ohne dabei, wie die heutigen Franzosen, in Pedanterie zu verfallen; das Wesentliche ist immer die ethisch-religiöse Bedeutung einer Handlung geblieben, wodurch die malerische Motivirung ebenso bestimmt als mannichfaltig geworden ist. Unwillkürlich habe ich mich oft an diese Bibel erinnern müssen, theils wenn ich neuere Holzschnitt- oder Stahlstichsudeleien illustrirter Bibeln, theils wenn ich auf Kunstausstellungen so manche Fratze unserer frommen Maler sah. Wie leer, wie steif, wie verzwickt, gemüthlos, verfehlt sind in der Regel diese Machwerke! wie oft habe ich bei ihrem Anblick an Sandrart denken müssen, der das menschlich-göttliche Interesse so lebendig als würdig zu fassen und die ganze heilige Geschichte von der Schöpfung der Welt an bis zu den dämonischen Gestalten der Apokalypse hin aus einem Geist und aus einem Style mit der Sicherheit einer glaubensvollen Anschauung vollkommen individuell darzustellen wußte! Er componirte nicht mehr mit der Schlichtheit, aus welcher die Holzschnitte der ersten Laienbibeln hervorgingen, die sich noch an die Miniaturmalereien anlehnten. Sandrart hatte die Raphaelischen wie die Dürer'schen Bilder studirt, sich jedoch eine große Selbstständigkeit und Freiheit der Phantasie bewahrt, die nach meiner Meinung in der Behandlung der Propheten Jonas und Elias und der Parabeln Christi sich wirklicher Originalität nähert. Aus ihm hatte ich mir für Christi Antlitz den bärtigen Typus früh angeeignet. Leonardo's jünglinghaftes Antlitz mit schwach unter dem Kinn sich kräuselndem Bart gab mir den Anstoß auch zu einer andern Auffassung welcher die wirkliche Geschichte insofern zu Hülfe kam, als Christus in der That schon als Mannjüngling starb. Diese Doppelgestalt, ich möchte sagen, die Herakleische und Appollinische, trug ich viele Jahre neben einander in mir herum, bis ich inne ward, daß Christus in allen Lebensaltern, in allen allgemein menschlichen Situationen, in allen nationalen Nüancen gemalt werden müsse, um jedem einzelnen Menschen in jeder Lage des Lebens unter allen Völkern auch durch die Malerei Alles in Allem zu werden. Die Ewigkeit seines Wesens kommt für die Malerei äußerlich darin zur Erscheinung, daß sie ihn nicht nur als Kind und Jüngling, sondern auch als Mann und Greis malt.[60]

In der Umgebung solcher Bilder war es natürlich, daß die Malerei sich frühzeitig in mir einen innigen Verehrer erwarb; dem daher auch zur Zeit der Michaelismesse die Bilderhändler unsägliche Freude bereiteten, wenn sie auf den Durchgängen des Landschaftsgebäudes und auf den Hausfluren der Regierungsstraße ihre Kupferstiche aushingen. Auch zeichnete und malte ich selbst sehr viel, leider ohne alle Anleitung, weil man für gut fand, mich vielmehr im Klavierspiel unterrichten zu lassen, zu welchem ich weder Neigung noch Talent hatte. Drei Jahre mühete sich der Lehrer mit mir herum und ich lernte endlich die Noten, lernte allerlei Tänze, Märsche, Rondos mechanisch spielen. Immer hoffte man, daß mit der wachsenden Geschicklichkeit auch die Lust kommen würde, da man bemerkte, daß ich an Musik, namentlich an melodischer, großen Gefallen hatte und konnte sich gar nicht darin finden, daß ich endlich meine Untauglichkeit und Unlust entschieden erklärte. Wie viel edle Zeit und Kraft vergeuden wir Moderne nicht wirklich an dem unseligen Clavierspiel, vor dessen Beunruhigung man sich aus den Städten kaum noch auf das Land hinausretten kann, weil es auch da bereits grassirt! Leidlich Clavierspielen gilt fast schon so viel, wie Anspruch auf den Namen eines gebildeten Menschen machen, während die eigentliche Bildung oft unverantwortlich zurückbleibt und mit dem vielen Sitzen und der verweichlichenden Nervenaufregung der Grund zu vielen schleichenden Krankheiten gelegt wird. Die schönsten Stunden des Tages werden mit dem »Ueben« hingebracht und dadurch eine erschreckende Gedankenlosigkeit, namentlich in unseren jungen Mädchen, herangezogen. Die Clavierspielseuche hat auch die Cultur der einfachen Instrumente sehr in Abnahme gebracht; Guitarre und Harfe, Flöte und Violine sind viel seltener geworden. Ueberall diese Monotonie des Claviers! Und flöhest Du in die entlegensten Straßen der Stadt, in die verborgensten Häuser, siehe, so würde das Gehämmer der Tasten dein Ohr doch von irgend einem ungeahnten Winkel aus zu erreichen und Deine Gedanken zu belästigen wissen! Musik ist, wie alle Kunst, himmlisch: aber diese Einseitigkeit ist entsetzlich. – Der Mutter zu Liebe versuchte ich es später noch einmal mit der Musik, indem ein trefflicher Musiker, der in Magdeburg so hochgeschätzte Registrator Kämmerer, sich der Mühe unterzog, mich im Generalbaß zu unterrichten, um durch eine wissenschaftlich begründete[61] Einsicht mein Interesse an der Musik zu beleben. Wie dankbar ich ihm für seine Geduld und Freundschaft war, und wie sehr ich mich stachelte, ihrer werth zu sein, so mußte doch auch dieser Versuch nach einem Vierteljahr als mißlingend aufgegeben werden. Hätte man statt dessen meiner entschiedenen Neigung zum Zeichnen eine besondere Aufmerksamkeit gewidmet, so würde ich darin wenigstens mehr geleistet haben, als geschehen ist. Die Eltern erblickten darin aber nur eine Erholung, die man der Schule halber sogar beschränken müsse, und der Vater richtete sich nach dieser technischen Seite hin nur darauf, daß ich eine gute Hand schreiben lernen mußte, in welcher Beziehung er mich sehr ernstlich anhielt, so daß ich endlich auch in der Kalligraphie mich zu seiner Zufriedenheit auszeichnete.

Literarisch reizte mich damals nur dasjenige, was die Phantasie befruchtete.

Bücher mit Bildern hatten bei mir, wie wohl bei allen Kindern, den Vorzug, weil sie meine Anschauung nährten. Ich blieb nicht verschont mit dem Gewöhnlichen, worin die deutsche Kinderliteratur so ausgiebig ist. Die erbärmlichsten Pfuschereien, die gedankenlosesten Aggregate seichter Erzählungen und tändelnder Gedichte, die elendsten Fratzen und Farbenklecksereien werden den Kindern zugemuthet, ohne zu erwägen, wie sehr man ihnen gerade das zwar ihrem Standpunkt Angemessene, aber doch nachhaltig Anregende schuldig wäre. Kohl erzählt in seinen biographischen Selbstbetrachtungen, die er unter dem Titel: Aus meinen Hütten, herausgegeben, daß er nach mehreren verunglückten Schriftstellerversuchen mit ernsten Büchern, wie einer Geschichte der ursprünglichen, in die mythische Zeit der Völker fallenden Erfindungen, bei seinem Verleger in Königsberg angefragt habe, was denn eigentlich in deutschen Landen gekauft würde, worauf dieser ihm erwidert habe: Kinderbücher. Als nun aber Kohl ein Elfenreisemärchen mit komischer Romantik und niedlichen Interlinearzeichnungen in Druck gab, hatte er doch wieder keinen Erfolg, weil dieser Versuch wieder zu neu und geistreich ausfiel. Unsere polypenförmige Vielthuerei in der Kinderliteratur ist größtentheils nur formell und tautologisch. Das Unkraut herrschender Plattheit erstickt das Weizenkorn origineller Erfindung. Wie selten ist es, daß ein Mann, wie Kohl, oder ein Mann von so gereifter[62] Bildung, wie der Gymnasialdirektor Gotthold in Königsberg, sich die Mühe nimmt, für Kinder zu schreiben! Wie selten ist die Originalität eines Fröhlich, eines Struwelpeter Hofmann! Wie bleibt die Kindesunterhaltungsliteratur meistens das Werk einer diebischen, wohlfeilen Industrie, und wie schnell sehen wir auf diesem Gebiete selbst solche Autoren ausarten und in eine plagiatorische Freibeuterei übergehen, die, wie Nieritz, glücklich begannen! Unter den Büchern, deren ich mich erinnere, war wenigstens ein orbis pictus, war Salzmann's Elementarbuch, war Funke's Lesebuch, welches letztere wohl zu dem Vorzüglichsten gehört, was die deutsche Kinderliteratur in jener Zeit aufzuweisen hatte. So war z.B. im ersten Theil auch eine Fibel. Auch war der Gedanke derselben festgehalten, das Gedächtniß des Buchstabens an einen hervorragenden Gegenstand zu knüpfen, dessen Name mit dem des gerade einzuprägenden Buchstabens beginnt. Dieser Gegenstand war nun aber auf das Sauberste in Kupfer gestochen. Die alte Fibel hatte in ihren Bildern, wie Jean Paul bekanntlich nachgewiesen hat, die Regel, immer einen todten und einen lebendigen Gegenstand in Bild und Vers zusammenzubringen, wo natürlich oft nur ein Nebeneinander herauskam und nicht immer der Zusammenhang, den die ersten Verse zeigen, herrscht. Der Affe gar possirlich ist, zumal wenn er vom Apfel frißt. Im Walde geht und brummt der Bär, wenn er vom Honig-Baum kommt her. Hier wird das B schon durch das vorgesetzte H versteckt. Nun aber nehme man z.B. den Buchstaben N. Da finden wir eine Nonne und einen Nagelbohr, und im Verse heißt es:


Die Klosternonne muß thun Buß

Ein Nagelbohr man haben muß.


Da hört aller Zusammenhang auf oder kann doch nur humoristisch hineingedichtet werden. Das wollte Funke's Lesebuch vermeiden. Bei ihm ruft jedes Bild gleichsam mit allen Gegenständen uns denselben Laut in einem wirklichen Zusammenhang zu. Zum Beispiel unter dem Buchstaben Z erinnere ich mich, daß ein Zwerg dargestellt war, der sich in einem Zimmer gegen Zahlung eines Eintrittgeldes einer zahlreichen Gesellschaft sehen läßt. Oder das W zeigte einen Wanderer, der, im Walde von einem Wolf angefallen, durch das Streichen einer Violine denselben von sich abhält. Der zweite, ebenfalls[63] mit Kupfern ausgestattete Theil dieses Lesebuchs, das wir ruhig immer wieder hätten auflegen können, enthielt Lesestücke, die sehr anregend die freie Poesie, die fictive Wirklichkeit und die factische Wahrheit sonderten. Jene war durch zweckmäßig bearbeitete Märchen von der Prinzessin mit der langen Nase, d.h. vom Fortunat, vom dankbaren Gespenst, von Elmire oder der Blume, die nimmer welkt, vom Rübezahl u. dergl. vertreten. Die Scheinwirklichkeit stellte sich in Anekdoten von Taschenspielern und Bauchrednern, die prosaische Realität in Menzikoff's Geschichte, in Auszügen aus Lessep's sibirischer Reise und dergleichen dar.

Sehr vielen Dank für die spielende Erwerbung einer Menge instructiver Anschauungen bin ich der deutschen Bearbeitung eines französischen kosmographischen Werkes von Allain Manesson Mallet schuldig, die zu Frankfurt am Main von 1684 ab in fünf Quartbänden mit vielen, an Werth sehr ungleichen Kupfern unter dem Titel einer Beschreibung des ganzen Weltkreises erschienen war. Sie enthielt eine Geschichte der verschiedenen Versuche, sich das Universum und die Stellung der Erde in demselben vorzustellen; eine Meteorologie; eine Beschreibung der Welttheile, ihrer Bewohner, der Religion und der Sitten derselben, der vornehmsten Städte und der merkwürdigsten Gebäude und Plätze. Sie verfolgte mithin den Weg, den die Natur der Sache selber vorschreibt; Uranalogie, Meteorologie, physische und politische Geographie, Ethnographie und Culturhistorie folgten einander. Die Menschheit hat immer solcher Uebersichten bedurft, die Fülle neuer Erfahrungen von Zeit zu Zeit wieder mit der traditionellen Anschauung auszugleichen, worin ja auch der vorzüglichste Werth des Humboldt'schen Kosmos liegt. Indem Humboldt in der Anlage des Planes dem Platonischen Timäos ein Seitenstück geschaffen hat, unterscheidet er sich als der moderne Naturforscher wesentlich dadurch, daß er die präcisen Bestimmungen der exacten Wissenschaft zu einem anschaulichen Bilde verdichtet hat. Burnet's Archäologie der Erde, Büffon's Epochen der Natur, Bernardin's de St. Pierre Naturstudien, Kant's Naturgeschichte des Himmels, Kant's physische Geographie, Ritter's meisterhafte Einleitung in seine Erdkunde sind der Tendenz nach ganz dasselbe, wie Humboldt's Kosmos, gewesen. Als eine untergeordnete Erscheinung gehört das Mallet'sche Buch in dieselbe Reihe und folgte in Deutschland der Kosmographie, die Münster[64] in einem Folianten, ebenfalls mit Karten, Stadtprospecten und eingedruckten Holzschnitten herausgegeben hatte und die wir als unsere älteste deutsche Universalgeographie, als das Seitenstück zu Sebastian Francke's Universalgeschichte, ansehen dürfen. Die bildliche Darstellung des Malett'schen Werkes war flüchtig, doch nicht ohne Phantasie und mit einer außerordentlichen Verschwendung ausgestattet. So nahm z.B. die Abbildung eines jeden Planeten ein Quartblatt ein, auf welchem er selbst oben in Pfenniggröße dargestellt war. Unter ihm aber breitete sich eine Landschaft aus, die seinen vermeintlichen Einfluß auf die Erde in symbolischen Phänomenen charakterisiren sollte. So erblickte man bei dem Merkur einen Fluß, auf welchem Schiffe segelten, über welchen eine schlangenförmig gewundene Brücke Reiter und Fußgänger einer Stadt zuführte u.s.w., um den vom Merkur beschützten Weltverkehr zu versinnbilden. So erblickte man bei dem Mars eine Stadt im Belagerungszustande; bei der Sonne Kühe, die unter dem Schatten einer Brücke in den Fluß hinabwaten, sich gegen die Mittagsschwüle zu schützen u.s.w. Manche dieser landschaftlichen Prospekte waren von wirklich malerischem Verdienst in der Art der Vinkebrom und Lingelbach. Die Karten waren in der Manier der Vogelperspektive. So viel nothwendig Falsches dabei vorkam, weil die Größe der Oerter, Kirchen, Bäume u. dergl. zur Terraingröße in keiner angemessenen Proportion stand, so erwuchsen doch auch wieder entschiedene Vortheile. In jener Zeit war beispielsweise bei den Erwachsenen viel von St. Helena die Rede. Von dieser Insel gab Mallet zwei Ansichten, die eine von der Seite her, wo die Portugiesen die Kirche auf einem kleinen Plateau angelegt haben, die andere von der Vogelschau aus, wo man die Zerklüftung der Insel, die von Ferne ein einziger Fels zu sein scheint, in viele Bergkuppen und Thäler übersieht. An Palmbäumen auf der Insel, an vorübersegelnden Schiffen auf dem Meere fehlt es natürlich auch nicht. So unrichtig nun in diesem großen Kupferstich vieles Detail war, so konnte ich doch merken, daß meine Vorstellung viel genauer und charakteristischer war, als die mancher Erwachsenen! die Helena nur als kleinen Kreis auf der Landkarte kannten. Das siebzehnte Jahrhundert verlor sich noch in einen Luxus mit dem Nebensächlichen, weil es noch die Richtung auf Vollständigkeit der Anschauung hatte. Die spätere[65] Zeit warf sich mehr auf die abstrakt begriffliche Behandlung, auf eine verständige Nothdürftigkeit und entfernte auch alles symbolische Beiwerk als ein für den Begriff störsames Moment, bis man, seit Rousseau, Basedow und Pestalozzi, dem intuitiven Element doch wieder größere Aufmerksamkeit gewidmet hat. Unsere Kartographie namentlich hat sich aus dem bloßen Linearumriß durch Vermittelung der Reliefplastik zu natürlich farbigten Formen mit außerordentlichem Glück durchgearbeitet, wie die Atlanten von Sydow und Berghaus beweisen. Von der Bekanntschaft mit dem Mallet'schen Buche datirt sich bei mir die Neigung zur Geographie und Topographie.

Der ursprüngliche Büchervorrath unseres Hauses war arm. Bibeln, Erbauungsbücher, wie Tiede's Andachten auf alle Tage im Jahr, Witschel's Morgen-und Abendopfer, einige Predigtsammlungen, Gesangbücher, Rechenknechte, genealogisch-statistische Kalender, Nelkenbrecher's Comptoirtaschenbuch, das große Magdeburger Kochbuch, Stein's Geographie, einige Grammatiken der französischen und eine der italienischen Sprache, Hartung's Gedichtsammlung, Moser's Herr und Diener, Gellert's Mann nach der Uhr, eine Geschichte der Rosenkreutzer, Dusch's moralische Briefe zur Bildung des Geschmacks, ein Herrnhutisches und ein freimaurisches Liederbuch, die Statua Danielis zur Erklärung der vier Weltmonarchien, und sonst noch einige Almanache, wie der interessante Kotzebue'sche Almanach der Chroniken, das war ziemlich der ganze Vorrath von Büchern, den wir bei den Eltern vorfanden. Und wie bei uns, war es bei den meisten Bürgerfamilien. Für weiteres Lesebedürfniß half man sich auf andere Weise, theils durch Abschreiben, theils durch die Leihbibliotheken, deren steigende Vermehrung in Magdeburg den besten Maßstab für die Zunahme der Lectüre seit dem Pariser Frieden abgab. Denn anfänglich existirte nur die Hagemann'sche Leihbibliothek auf der Tischlerbrücke; ihr folgte die der Creutz'schen Buchhandlung auf dem breiten Wege; sodann eben dort die Rubachsche und seitdem noch manche andere. Die erstere Manier, das Abschreiben, dürfte heut zu Tage, wo die Kinder frühzeitig mit Büchern überschwemmt werden, wo in den Schulen fast jede Klasse ihre Bibliothek hat, wo die Heftlieferungen das Bücherkaufen scheinbar so wohlfeil machen, Vielen recht antediluvianisch erscheinen. Und doch war es gar so übel nicht[66] weil die Aneignung eine intensivere wurde. Der Lieblingsdichter beider Eltern war Bürger. Allein eine Ausgabe seiner Gedichte besaßen sie nicht; sondern die besten und berühmtesten Balladen und Lieder waren in ein Buch geschrieben, aus welchem auch wir Kinder Lenore, den Abt und den Kaiser u.s.f. kennen lernten. Alle Gedichte, Anekdoten, Räthsel, Predigten, die gerade Aufsehen erregten, wurden, wenn man ihrer habhaft werden konnte, abgeschrieben, woraus denn eine Art Familienbücher entstanden. Für mich hatte diese löbliche Sitte auch die gute Folge, daß ich mir von hier aus das Excerpiren angewöhnte. – Die andere Manier, die Benutzung der Leihbibliotheken, hatte bei uns ganz dieselben Folgen, wie überall. Die Bücher sollten zunächst nur für die Eltern da sein: allein weil dergleichen Bücher keine feste Stelle im Hause haben, sondern von den Lesenden je nach ihrer Bequemlichkeit von einem Sopha auf's andere, von einem Zimmer in's andere umhergetragen und daher als ein Freigut nicht streng beaufsichtigt werden, so habe auch ich zahllose Bücher im Vorbeigehen als eine literarische Näscherei kennen gelernt. Die Gefahren, die mit der Zufälligkeit einer solchen Lectüre verbunden sind, hat man so oft geschildert, daß es überflüssig ist, noch Worte darüber zu verlieren. Manche Produkte der heutigen Welt sind nur aus dem Umstande des Romanlesens zu erklären, welches uns der Lectüre der classischen Schriftsteller, der echten Poesie, dem idealen Kunstwerk und der objectiven Realität der Dinge entfremdet. So ist z.B. die Ausführung des Socialsystems von Charles Fourier bekanntlich im höchsten Grade phantastisch; es kommen Züge darin vor, die für eine wissenschaftliche Darlegung unbegreiflich sein würden, wüßte man nicht, daß ihr Autor ein unersättlicher Romanleser gewesen. So erblickte Metternich in der Weltgeschichte nur eine espéce großartiger Intrigue, weil er nach Herrn von Hormayr's Bericht in keiner Lectüre, außer in der der Romane, gründlich zu Hause war. – Ein Glück für mich war die Doppelrichtung der Eltern in ihrer Lectüre. Die Mutter, durch ihre Kränklichkeit an das Haus gefesselt, behielt, bei sorgfältig wirthschaftlicher Thätigkeit, doch viel Zeit und las Romane aller Nationen und aller Gattungen durcheinander. Der Vater dagegen war ein Freund von Reisebeschreibungen, von Memoiren, großen historischen Werken, politisch-satirischen Schriften. Von Romanschriftstellern[67] liebte er nur Jean Paul und Walter Scott, den er sich in einer Gesammtübersetzung selbst anschaffte. Eine mir natürliche Achtung vor aller Realität und ein dunkler Wissensdrang zogen mich auf die Seite des Vaters und ließen mich allmälig jene große historische Belesenheit namentlich in Reisebeschreibungen erwerben, ohne welche ich meinen Versuch über die Naturreligion der wilden Völker nicht hätte schreiben können. Als ich mehr heranwuchs, forderte der Vater selbst mich auf, seine Lectüre, wenn er sie mir nützlich erachtete, zu theilen, zumal es ihm auch angenehm war, dann mit mir darüber sprechen zu können.

Je weniger Bücher in unserem eigenen Besitze waren, um so stärker wirkten diese wenigen auf mich. Ich kann mir nach meiner eigenen Erfahrung sehr wohl vorstellen, wie die sogenannten Volksbücher eben dadurch ein so unsterbliches Leben führen, weil auf der Spinnstube im einsam gelegenen Pachthof, auf der Windmühle im Blachfeld, auf der Försterei im Walde eben nur wenige Bücher existiren, die man aber zu lesen nicht müde wird und bei denen man sich in die Geschichte ihrer Helden bis zur Illusion der Anschauung wirklicher Vorgänge vertieft. Da ich nun in einer zwar lebensvollen, aber bücherarmen Umgebung aufwuchs, so gewöhnte ich mich, auf Bücher einen großen, sogar falschen Werth zu legen: gerade wie ich umgekehrt sehe, daß meine eigenen Kinder, da ich Bücher genug besitze und sogar selber deren schreibe, in einem Buch etwas höchst Alltägliches erblicken.

Das Theater konnte in der Zeit, von welcher ich hier spreche, noch keine weitere Wirkung auf mich üben, als daß ich es mit einem Puppentheater nachbildete, bei welchem ich, meinem Triebe zum Zeichnen und Malen folgend, mich besonders mit der Anfertigung der Decorationen und der Puppen beschäftigte, weniger aber zum Spielen selber kam. Bis zu meinem sechszehnten Jahre nämlich durfte ich das Theater nicht allein besuchen und der Vater führte uns selten hin. Es war damals die ganz sinnreiche Sitte, daß Kinder gewöhnlich zum ersten Mal am 10. Mai in das Theater mitgenommen wurden, weil dann die Zerstörung Magdeburgs durch Tilly von Schmidt gegeben zu werden pflegte. Dies fürchterliche Ereigniß war dazumal wenigstens für die heranwachsenden Kinder noch immer ein Gegenstand größter Theilnahme, dessen Spuren man gern nachspähte und von welchem die detaillirtesten[68] Beschreibungen zu lesen man nicht satt werden konnte. Durch das Theater wurden die Kinder recht lebhaft auf den geschichtlichen Anfang des heutigen Magdeburgs zurückversetzt, und so nahm denn der Vater am 10. Mai 1815 auch uns in dasselbe mit, als das Stück, nachdem die Stadt wieder so schwere Kriegsnöthe überstanden, mit besonderem Nachdruck und mit einem mythologisch-allegorischen Vorspiel von Neuem auf der Bühne erschien. Es machte einen großen Eindruck auf uns, das, was unsere Phantasie so oft sich vorgestellt hatte, nunmehr von der Hostovsky'schen Truppe mit dem Schein unmittelbaren Lebens vorgeführt zu sehen. Der Tanz der Kroaten im Tilly'schen Lager entzückte uns. Als zuletzt im Hintergrunde der Dom erschien, Tilly zu Pferde seinen Einzug hielt, der ehrwürdige Prediger Bake aus dem Dom, der noch unfern des Atriums seinen Grabstein enthält, mit einer Schaar Hülfeflehender hervorschritt, sich dem Sieger zu Füßen warf und die bekannten Virgilianischen Worte ausrief: »Fuimus Troés, fuit Ilium!« zerschmolzen wir in Thränen und fühlten zugleich nach Kinderart mit geheimem Stolz das Glück, einer Stadt anzugehören, in der so schreckliche Dinge geschehen.

Dauernden Einfluß aber auf meine Bildung gewann schon damals der Verband unserer Familie mit der des Hofbuchdruckers Hänel. Sie trat in der Altstadt für uns gewissermaßen an die Stelle des Favreau'schen Hauses in der Neustadt. Die Favreau'sche Familie hatte nach Beendigung der Belagerung unser Haus wieder verlassen und sich vor der hohen Pforte ein kleines zwischen den Wällen gelegenes Haus mit einem Garten gekauft, in welchem nach einigen Jahren erst der alte Mann, bald darauf auch der gute Friedrich starb. Sie blieben sich gegen uns Kinder in ihrer Güte gleich und wußten unserem fortschreitenden Verstande immer neue Freuden zu bereiten. So stellte z.B. Friedrich an schönen Abenden uns ein großes Fernrohr auf dem Wall auf, durch welches wir Sterne und den aufsteigenden Mond zu sehen liebten, dessen Berge und Thäler sich mir tief einprägten. So gern wir nun hinausgingen, so zog uns doch die Stadt, jemehr wir uns in sie einlebten, allmälig von ihnen ab. Das Hänel'sche Haus in der Klosterstraße, ein Muster werkthätiger und wohlhäbiger, sauberer und freundlicher Bürgerlichkeit, wurde der neue Anziehungspunkt, da[69] überdem zwei Söhne, Albert und Eduard, sich uns als unsere liebsten und treuesten Jugendgespielen zugesellten. In diesem Hause nun, woselbst mir jederzeit nur Liebes und Gutes widerfahren ist, lernte ich das literarische Handwerk an der Quelle kennen. Die verschiedenen Arten der Lettern, die Papiersorten und Formate, Manuscripte, Correcturen und Aushängebogen wurden mir hier geläufige Dinge. Bei einem Besuch verfehlten unsere jungen Freunde selten, uns in der Druckerei herumzuführen, wo es immer etwas Neues und Interessantes zu sehen gab, wo wir dem stillen Proceß der Bücherentstehung lauschten, wo wir zum Scherz unsere Namen selbst setzten und druckten, wo uns die Handschriften berühmter Männer gezeigt wurden und wo wir in einem Schrank alle Werke bewunderten, welche die Officin schon gedruckt hatte. Folgerecht ist es denn auch mein Freund Eduard Hänel gewesen, der mich zuerst zum Druckenlassen aufmunterte und 1827 ein confuses Buch von mir bei Heinrichshofen in Magdeburg in Commission gab, das er sehr schön gedruckt und mir sogar recht gut bezahlt hatte. Später, als mein unermüdlicher Freund in seinem weltbekannten Etablissement zu Berlin hinter der reizenden Villa an der Potsdamer Straße unsere preußischen Staatspapiere druckte und für Nordamerika Lettern goß, machte er, dem Himmel sei Dank, ganz andere Geschäfte, als mit meinen damaligen ästhetischen und poetischen Mittheilungen.

Zum Schluß dieser Vergegenwärtigung aller der Hülfen, die dem höheren Menschen in mir gegen das Versinken in Rohheit und Trivialität Beistand leisteten, muß ich hier noch eines jener contemplativen Momente erwähnen, die bei mir von Zeit zu Zeit als tiefe Erschütterungen meines Gemüths, öfter bei ganz unscheinbaren Anlässen, eintraten und eine qualvolle Betroffenheit in mir erzeugten, welche mich die Beschränktheit und Zufälligkeit meines Daseins auf das Tiefste empfinden ließ. In der »Stadt London« war ein Naturalien-Cabinet zu sehen. Ich ging hin und erfreute mich an den ausgestopften und in Spiritus aufgestellten Thieren, an den Insekten und Conchylien außerordentlich. Aber ich fand auch eine Reihe Mißgeburten von Hunden und Katzen und eine Sammlung von menschlichen Embryonen. Waren nun schon unter den Thieren manche, deren Gestalt die Phantasie sehr aufzureizen vermochte, wie der spitzkropfige Leguan, wie die[70] haarige Buschspinne, die warzige Pipa, die auf jeder Rückenwarze ihr schauerliches Miniaturbild zeigte, so war mir doch der Anblick der Thier-Mißgeburten und der Kinder in Spiritus, unter denen auch monströs wasserköpfige, etwas ganz Neues. Diese ineinandergewachsenen Katzen, diese affenartigen Kindchen! Wie ist so etwas möglich? wie kann die Natur, von deren göttlichen Gesetzen ich immer reden hörte, so schwanken, daß sie ein Doppelhaupt auf einen Leib setzt, daß sie Kinder mit so platten, geistlosen Köpfen, mit einem cyklopischen Auge existiren läßt? Die gedruckte Beschreibung gab nur an, was zu sehen war; auch war ich zu ungebildet, mein Gefühl aussprechen zu können. Die großen Schildkröten, die Eidechsen und Schlangen, die riesige Vogelspinne, die unförmlichen Mißgeburten und die stupiden, zusammengekauerten Embryonen, wie sie aus den Gläsern mit feuchtem Glanz hervorschimmerten, fingen an, mich so entsetzlich zu beängstigen, daß ich auf die Straße stürzte, nach Hause eilte, vor der Thür aber Halt machte und noch weiter zur hohen Pforte hinaus an den Strand der Elbe lief. Der blaue Himmel, der blinkende Fluß, das Grün des fernen Waldes erquickten allmälig mein Gemüth, doch nicht sogleich. Sonne, rief es in mir, wie kannst Du so hell, so ruhig scheinen, wenn es hier auf Erden so dunkle Räthsel giebt? wenn Schaafe mit acht Füßen, zwei Katzen mit einem Leibe, wenn solche Kinder möglich sind, wie diese mit ihren dicken Bäuchen, ihren dummen Köpfen, ihren zugekniffenen Augen? Sind denn diese Kinder Menschen, sind sie Geister, sind sie unsterblich?! –

Während diese Fragen mich dumpf bewegten, stieß mein Fuß an eine jener vielen hier zerstreuten Hirnschalen, mit denen wir zur Winterzeit so ruchlos gespielt hatten. Ich nahm sie aus dem Sande auf und betrachtete den hellgebleichten, blanken Knochen, bewunderte die feinen Zacken der Stirnnähte und stellte mir das Gehirn vor, das unter diesem Knochen, den ich nun als ein ganz gewöhnliches Ding in der Hand hielt, einst gelebt, gefühlt, gedacht hatte. Der Tod war mir als Erscheinung nichts Fremdes. Leichen anzuschauen war ich in der Kindheit schon gewohnt geworden und auf dem Kirchhofe vor unserem Hause hatte ich auch jetzt das Schauspiel des Einsargens oft genug vor Augen. Dem Todtengräber und seinen bei den Töchtern waren wir Kinder befreundet.[71] Wie oft stand ich dabei, wenn der alte Wittich wieder ein frisches Grab grub und die Reste des früheren Erdbewohners, der seine gesetzmäßige Frist dort gelegen, herauswarf! Wie oft half ich den Töchtern diese Knochen in das Beinhaus tragen, wo sie fortirt und auf Brettern aufgeschichtet wurden! Ein Skelett oder Todtenkopf brachte daher bei mir gar keine besondere Wirkung mehr hervor. Heute aber, wo ich das Häßliche und mit dem Häßlichen den Anfang des menschlichen Lebens geschaut hatte, packte mich auch die Vorstellung seines Ausgangs in den Tod. Da, wo ich mit dem Finger den kalten Knochen berührte, da hatte in den Hirnfibern das freud- und leidbewegte Blut pulsirt, da, wo ich den Rand der Augenhöhlen durchgriff, hatte das seelenvolle Auge gestrahlt; da, wo dünne, zersplitterte Wände die Nasenhöhle schieden, hatte lebendiger Odem geblasen! Und nun fand ich diesen Schädel daliegen, wie einen Stein, und warf ihn endlich, des Anschauens müde, auch wie einen Stein wieder in den Sand. Die Sonne sank in rother Pracht; der Fluß plätscherte mit leisen Wellen an das flache Ufer, sonst war Alles still um mich her; der Abendstern flimmerte am Firmament und träumerisch schlich ich nach Hause, unfähig, ein Wort von dem Mysterium zu sagen, das ich geschaut hatte.

Die Empfindung des Widerspruchs von Leben und Tod, von Form und Unform, wie sie mich hier durchdrang, haben die Alten auf einigen Pompejanischen Bildern unübertrefflich dargestellt. Perseus sitzt mit der befreiten Andromeda auf einem Felsen am Wasser. Sie halten sich zärtlich umschlungen. Andromeda, der weiblichen Neugier folgend, hat dem Geliebten abgeschmeichelt, ihr das Haupt der Medusa zu zeigen. Aber dies entsetzliche Haupt tödtet auch noch den, der es anschaut. Wie soll er den frivolen Wunsch Andromeda's erfüllen? Er wird ihr nur das Bild der Medusa im Wasserspiegel zeigen. Da sitzen nun Beide, so jung, so schön, so liebeglühend, so allein in der Einöde und doch so glücklich und im Glück doch so frivol. In schauersüßem Beben schmiegen sie sich aneinander und Perseus hält das gräßliche Haupt über ihren Köpfen. Läßt sich, wie das Häßliche die Schönheit, wie der Tod das Leben in ihrer Fülle bedrohen, herrlicher malen, als die Alten es in diesem tiefsinnigen Bilde gethan haben?

Quelle:
Rosenkranz, Karl: Von Magdeburg bis Königsberg. Leipzig 1878, S. 48-72.
Lizenz:

Buchempfehlung

Jean Paul

Des Luftschiffers Giannozzo Seebuch

Des Luftschiffers Giannozzo Seebuch

Als »Komischer Anhang« 1801 seinem Roman »Titan« beigegeben, beschreibt Jean Paul die vierzehn Fahrten seines Luftschiffers Giannozzos, die er mit folgenden Worten einleitet: »Trefft ihr einen Schwarzkopf in grünem Mantel einmal auf der Erde, und zwar so, daß er den Hals gebrochen: so tragt ihn in eure Kirchenbücher unter dem Namen Giannozzo ein; und gebt dieses Luft-Schiffs-Journal von ihm unter dem Titel ›Almanach für Matrosen, wie sie sein sollten‹ heraus.«

72 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Michael Holzinger hat sechs eindrucksvolle Erzählungen von wütenden, jungen Männern des 18. Jahrhunderts ausgewählt.

468 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon