Fünftes Kapitel.
Grundsätze der Dynamik

[323] In der Anschauung selbst war ein steter Wechsel und ein stetes Zusammentreffen entgegengesetzter Tätigkeiten. Diesen Wechsel endet der Geist dadurch, daß er frei, wie er ist, zu sich selbst zurückkehrt. Jetzt tritt er wieder in seine Rechte ein, er fühlt sich als freies, selbständiges Wesen. Dies kann er aber nicht, ohne zugleich dem Produkt, das ihn gefesselt hielt, Selbstdasein und Unabhängigkeit zu geben. Jetzt zuerst stellt er sich, als freies, betrachtendes Wesen dem Wirklichen gegenüber, und jetzt zuerst steht es als Objekt vor dem Richterstuhl des Verstandes. Subjektive und objektive Welt scheiden sich; die Anschauung wird Vorstellung.[323]

Aber122 in dem Objekt sind zugleich jene entgegengesetzten Tätigkeiten, aus denen es in der Anschauung hervorging, permanent geworden. Der geistige Ursprung des Objekts liegt jenseits des Bewußtseins. Denn mit ihm erst entstand das Bewußtsein. Es erscheint daher als etwas, das völlig unabhängig von unserer Freiheit da ist. Jene entgegengesetzten Tätigkeiten also, die die Anschauung in ihm vereinigt hat, erscheinen als Kräfte, die dem Objekt an sich selbst, ohne allen Bezug auf ein mögliches Erkenntnis, zu kommen. Für den Verstand sind sie etwas bloß Gedachtes und durch Schlüsse Gefundenes. Aber er setzt sie als reell voraus, weil sie aus der Natur unseres Geistes und der Anschauung selbst notwendig hervorgehen.

Hier ist nun der Ort, dem Begriff von Grundkräften der Materie seine Realität, aber auch seine Schranken zu sichern. Kraft überhaupt ist ein bloßer Begriff des Verstandes, also etwas, was unmittelbar gar kein Gegenstand der Anschauung sein kann. Dadurch ist diesem Begriff nicht nur sein Ursprung, sondern auch sein Gebrauch angewiesen. – Aus dem Verstände entsprungen, läßt er völlig unbestimmt, was ursprünglich auf uns gewirkt hat. Denn er gilt nur von dem Produkt der Anschauung, insofern ihm der Verstand Substantialität (Selbstdasein) gegeben hat. Das Produkt der Anschauung selbst aber ist nichts Ursprüngliches, sondern ein gemeinschaftliches Produkt objektiver und subjektiver Tätigkeit (so drücken wir uns der Kürze halber aus, nachdem die Sache selbst deutlich genug gemacht ist, um möglichen Mißverständnissen vorzubeugen). Die Grundkräfte der Materie sind also nichts weiter, als der Ausdruck jener ursprünglichen Tätigkeiten für den Verstand, die Reflexion, nicht das wahre An-sich, welches nur in der Anschauung ist;123 und so wird es uns leicht werden, sie vollends ganz zu bestimmen.

Die eine jener Tätigkeiten, welche die Anschauung vereinigt[324] hat, ist ursprünglich positiv, ihrer Natur nach unbeschränkt; nur durch eine entgegengesetzte Tätigkeit beschränkbar. Die Kraft also, welche ihr im Objekt entspricht, wird gleichfalls eine positive Kraft sein, die, wenn sie auch beschränkt ist, wenigstens gegen die Beschränkung ein Bestreben äußert, das unendlich ist, und durch keine entgegengesetzte Kraft je völlig aufgehoben oder vernichtet werden kann. Dieser Grundkraft der Materie also kann ich mich nicht anders versichern, als dadurch, daß ich entgegengesetzte Kräfte auf sie handeln lasse. Das Bestreben nun, das sie gegen solche Kräfte äußert, kündigt sich, wenn ich selbst diese Kraft anwende, meinem Gefühle als eine zurücktreibende, repellierende Kraft an. Diesem Gefühl gemäß schreibe ich der Materie überhaupt zu eine repulsive Kraft, das Bestreben aber, das sie jeder auf sie wirkenden Kraft entgegensetzt, denke ich als Undurchdringlichkeit, und diese nicht als absolut, sondern als unendlich (dem Grade nach).

Die andere ursprüngliche Tätigkeit ist beschränkend, ursprünglich-negativ, und in dieser Eigenschaft gleichfalls unendlich.

Die Kraft also, die ihr im Objekt entspricht, muß gleichfalls negativer Art und ursprünglich beschränkend sein. Da sie nur im Gegensatz gegen eine positive Kraft Wirklichkeit hat, so muß sie der repulsiven geradezu entgegengesetzt, d.h. sie muß attraktive Kraft sein.

Ferner: die ursprüngliche Tätigkeit des menschlichen Geistes ist völlig unbestimmt; sie hat keine Grenze, also auch keine bestimmte Richtung, oder vielmehr, sie hat alle möglichen Richtungen, die nur noch nicht unterschieden werden können, so lange sie alle gleich unendlich sind. Wird aber die ursprüngliche Tätigkeit durch die entgegengesetzte beschränkt, so werden alle jene Richtungen endliche, bestimmte Richtungen, und die ursprüngliche Tätigkeit handelt jetzt nach allen möglichen bestimmten Richtungen. Diese Handlungsweise des Geistes, allgemein aufgefaßt, gibt den Begriff vom Raum, der nach drei Dimensionen ausgedehnt ist.

Dies angewandt auf die repulsive Kraft, gibt den Begriff[325] von einer Kraft, die nach allen möglichen Richtungen handelt, oder was dasselbe ist, den Raum nach drei Dimensionen zu erfüllen strebt.

Eine ursprünglich-negative Kraft hat, als solche, gar keine Richtung. Denn insofern sie schlechthin beschränkend ist, ist sie in bezug auf den Raum Einem Punkte gleich. Insofern sie aber im Streit gedacht wird mit einer entgegengesetzten positiven Tätigkeit, ist ihre Richtung durch die letztere bestimmt. Umgekehrt aber kann auch die positive Tätigkeit auf die negative, nur nach dieser Einen Richtung zurückwirken. Und so haben wir eine Linie zwischen zwei Punkten, die vorwärts ebensogut als rückwärts beschrieben werden kann.

Diese Linie beschreibt auch der menschliche Geist wirklich im Zustand der Anschauung. Dieselbe Linie, in welcher seine ursprüngliche Tätigkeit reflektiert wurde, beschreibt er wieder, indem er auf den Punkt des Widerstands zurückwirkt. Diese Handlungsweise des menschlichen Geistes allgemein aufgefaßt, gibt den Begriff von Zeit, die nur nach Einer Dimension ausgedehnt ist.

Wendet man dies auf die attraktive Kraft der Materie an, so ist sie eine Kraft, die nur nach Einer Dimension wirkt, oder (anders ausgedrückt) eine Kraft, die für alle mögliche Linien ihrer Tätigkeit nur Eine Richtung hat. Diese Richtung gibt der idealische Punkt, in welchem man sich alle Teile der Materie vereinigt denken müßte, wenn die Anziehungskraft absolut wäre. Wäre die Materie in Einen mathematischen Punkt vereinigt, so wäre sie keine Materie mehr, der Raum hörte auf erfüllt zu sein. Insofern kann man die Attraktivkraft im Gegensatz gegen die Repulsivkraft (die den Raum zu erfüllen bestrebt ist), auch als eine solche beschreiben, die den Raum aufs Leere zurückzubringen bestrebt ist. Wenn jene aller Grenze schlechthin entgegenstrebt, so strebt diese umgekehrt alles auf absolute Grenze (den mathematischen Punkt) zurückzubringen. Jene, in ihrer Schrankenlosigkeit gedacht, wäre Raum ohne Zeit, Sphäre ohne Grenze, diese, gleichfalls schrankenlos, wäre Zeit ohne Raum, Grenze ohne Sphäre. Daher kommt es, daß Raum nur bestimmbar ist durch Zeit, und daß im unbestimmten,[326] absoluten Raum nichts nacheinander, alles nur zugleich gedacht werden kann. Daher ferner, daß Zeit nur durch Raum bestimmbar ist, daß in einer absoluten Zeit nichts außer-einander (alles in Einen Punkt) vereinigt gedacht werden muß.

Der Raum ist nichts anders als die unbestimmte Sphäre meiner geistigen Tätigkeit, die Zeit gibt ihr Grenze. Die Zeit dagegen ist, was an sich bloße Grenze ist und nur durch meine Tätigkeit Ausdehnung gewinnt.

Da nun jedes Objekt ein endliches, bestimmbares sein muß, so ist von selbst offenbar, daß es weder Grenze ohne Sphäre, noch Sphäre ohne Grenze sein kann. Wird es ein Gegenstand des Verstandes, so ist es die Repulsivkraft, die ihm Sphäre, und die Attraktivkraft, die ihm Grenze gibt. Beide sind also Grundkräfte, d.h. solche Kräfte der Materie, die, als notwendige Bedingungen ihrer Möglichkeit, aller Erfahrung und aller erfahrungsmäßigen Bestimmung vorangehen. Alles Objekt der äußern Sinne ist als solches notwendig Materie, d.h. ein durch anziehende und zurückstoßende Kräfte begrenzter und erfüllter Raum.

Nun sind wir mit unsern Untersuchungen bei dem Punkte angekommen, wo der Begriff von Materie einer analytischen Behandlung fähig wird, und die Grundsätze der Dynamik aus diesem Begriffe allein mit Fug und Recht abgeleitet werden können. Dieses Geschäft aber ist in Kants metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft mit einer solchen Evidenz und Vollständigkeit geschehen, daß hier nichts weiter zu leisten übrig ist. Folgende Sätze stehen also hier, teils des Zusammenhangs wegen, als Auszüge aus Kant, teils als zufällige Bemerkungen über die von ihm aufgestellten Grundsätze.

Die Materie erfüllt einen Raum nicht durch ihre bloße Existenz (denn dies annehmen, heißt alle weitere Untersuchung ein für allemal abschneiden), sondern durch eine ursprünglich-bewegende Kraft, durch welche erst die mechanische Bewegung der Materie möglich ist124. Oder vielmehr: Die Materie ist selbst nichts anders, als eine bewegende Kraft, und unabhängig von einer solchen, sie ist höchstens etwas bloß Denkbares,[327] aber nimmermehr etwas Reales, das Gegenstand einer Anschauung sein kann.

Dieser ursprünglich-bewegenden Kraft steht notwendig gegenüber eine andere gleichfalls ursprünglich-bewegende Kraft, die sich von jener nur durch die umgekehrte Richtung unterscheiden kann. Dies ist Anziehungskraft. Denn, hätte die Materie bloß repel lierende Kräfte, so würde sie sich ins Unendliche zerstreuen, und in keinem möglichen Raume wäre eine bestimmte Quantität Materie anzutreffen. Folglich würden alle Räume leer und eigentlich gar keine Materie da sein. Da nun repulsive Kräfte weder durch sich selbst (denn sie sind lediglich positiv), noch durch den leeren Raum (denn obgleich ausdehnende Kraft im umgekehrten Verhältnis des Raums schwächer wird, so ist doch kein Grad derselben der kleinstmögliche – quovis dabili minor) noch durch andere Materie (die wir noch nicht voraussetzen dürfen), ursprünglich beschränkt werden können, so muß eine ursprüngliche Kraft der Materie, welche in entgegengesetzter Direktion der repulsiven wirkt, d.h. eine Anziehungskraft angenommen werden, die nicht einer besondern Art von Materie, sondern der Materie überhaupt, als solcher, zukommt125.

Es fragt sich nun nicht weiter, warum diese zwei Grundkräfte der Materie notwendig sind. Die Antwort ist: weil ein Endliches überhaupt nur Produkt zweier entgegengesetzter Kräfte sein kann. Aber es fragt sich: wie Anziehungs- und Zurückstoßungskraft zusammenhangen, welche von beiden die ursprüngliche ist.

Die Zurückstoßungskraft haben wir bereits als positive, die entgegengesetzte als negative Kraft bestimmt. (Schon Newton erläuterte die Anziehungs kraft durch das Beispiel der negativen Größen in der Mathematik.) Daraus ist klar, daß, weil das Negative überhaupt in logischer Bedeutung nichts an sich selbst, sondern nur die Verneinung des Positiven ist (wie Schatten, Kälte usw.), die Zurückstoßungskraft der Anziehungskraft [328] logisch vorangehen muß. Allein die Frage ist, welche von beiden der andern in der Wirklichkeit vorangehe, und darauf ist die Antwort: keine von beiden; jede einzelne ist nur da, insofern ihre entgegengesetzte da ist, d.h. sie sind selbst in bezug aufeinander wechselseitig positiv und negativ, jede einzelne beschränkt notwendig die Wirkung der andern, und nur dadurch werden sie ursprüngliche Kräfte einer Materie.

Denn man nehme an, daß repulsive Kraft der negativen in der Wirklichkeit vorangehe, so ist doch Zurückstoßung nur zwischen zwei Punkten denkbar. Die Zurückstoßung läßt sich gar nicht anschaulich machen, ohne einen Punkt anzunehmen, von dem sie ausgeht, und der insofern ihre Grenze ist, und einen andern, auf den sie wirkt, gleichfalls ihre Grenze. Eine nach allen Richtungen hin grenzenlose Zurückstoßung ist gar kein Gegenstand möglicher Vorstellung mehr. Dieser Satz zeigt sich in den Anwendungen, welche die Physik davon macht, sehr deutlich. Die Zurückstoßungskraft der Körper, insofern sie ihren bestimmten Grad hat, heißt Elastizität. Allein die Physik läßt die Elastizität nur zwischen zwei Extremen zu (dem der unendlichen Ausdehnung und dem der unendlichen Zusammendrückung), wovon sie keines für real-möglich hält. Die Physik stellt von elastischen Flüssigkeiten, z.B. von der Luft, den Satz auf, daß ihre Elastizität im umgekehrten Verhältnis steht mit dem Raum, den sie einnimmt, oder, was dasselbe ist, im geraden Verhältnis mit der Zusammendrückung, die sie erleidet. Also muß sie auch den Satz annehmen, daß die Elastizität z.B. der Luft geringer wird im umgekehrten Verhältnisse des Raums, in dem sie sich ausdehnt. Auf diesen Voraussetzungen beruht der Mechanismus der Feder: denn es kann kein Druck auf sie ausgeübt werden, noch kann sie diesem entgegenwirken anders als im Verhältnis der Anziehung, die zwischen ihren einzelnen Teilen (denen, welche der Spitze des Winkels am nächsten sind) stattfindet. Also ist offenbar, daß die zurückstoßende Kraft selbst die anziehende voraussetzt; denn sie kann nur als zwischen Punkten wirkend vorgestellt werden. Diese aber (als Grenzen der Repulsivkraft) setzen eine entgegengesetzte anziehende Kraft voraus. Könnte die Materie je aufhören, unter sich zusammenzuhängen,[329] so hörte sie auch auf, sich zurückzustoßen, und die Repulsivkraft in ihrer Schrankenlosigkeit hebt sich selbst auf.

Daß attraktive Kraft der repulsiven vorangehe, zu behaupten, ist man wegen des negativen Charakters der letztern bei weitem weniger geneigt. Indes haben doch einige nicht unberühmte Naturforscher, z.B. Büffon, Hoffnung gemacht, daß es wohl gelingen möchte, auch die Repulsivkraft auf die attraktive zurückzuführen. Sie scheinen sich aber durch die Unmöglichkeit, Zurückstoßung ohne Anziehung zu denken, getäuscht zu haben, weil sie nicht bedachten, daß auch umgekehrt Anziehung ohne Zurückstoßung undenkbar ist. Sie verwandelten daher sehr unrecht das Verhältnis der wechselseitigen Unterordnung, das zwischen diesen beiden Kräften stattfindet, in ein Verhältnis der einseitigen (der einen unter die andere). Denn auch Anziehung ist nur zwischen Punkten vorstellbar. Allein vermöge der bloßen Anziehung gibt es keine Punkte, sondern nur einen imaginären Punkt (die absolute Grenze). Um also die Anziehung auch nur vorstellen zu können, muß ich zwischen zwei Punkten Zurückstoßung voraussetzen.

Zurückstoßungskraft ohne Anziehungskraft ist formlos; Anziehungskraft ohne Zurückstoßungskraft objektlos. Jene repräsentiert die ursprüngliche, bewußtlose, geistige Selbsttätigkeit, die ihrer Natur nach unbeschränkt ist, diese die bewußte, bestimmte Tätigkeit, die allem erst Form, Schranke und Umriß gibt. Das Objekt aber ist nie ohne seine Schranke, die Materie nie ohne ihre Form. In der Reflexion mag man beides trennen; in der Wirklichkeit es getrennt zu denken, ist widersinnig. Weil aber, nach einer gewöhnlichen Täuschung, das Objekt früher in der Vorstellung da zu sein scheint, als seine Form (es ist aber nie ohne diese da, sondern schwebt nur in jenem Zustande zwischen unbestimmten, Ungewissen Umrissen), so erhält das Materiale der Vorstellung, in bezug auf jene (unter Philosophen sehr gemeine) Täuschung, eine gewisse Ursprünglichkeit vor dem Formalen des Objekts, obgleich in der Wirklichkeit keines ohne das andere und das eine nur durch das andere da ist.

Ferner: beide Kräfte in ihrer Schrankenlosigkeit gedacht, sind nur noch negativ-vorstellbar: Zurückstoßungskraft als[330] Negation aller Grenze, Anziehungskraft als Negation aller Größe. Allein, weil die Negation einer Negation doch etwas Positives ist, so läßt die absolute Negation aller Grenze wenigstens eine unbestimmte Idee von etwas Positivem überhaupt übrig, welchem die Einbildungskraft eine momentane Wirklichkeit leiht. Dagegen läßt uns die absolute Negation aller Größe, d.h. die Anziehungskraft absolut gedacht, nicht nur keinen Begriff von einem bestimmten Objekt, sondern überhaupt keinen Begriff von einem Objekt übrig. Die Vorstellung, die sie uns läßt, ist die eines idealischen Punkts, den wir uns nicht einmal, wie Kant will126, als den Richtungspunkt der Anziehung denken können, ohne einen zweiten Punkt außer ihm (d.h. Zurückstoßung zwischen ihm und einem andern) vorauszusetzen. Wenn daher Kant127 sagt, daß man sich hüten solle, die Anziehungskraft als im Begriffe der Materie enthalten zu denken, so ist die Rede nur davon: die Anziehungskraft sei kein bloß logisches Prädikat der Materie. Denn, wenn man dem Ursprung dieses Begriffs synthetisch nachforscht, so gehört Anziehungskraft notwendig zu seiner Möglichkeit (in bezug auf unser Erkenntnisvermögen). Allein keine Analysis überhaupt ist möglich ohne Synthesis, und so ist es freilich leicht möglich, die ursprüngliche Anziehungskraft aus dem bloßen Begriff der Materie abzuleiten, nachdem man ihn vorher synthetisch erzeugt hat. Allein man darf nicht glauben, dieselbe aus einem – ich weiß nicht welchem – bloß logischen Begriffe der Materie nach dem Grundsatz des Widerspruchs allein ableiten zu können. Denn der Begriff der Materie ist selbst, seinem Ursprunge nach, synthetisch; ein bloß logischer Begriff der Materie ist sinnlos, und der reale Begriff der Materie geht selbst erst aus der Synthesis jener Kräfte durch die Einbildungskraft hervor.

Was also an der Materie Form, Schranke, Bestimmung ist, werden wir auf die Anziehungskraft zurückführen müssen. Daß überhaupt eine Materie etwas Reales ist, werden wir der Repulsivkraft zuschreiben: daß aber dieses Reale[331] unter diesen bestimmten Schranken, dieser bestimmten Form erscheint, muß nach Gesetzen der Anziehung erklärt werden. Deswegen können wir auch die Zurückstoßungskraft in der Anwendung nicht weiter gebrauchen, als um überhaupt begreiflich zu machen, wie eine materielle Welt möglich sei. Sobald wir aber erklären wollen, wie ein bestimmtes System der Welt möglich sei – bringt uns die Repulsivkraft um keinen Schritt weiter.

Den Bau des Himmels und die Bewegungen der Weltkörper können wir einzig und allein aus Gesetzen der allgemeinen Anziehung erklären. Nicht, als ob wir uns ein System von Weltkörpern überhaupt ohne Voraussetzung einer Repulsivkraft denken könnten. Dies ist nach dem obigen unmöglich. Aber die Repulsivkraft ist doch nur die negative Bedingung (die conditio sine qua non) für ein bestimmtes System von Weltkörpern, nicht aber die positive Bedingung, unter welcher allein gerade dieses bestimmte System möglich ist. Als eine solche Bedingung können wir allein die Gesetze der allgemeinen Anziehung betrachten, weil von dieser allein alles abgeleitet werden muß, was an der Materie oder in einem System (das auf Grundkräften der Materie beruht) Form und Bestimmung ist. Die Zentrifugalkraft, auf die Bewegungen der Weltkörper angewandt, ist also ein bloßer Ausdruck des Phänomens, das, wenn es auf sein Prinzip zurückgeführt wird, zuletzt wiederum in ein Verhältnis der den Körpern inwohnenden Attraktivkraft, wel che sie selbständig macht, sich auflösen möchte128.

Dies vom Gebrauch der dynamischen Philosophie im großen. Jetzt von ihrer Anwendung auf einzelne Begriffe.

Die Grundkräfte der Materie können in ihrer Schrankenlosigkeit gar nicht vorgestellt werden, d.h. es muß über jeden Grad einer solchen Kraft ein höherer, und zwischen jedem möglichen Grad und dem Zero eine Unendlichkeit von Mittelgraden möglich sein. Das Maß einer Grundkraft also ist allein der Grad von Kraft, den eine äußere Kraft anwenden muß, entweder den Körper zusammenzudrücken, oder den Zusammenhang seiner[332] Teile aufzuheben. »Die expansive Kraft einer Materie nennt man auch Elastizität. Alle Materie ist demnach ursprünglich elastisch«129. Man muß also unterscheiden zwischen absoluter und relativer Elastizität. Von der letztern gebraucht man das Wort Elastizität gewöhnlich. In diesem Sinn aber kann die Elastizität der Körper nicht allein das Maß ihrer Expansivkraft abgeben.

Denn wenn man Körper in dieser Rücksicht miteinander vergleichen will, so muß Volumen und Masse mit in Anschlag genommen werden, so daß in Rücksicht auf die Quantität der Expansivkraft das doppelte Volumen mit einfacher Masse gleich gilt der doppelten Masse mit einfachem Volumen.

Ferner, da jedem Körper Elastizität ursprünglich zukommt, so kann die Materie ins Unendliche zusammengedrückt, niemals aber durchdrungen werden130; denn dies setzte eine völlige Vernichtung der Repulsivkraft voraus.

Läßt man die Materie ins Unendliche sich ausdehnen, so wird ihre Repulsivkraft unendlich-klein, denn sie verhält sich umgekehrt wie die Räume, in denen sie wirkt; läßt man sie ins Unendliche zusammengedrückt werden (= einem Punkt), so ist ihre Repulsivkraft unendlich-groß aus demselben Grunde. Keines von beiden aber kann stattfinden, wenn Materie möglich sein soll. Also muß man eine unendliche Menge von Graden zwischen jedem Zustand der Zusammendrückung und der Durchdringung, sowie zwischen jedem Zustand der Expansion und dem der unendlichen Ausdehnung annehmen.

Durch diese Annahme nun entgeht man der Notwendigkeit, mit dem Atomistiker letzte Körperchen anzunehmen, für deren Undurchdringlichkeit es weiter keinen Grund gibt131. Diese träge Art zu philosophieren würde auch nie so großen Beifall gefunden haben, wenn man nicht vorausgesetzt hätte, zur Erklärung des spezifischen Unterschieds der Materien sei die Annahme leerer Räume unumgänglich notwendig132. In diesem System also kann[333] man nur in sekundären Körpern, nicht aber auch in ursprünglichen Körperteilchen Zusammendrückbarkeit zulassen.

Diese Notwendigkeit ist nun völlig aufgehoben dadurch, daß man die Materie ursprünglich schon nur durch die Wechselwirkung von Kräften entstehen läßt, so daß (dem Naturgesetze der Kontinuität gemäß) zwischen jedem möglichen Grade derselben bis zum völligen Verschwinden aller Intensität (= 0) eine unendliche Menge von Zwischengraden (also unendliche Zusammendrückbarkeit ebensogut, als unendliche Ausdehnbarkeit der Materie) möglich ist.

Ferner, da die Materie nichts anders ist, als das Produkt einer ursprünglichen Synthesis (entgegengesetzter Kräfte) in der Anschauung, so entgeht man damit den Sophismen, die unendliche Teilbarkeit der Materie betreffend, indem man ebensowenig nötig hat, mit einer sich selbst mißverstehenden Metaphysik zu behaupten, die Materie bestehe aus unendlich vielen Teilen (was widersinnig ist), als mit dem Atomistiker der Freiheit der Einbildungskraft im Teilen Grenzen zu setzen. Denn wenn die Materie ursprünglich nichts anders ist als ein Produkt meiner Synthesis, so kann ich diese Synthesis auch ins Unendliche fortsetzen – meiner Teilung der Materie ins Unendliche fort ein Substrat geben. Dagegen wenn ich die Materie aus unendlichen Teilen bestehen lasse, leihe ich ihr eine von meiner Vorstellung unabhängige Existenz und gerate so in die unvermeidlichen Widersprüche, die mit der Voraussetzung der Materie, als eines Dinges an sich selbst, verknüpft sind133. – Nichts aber beweist evidenter, daß die Materie kein für sich bestehendes Ding sein kann, als ihre Teilbarkeit ins Unendliche. Denn sie mag geteilt werden, so viel sie will, so finde ich nie ein andres Substrat derselben, als dasjenige, was ihr meine Einbildungskraft leiht.

Daß die Materie aus Teilen bestehe, ist ein bloßes Urteil des Verstandes. Sie besteht aus Teilen, wenn und solange ich sie teilen will. Aber daß sie ursprünglich, an sich, aus Teilen bestelle, ist falsch, denn ursprünglich – in der produktiven Anschauung[334] – entsteht sie als ein Ganzes aus entgegengesetzten Kräften, und erst durch dieses Ganze in der Anschauung werden Teile für den Verstand möglich.

Endlich die Schwierigkeit, die man darin findet, die Anziehungskraft als eine in die Ferne durch den leeren Raum wirkende Kraft anzusehen, verschwindet, sobald man bedenkt, daß die Materie ursprünglich nur durch anziehende Kräfte wirklich ist, und daß kein Körper ursprünglich gedacht werden kann, ohne daß man bereits einen andern außer ihm annehme, von dem er angezogen werde und gegen welchen er hinwiederum seine Anziehungskräfte richte.

Auf diesen dynamischen Grundsätzen beruht nun erst die Möglichkeit einer Mechanik; denn es ist klar, daß das Bewegliche durch seine Bewegung (durch Stoß) keine bewegende Kraft haben würde, wofern es nicht ursprünglich-bewegende Kräfte besäße134, und so ist die mechanische Physik in ihren Fundamenten untergraben. Denn es erhellt, daß sie eine völlig verkehrte Art zu philosophieren ist, da man voraussetzt, was man zu erklären versucht, oder vielmehr, was man mit Hilfe dieser Voraussetzung selbst umstoßen zu können vermeint.

122

Jetzt erst, da das Produkt der Anschauung Selbstdasein hat, kann der Verstand eintreten, es als Objekt aufzufassen und festzuhalten. Das Objekt steht vor ihm als etwas, das unabhängig von ihm da ist. Aber... (Erste Aufl.)

123

die Reflexion – in der Anschauung ist (Zusatz der zweiten Auflage).

124

Kant S. 33. [2. ed. Hart. IV, 388; ed. Kirchm. VII, 205 f.]

125

Kant S. 53. [2. ed. Hart. IV, 400; ed. Kirchm. VII, 220.] – Es ist also klar, daß jede dieser beiden Kräfte in ihrer Schrankenlosigkeit gedacht auf absolute Negation (das Leere) führt.

126

S. 56. [2. ed. Hart. IV, 402; ed. Kirchm. VII, 222.]

127

S. 54. [Ebd. IV, 401; ed. Kirchm. VII, 220.]

128

Die Zentrifugalkraft – ist also ein bloßer Ausdruck des Phänomens, das, wenn es erklärt werden soll, allein aus dem Verhältnis der Anziehungskraft; der Körper zu ihrer Entfernung voneinander erklärbar ist (Erste Auflage).

129

Kant S. 37. [2. ed. Hart. IV, 391; ed. Kirchm. VII, 208.]

130

S. 39. [Ebd. 392; ed. Kirchm. VII, 210.]

131

S. 41. [Ebd. 393; ed. Kirchm. VII, 211.]

132

S. 101. [Ebd. 428; ed. Kirchm. VII, 252 f.]

133

Kant S. 47. [2. ed. Hart. IV, 397; ed. Kirchm. VII, 215 f.]

134

Kant S. 106. [2. ed. Hart. IV, 431; ed. Kirchm. VII, 256.]

Quelle:
Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling: Werke. Band 1, Leipzig 1907, S. 323-335.
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