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[81] Wäre Mathematik eine bloße Wissenschaft wie die Astronomie oder Mineralogie, so würde man ihren Gegenstand definieren können. Man kann es nicht und hat es nie gekonnt. Mögen wir Westeuropäer auch den eigenen wissenschaftlichen Zahlbegriff gewaltsam auf das anwenden, was die Mathematiker in Athen und Bagdad beschäftigte, soviel ist sicher, daß Thema, Absicht und Methode der gleichnamigen Wissenschaft dort ganz andere waren. Es gibt keine Mathematik, es gibt nur Mathematiken. Was wir Geschichte »der« Mathematik nennen, vermeintlich die fortschreitende Verwirklichung eines einzigen und unveränderlichen Ideals, ist in der Tat, sobald man das täuschende Bild der historischen Oberfläche beseitigt, eine Mehrzahl in sich geschlossener, unabhängiger Entwicklungen, eine wiederholte Geburt neuer, ein Aneignen, Umbilden und Abstreifen fremder Formen weiten, ein rein organisches, an eine bestimmte Dauer gebundenes Aufblühen, Reifen, Welken und Sterben. Man lasse sich nicht täuschen. Der antike Geist schuf seine Mathematik fast aus dem Nichts; der historisch angelegte Geist des Abendlandes, der die angelernte antike Wissenschaft schon besaß – äußerlich, nicht innerlich –, mußte die eigne durch ein scheinbares Ändern und Verbessern, durch ein tatsächliches Vernichten der ihm wesensfremden euklidischen gewinnen. Das eine geschah durch Pythagoras, das andere durch Descartes. Beide Akte sind in der Tiefe identisch.

Die Verwandtschaft der Formensprache einer Mathematik mit derjenigen der benachbarten großen Künste6 wird demnach keinem Zweifel unterliegen. Das Lebensgefühl von Denkern und Künstlern ist sehr verschieden, aber die Ausdrucksmittel ihres Wachseins sind innerlich von gleicher Form. Das Formempfinden des Bildhauers, Malers, Tondichters ist ein wesentlich mathematisches. In der geometrischen Analysis und der projektiven Geometrie des 17. Jahrhunderts offenbart sich dieselbe durchgeistigte Ordnung einer unendlichen Welt, welche die gleichzeitige Musik durch die aus der[82] Kunst des Generalbasses entwickelte Harmonik – diese Geometrie des Tonraumes –, welche die ihr verschwisterte Ölmalerei durch das Prinzip einer nur dem Abendland bekannten Perspektive – dieser gefühlten Geometrie des Bildraumes – ins Leben rufen, ergreifen, durchdringen möchte. Sie ist das, was Goethe die Idee nannte, deren Gestalt im Sinnlichen unmittelbar angeschaut werde, während die bloße Wissenschaft nicht anschaue, sondern nur beobachte und zergliedere. Aber die Mathematik geht über Beobachten und Zergliedern hinaus. Sie verfährt in ihren höchsten Augenblicken visionär, nicht abstrahierend. Von Goethe stammt auch das tiefe Wort, daß der Mathematiker nur insofern vollkommen sei, als er das Schöne des Wahren in sich empfinde. Hier wird man fühlen, wie nahe das Geheimnis im Wesen der Zahl dem Geheimnis der künstlerischen Schöpfung liegt. Damit tritt der geborene Mathematiker neben die großen Meister der Fuge, des Meißels und des Pinsels, die ebenfalls jene große Ordnung aller Dinge, die der bloße Mitmensch ihrer Kultur in sich trägt, ohne sie wirklich zu besitzen, in Symbole kleiden, verwirklichen, mitteilen wollen und müssen. Damit wird das Reich der Zahlen zum Abbild der Weltform neben dem Reich der Töne, Linien und Farben. Deshalb bedeutet das Wort »schöpferisch« im Mathematischen mehr als in den bloßen Wissenschaften. Newton, Gauß, Riemann waren künstlerische Naturen. Man lese nach, wie ihre großen Konzeptionen sie plötzlich überfielen. »Ein Mathematiker«, meinte der alte Weierstraß, »der nicht zugleich ein Stück von einem Poeten ist, wird niemals ein vollkommener Mathematiker sein.«

Mathematik ist also auch eine Kunst. Sie hat ihre Stile und Stilperioden. Sie ist nicht, wie der Laie meint – auch der Philosoph, insofern er hier als Laie urteilt –, der Substanz nach unveränderlich, sondern wie jede Kunst von Epoche zu Epoche unvermerkten Wandlungen unterworfen. Man sollte die Entwicklung der großen Künste nie behandeln, ohne auf die gleichzeitige Mathematik einen gewiß nicht unfruchtbaren Seitenblick zu werfen. Einzelheiten in den sehr tiefen Beziehungen zwischen den Wandlungen der Musiktheorie und der Analysis des Unendlichen sind nie untersucht worden, obwohl die Ästhetik mehr daraus hätte lernen können als aus aller[83] »Psychologie«. Noch aufschlußreicher würde eine Geschichte der Musikinstrumente sein, wenn sie nicht, wie es immer geschieht, von den technischen Gesichtspunkten der Tonerzeugung, sondern von den letzten seelischen Gründen der angestrebten Tonfarbe und -wirkung aus behandelt würde. Denn der bis zur Sehnsucht gesteigerte Wunsch, eine raumhafte Unendlichkeit von Klängen herauszubilden, hat im Gegensatz zur antiken Leier und Schalmei (Lyra, Kithara; Aulos, Syrinx) und zur arabischen Laute schon in gotischer Zeit die beiden herrschenden Familien der Orgel (Klavier) und Streichinstrumente hervorgebracht. Beide sind, welches auch ihre technische Herkunft gewesen sein mag, ihrer Tonseele nach im keltisch-germanischen Norden zwischen Irland, Weser und Seine ausgebildet worden, Orgel und Klavichord sicherlich in England. Die Streichinstrumente haben 1480–1530 in Oberitalien ihre endgültige Gestalt erhalten; die Orgel hat sich hauptsächlich in Deutschland zu dem raumbeherrschenden Einzelinstrument von riesenhafter Größe entwickelt, das in der gesamten Musikgeschichte nicht seinesgleichen hat. Das freie Orgelspiel Bachs und seiner Zeit ist durchaus Analysis einer ungeheuren und weiträumigen Tonwelt. Und ebenso entspricht es der inneren Form des abendländischen und nicht des antiken mathematischen Denkens, wenn die Streich- und Blasinstrumente nicht einzeln, sondern nach den menschlichen Stimmlagen in ganzen Gruppen von gleicher Klangfarbe entwickelt werden (Streichquartett, Holzbläser, Posaunenchor), so daß die Geschichte des modernen Orchesters mit allen Erfindungen neuer und Verwandlungen alter Instrumente in Wirklichkeit die Einheitsgeschichte einer Klangwelt ist, die sich sehr wohl mit Ausdrücken der höheren Analysis beschreiben ließe.

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Und ebenso des Rechtes und des Geldes, vgl. Bd. II, S. 624 ff., 1175 f.

Quelle:
Oswald Spengler: Der Untergang des Abendlandes. München 1963, S. 81-84.
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