Kunst

[168] 209


Bautechnik und Baukunst ist zweierlei. Die eine kann, als instinktiver Ausdruck eines seelischen Dranges, zu gewaltigen Leistungen führen, wofür die großen Steinbauten im Westen zeugen, die andre ist bewußter und gewollter künstlerischer Entwurf. Das gibt es nur in Hochkulturen – und als deren Nachahmung. Ägypten hatte ›Architektur‹, Kreta hatte sie nicht. Das Atreusgrab ist von ägyptisch geschulten Steinmetzen errichtet worden – wie die Basiliuskathedrale in Moskau von Florentinern, der Dom in Aachen von Byzantinern.


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OrnamentImitation

Süd (Spuren bis Siam)(Irland – Kreta)

›abstrakt‹, symbolisch›konkret‹, realistisch

bedeutend.seiend.


Alle d-Kultur seit 1500 [zeigt] den innerlichen Kampf zwischen diesem Ausdrucksschicksal (Strzygowski, Renaissance, Chinesische Malerei, Tierornamentik, Bilderverbot). Imitation in Flächenbildung, Plastik, Bau (Körper des Baues). Ornament in Musik, Tierornament, Lösung des Baues in Räumen, Landschaft etc. Addition, mechanische Summierung der Einzelmotive. Organisation, bedeutend, das Ganze als Einheit [gesehen]. Beides in Ornament wie in Imitation möglich.[168]

Organisation in Ornament: nordisch (Scheltema), Dom, Sinfonie, Rembrandt. Addition in Ornament: Arabeske, Moscheehof. Organisation in Imitation: Raffael. Addition [in Imitation]: Ägyptisches Relief.


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Kunstgeschichte: Was ist ›schön‹? Häßlich, Gehaßtes, haissable? Schön – die Geliebte, [das] Reizende, Lockende. Ein Urgefühl. Schöpferischer Trieb in Auge und Hand. Etwas machen, dessen Ausführung gefällt. Heute gehen wir immer von dem Gefühl des untätigen Betrachtens aus. Auch der ›Künstler‹, der den Betrachter locken will. Der selbst im Geiste sein Werk betrachtet, seine ›Idee‹.

Ursprünglich aber ist es die Wollust des Malens, Meißelns, Knetens. ›Schön‹ – wie die Wollust des Essens, Trinkens, Liebens, Tötens, Siegens. Die Lust in der Führung von Pinsel, Meißel, Faden stammt von der in der Führung von Dolch, Bogen, Lanze. Vor allem der Dolch! Ein guter Stich! Das ist bildende Kunst. Anders der Ausführende – Tanz, Mimik. Wollust der Bewegung, Rhythmus, oder Lust am Nachäffen, das Ich ins Du verwandeln, Maske, Gesichter schneiden, Karikatur. Das verschmilzt mit dem Malen und Kneten zu bildhafter Imitation. Gesang ist wieder anders, Entladung. Nicht das Hören, sondern das Singen selbst ist der Anfang. Wortlos. Die Melodiebildung (Juchzer). Wieder anders die Idee des Musikinstruments. Angenehme Klänge hervorbringen. Bogensehne, Muschel, Röhre. Nicht Melodie (Juchzer), sondern Ton (immer derselbe). Kunst des Auges gibt es nicht, sondern Kunst für das Auge. Aber Kunst der Hand, der Stimme, des Leibes. Von [der] Kunst der Hand – malen, stricheln – geht die Kunst des Schreibens, Aufschreibens aus. Kunst des Wortes. Melodie in Worten singen, in Sätzen eine Szene malen (Jägerlatein), Rätsel.


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Kunst ist Instinkt, ›Genie‹, schöpferisches Spiel, nichts Geistiges, Eine Wendung tritt in c ein: die Sprache, der Geist, das Denken von[169] Ursache, Wirkung, Zweck, Mittel läßt die ›naive‹, instinktive Kunst bestehen, entwickelt aber darüber hinaus eine ›bewußte Kunst‹, den Zweck, [das] Mittel, [das] Ver fahren: Aus der Kunst des Totem entsteht die des Tabu: die religiöse, rituelle der Bauten, Symbole, nicht des bedeutenden, sondern des vielbedeutenden Bildens.

Die Symbolik der Religion, des Herrschens [und des] Krieges. Diese Kunst wird [zur] Theologie, [zur] priesterlichen Kunst. Die adlige Kunst bleibt dahinter zurück.


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Dichten oder Einordnung der Wortsprache in die Kunst: Lyrik ist nicht die älteste [Kunst]. Der Gesang hat noch lange nicht des Wortes bedurft (la-la-la), es genügten die Laute. Daß man das Bedürfnis empfand, beim Singen Sätze zu gebrauchen, setzt schon eine hohe Gewöhnung ans Sprechen voraus. Ebenso sind Szenen ihrer Natur nach nur mimisch, nachäffend. In beides schleichen sich die ersten Sätze gewissermaßen heimlich ein. Es fließen etwa beim Singen ein paar wirkliche oder halbe Worte mit unter, zwischen la-la wird unwillkürlich mal eine Wortgruppe sinnlos mit abgesungen (noch heute! Wenn ein Bursch la-la singt, während ein Mädel ihn was fragt, singt er in derselben Melodie weiter ›weiß ich nicht‹ –).

Das erste Dichten ist Erzählen. Z.B. prahlerische Abenteuer (Aufschneiden, Jägerlatein). Diese alten Urerzählungen haben etwas Ungeheuerliches. Darin Hegt ihr Reiz. Die Träume geben oft die Art der Ereignisse wieder, unlogisch, Reiz des wüst Unmöglichen. Vergnügen, wenn der andre es glaubt: Kriegs- und Jagderfolge. Tierfabeln: symbolischer Gehalt, das Rätselvolle in der Tierseele, die man miterlebt. Dann ist die Vertiefung des Sicherinnerns fruchtbar. Man erzählt immer wieder, was einmal, damals war. Auch da verwandeln sich die Tatsachen ins Märchenhafte (Sage, Mythus, Märchen). Ahnensage, Spuk.

Die erste ›Kunst in Worten‹ geht aus dem logischen Reiz des Erfindens hervor, das hier zum ersten Male bewußt wirkt, entweder Prahlen (Eitelkeit) oder Lügen (den andren foppen) oder Fabel (Freude[170] am Phantasieren). Dagegen ist der Reiz des Metrischen an dem wortlosen Sang, an der mimischen Tanzszene haftend. Auch der erste ›Singsang‹ ist lediglich rezitierendes Erzählen mit Singstimme.


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Kunst, Dichtung: Die Sprache (Technik zu mehreren) ist fertig, als das Ausdrucksbedürfnis sich ihrer bemächtigt, wie der Farbe, des Steins, des Schnitzern. Ein einfach gegebenes Material, aber das tiefste, weil es lebendig ist. Sprechen – nicht Sprache.


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Kunstgeschichte: Die Kunst hat erst im Leben zerdachter, krank gewordener, krankhaft gespannter Menschen Bedeutung; erst seitdem die alltäglich-praktische Denkweise – der nüchterne Bauer – durch die Literatur (Buch, Zeitung, Theater, Roman, Schulbuch) verdorben wird. Seitdem ist ›Kunst‹ – d.h. als Kunst empfunden – ein Bedürfnis. In Ägypten gab es weder Kunst noch Künstler, sondern Handwerk, Religion. Als ›Kunst‹ empfanden erst wir das. D.h. wir genießen diese Dinge unabhängig vom Zweck. Eine sehr künstliche Denkweise! Für die Bauern gibt es keine ›Kunst‹. Alles ist selbstverständlich, wie es nur ein Denken gibt. Keine ›künstlerische‹ Reflexion. Das ›Wesen‹ der Kunst.


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Wurzel der Kunst: Dem rhythmischen Bedürfnis des Leibes sich hingeben – sich wiegen wie der Vogel in der Luft, der Fisch im Wellenschlag, den Urrhythmus des Alles genießen, für sich, ohne Absicht, ohne andre, – dazu gehören Gesang und Tanz, denn das Jubeln der Stimme ist überströmender Rhythmus, ebenso wie Lachen und Weinen. Daraus erst kommen nachahmende Bewegungen, Mimik, Schauspielen, ›jemanden‹ spielen. Das aber ist schon Kunst im Chor, Wirgefühl im Rhythmus.[171]

Erst sehr viel später die in Linie und Farbe nachbildende Kunst der Bilder und Plastiken. Dieses ›Bild‹ soll fürs Auge ähnlich wirken, ›darstellen‹, nach-bilden, so daß es bleibt. Musik [und] Tanz sind nur momentan und können nur wiederholt werden. Dies aber dauert. Großartig in der jüngeren Steinzeit und in Ägypten; sonst, im Norden, mehr ornamental. Großartig ferner Antike, China, Indien, wo die Gegenseele bildhaft ist und von der Oberseele ornamental geregelt wird, z.B. indem aus der Gandharakunst sofort starre Typik wird wie in Byzanz [und] Rußland, also doch wieder Ornament. Der tiefere Sinn des Nachbildern ist: festhalten wollen, verewigen.


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Episch und tragisch: Mit einem Vergleich, der mehr ist als ein solcher, weil er in die Tiefe von Formverwandtschaft reicht, kann man das Menschendasein der ab-Kulturen lyrisch nennen, insofern Lyrik Lied, Wortunsinn aus schwebendem Gefühl ohne kausale Wortziele ist. Echte Lyrik, echte, ungedruckte Volkslieder sind wie Blätter im Wind, schwebend, ohne Ende, ohne feste Worte. Die Laute sind es, nicht die Inhalte von Sätzen. Epos und Tragödie sind gesprochen, nicht gesungen, sind logische Satzfolgen als Mittel, organische beschriebene Folgen als ›Zweck‹. Die Lyrik beschreibt nicht: sie ist Ornament als Lautgebilde, nicht Imitation durch beschreibende Sätze.

Und so unterscheiden sich epische und tragische Kultur, Geschichte, Menschen: In jener wird die Fläche der Tatsachen verstanden und organisiert, in dieser die ›letzten Gründe‹. Ein Führer von 4000 sieht das Ziel aus den vorliegenden Tatsachen, ein Führer der Hochkultur aus dem Wesen der Zeiten und Räume – ob er das nun fühlt wie Sargon oder beweist wie Napoleon.


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Der ›Künstler‹: Im Anfang ist künstlerische Ausdruckssprache allgemein vorhanden, im Wir. Man versteht sich, tanzend, singend, mimend, malend, ohne Worte. Persönliche Kunst des einzelnen beginnt[172] mit dem starren Bilden, Malen, Modellieren. Das tut jeder für sich allein, nicht im Chor. Und noch mehr das Dichten. Also ist bei den Felszeichnungen sogar ein ›Selbst‹ Voraussetzung. Von da an verkümmert bei wachsendem Niveau der Persönlichkeit die künstlerische Ausdruckssprache ebenso wie das Kriegerische, um sich in Typen zu verdichten.


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Psychologie des Schmuckes. Ursprünglich Körperbemalung. Narbenzeichnung, Tätowierung, Rasieren, Zahn- und Schädeldeformation. Ohr-, Lippen-, Nasenschmuck, Behang, Haartracht. Schmuck [steht] im umgekehrten Verhältnis zur Kleidung. Schmuck [gilt] als Ausdruck des Geschlechtstriebes: Anreiz, schön [erscheinen]. Als Ausdruck von Rang, Stand, Beruf: ursprünglich absolut unpersönlich, generell. Wirsymbol des differenzierten Lebens. Schau und Ahnung. Also etwa Symbolik des Kriegers, reifen Jünglings, Mädchens. Mutter, Greis, Jäger ... Es ist die älteste Symbolik überhaupt, das älteste Ornament.


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Maximum künstlichen Ausdrucks in der Altsteinzeit, dessen ›Niedergang‹ im Neolithikum. Dazwischen liegt die Entstehung der Wortsprache, und das starre Bild wird jetzt durch die Tierfabel ersetzt. Die Einbildungskraft bis zur Vision und Halluzination muß ungeheuer gewesen sein. Was ist das? Es gibt Menschen, die nur unter dem Eindruck unmittelbarer Wahrnehmungen, und andre, die stets unter dem Eindruck ihrer Einbildungskraft handeln, realistische und phantastische Naturen. Leidenschaftlich, träumerisch, verrückt. Ideen, Einfälle haben, in Einbildungen leben.


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Ist der älteste Schmuck Ausdruck des Empfindens für ›Schönes‹? Oder ist Tracht (Bemalung, Schmuck, Kleidung) dumpf, ornamentaler[173] Ausdruck? Ist das Ornament (Ahnung der Zahlensymbolik in bildhafter Gruppierung) lange vor dem Abzählen, zuerst am Leibe, dann am Gerät entstanden? Seit wann gibt es (›weibliche‹) Eitelkeit auf den Schmuck?


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Musik (Reallexikon): Pfeifen aus Knochen und Tontrommeln der Steinzeit sicher nicht für Musik, sondern Signal, Geräusch, Geisterlärm. Luren [sind] nicht alt. [Die] Lyra [ist] nordisch, [kam] mit der dorischen Wanderung nach Hellas. Kithara altorientalisch, schon [im] 3. Jahrtausend.


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Was wir Kunst nennen, existiert bewußt sicher nicht für frühe Menschen. ›Der Künstler‹, ›der Stil‹, ›die Schönheit‹, ›das Kunstwerk‹ vor allem sind literarische Erfindungen großer Städte. L'art pour l'art heißt die Kunst für den Kunsthandel. Erst seit man mit Kunstwerken ohne Rücksicht auf ihre praktische Bestimmung Handel treibt, gibt es ›reine Kunst‹. Der gesunde Mensch freut sich über ein schönes Haus, Kleid, Waffenstück, die er in Gebrauch hat. Geschaffen wird das vom Handwerk, das mit ›Kunstgewerbe‹ – d.h. der Tätigkeit von Menschen, die Künstler sein möchten ohne Schöpferkraft und deshalb ›Stil‹ an alle Gegenstände ankleben – nichts zu tun hat.

Es gibt in c-Kulturen ›das Bauen‹ von Gräbern, Häusern, Tempeln, das Meißeln und Malen zu rituellen Zwecken, das Singen und Tanzen, aber ›die Malerei‹, ›den Tanz‹ gibt es nicht. ›Der Hofdichter‹, ›der Dombildhauer‹ ist älter und echter als ›der Dichter‹ und ›der Bildhauer‹. Mit der Kunstausstellung ist die Kunst zu Ende.


224


Imitative Schöpfung – Erzählen, Bilden: Ursprüngliche Märchen (Märe = Erzählung), dazu Märchen von Göttern (›Mythus‹, Legende) und berühmten Menschen (Heldensage): das Wesentliche ist die psychologische[174] Topik des Erzählten. Es gibt nur relativ wenig Grundmotive, die alle in urseelenhaften Konflikten, Erfahrungen hervorbrechen und die von Göttern, Helden, Menschen gleich erzählt werden. Das braucht nicht entlehnt zu sein, sondern ist tausendmal immer wieder entstanden: Potiphar, Nabob, Dornröschen, Romeo und Julia. Dieser Typ des Erzählten haftet am Vorgang. Die Namen fehlen oder sind erfunden oder auf sie übertragen.

Der andre Typ ist die Erinnerung an tatsächlich Gewesenes: Hier ist der Name von Ort und Person das Zentrum. Die Erzählung verändert sich langsam vom I[mitativen] ins Topische, Symbolische. Auch die Namen können zuletzt wechseln oder schwinden, dann ist der Zustand des Märchens erreicht.

Quelle:
Oswald Spengler: Frühzeit der Weltgeschichte. München 1966, S. 168-175.
Lizenz:

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