Sprachen und Namen

[134] 128


Wie ein Name, dessen Schriftbild wir in einer Schriftsprache kennen, in einer fremden Sprache lauten müßte, ist eine Frage ohne Sinn. Ein solches Müssen gibt es nicht. Es gibt ein währendes Sprechen durch Generationen hindurch, Tag für Tag, nachlässig und sorgfältig, gemein und gebildet in derselben Stadt, das sich unbemerkt langsam verändert und das durch Schriftzeichen nur für den fixiert wird, der von Jugend auf gewöhnt ist, das Schriftbild durch eine Lautgruppe zu ersetzen, nicht zu ›lesen‹. Denn niemand liest Buchstabe für Buchstabe, sondern er spricht nach seiner Sprachgewohnheit, und die Schriftbilder erinnern ihn nur an die gewohnten Lautgebilde. Diese Lautgebilde aber werden bei fremden Namen nicht ›übersetzt‹, sondern der eignen Sprachgewohnheit, ähnlich klingenden Wörtern etc. angepaßt, mundgerecht gemacht, ohne Regel, nur nach Bequemlichkeit in den gewohnten Klangrhythmus eingefügt, wobei sinnliche Anklänge eine Rolle spielen (plumbum, Mailand, Bern, Berlin – Bär). Die ›Volksetymologien‹ sind größtenteils unbewußt. Denn noch einmal: nicht die ›Sprache‹ ändert sich nach Gesetzen, sondern die Menschen nehmen sprechend andre Gewohnheiten an.[134]


129


Namen: Bessarabien kommt nicht von Arabien, sondern von dem Bojarengeschlecht der Basarab. Galizien [kommt] nicht von Spanien her, sondern von galič. Karpathos [kommt] nicht von den Karpathen [her]. Die Eteokreter sind also nicht Kafti, sondern Kreti, Karer.


130


Volksnamen: Ursprünglich [trugen] nur die kleinen Stämme [Namen]. Der Tatsache größerer Zusammenhänge ist man sich gar nicht bewußt, da jeder Nachbar hostis ist. (Dorer, Aeoler war ursprünglich [der] Name für kleine Einzelstämme. Erst die Sage hat sie ausgedehnt.) Der Stamm selbst hat keine Selbstbezeichnung. Er ist zu selbstverständlich da. Man nennt nur den andern, den Nachbarn, und fast ausnahmslos mit Ausdrücken von Spott, Ekel, Wut, aber auch Angst, Scheu, d.h. die Volksnamen sind Schimpfnamen. Erst als die Bezeichnung nötig und selbstverständlich wird, prahlt man mit eigenen Namen. Ein mal hatte jeder Name einen Sinn, aber nur für die, die ihn gaben. Die nächste Generation schon hört nur den Klang und ändert ihn.


131


Sprache und Dialekt: Vielleicht darf man es so formulieren: Dialekte sind Arten des Sprechens, die von den Sprechenden wechselseitig wenigstens annähernd verstanden werden. Sprachen nicht. Die herrschende falsche Einteilung geht von politischen Grenzen aus, in denen sich die Wissenschaft an Hochschulen festgesetzt hat. Deshalb gelten Sardinisch, Katalonisch, Provenzalisch als Dialekte von Italienisch, Spanisch, Französisch, obwohl man sie nicht versteht, Portugiesisch, Holländisch aber als Sprachen, obwohl sie von Spaniern und Niederländern verstanden werden. Das Umbrische konnte von Römern nicht annähernd verstanden werden, ebensowenig verstanden sich Spartaner, Epheser, Böoter.[135]


132


Was gehört denn zur Aussprache? Man unterscheide doch die theoretische Lautform von der wirklichen Lautgebung. Die erste kann ganz verwischt sein. 50 = fünfzig: das ist Theorie, ›lautgelesen‹. Gesprochen heißt es fuffzge, fiffti usw. Pferd – Färt, Perd.


133


Die Menschheit im Norden reift später als im Süden. Deshalb [ist] die hamitisch-semitische Sprache etc. älter als die nordischen Sprachtypen: indogermanisch, uralaltaisch etc.


134


Völkernamen: Keltische Bojer, ihr Land [wurde] von den einwandernden Germanen Boja-heim genannt, mit germanischer Endung also. Die Bojaheimer wandern aus – [und werden] Bajuwaren. So Tyrrh-ener, Etru-sker (Osker etc.), Hell-enen, Hell-oper. [Auch] Dana-voi, Dana-ubis (Donau), Dan-oper (Djnepr), Tanais (Don). (Tripoljekultur.) Die großen Verkehrsströme. Hunnen-Hünengrab [in] Norddeutschland! Hüne [ist der] Riese.


135


Bei jedem dieser alten Sprachreste sollte man zuerst fragen: hieß die Sprache nach dem Lande, das Land nach einem früheren Volke, das Volk wieder nach einem Lande? Wenn man darüber hinwegsieht, tappt man im Dunkeln.

Die ›lydische‹ Sprache z.B. heißt so, weil das Land später Lydien hieß. Aber früher (und später) hieß es Asia, Assuwa, Hesione, Sparda, Maionia. Woher kommt also diese Sprache? Etrurien heißt so, weil die Römer das Land nördlich des Tiber unter diesem Namen kannten. Wie hieß es aber, bevor die Turscha kamen? Und war ›das Etruskische‹ die Sprache der Eingeborenen oder der Eroberer?[136]


136


Was ich [im] ›Untergang des Abendlandes‹ II über Rasse, Völker [und] Sprachen gesagt habe, ist unverstanden und unbeachtet geblieben. Hätte man es ernst durchdacht, so wäre man weiter. Es ist falsch, eine Sprache mit den Volksnamen zu ›verheiraten‹, den Namen als Stempel auf Volk, Sprache [und] Land zu drücken. Das erste ist ein Stück der politisch-historischen Ereignisse. Kennt man sie, so kann man über die Sprachgeschichte, die zum großen Teil politische Geschichte ist, etwas finden.

Man darf z.B. nicht von der Sprache der Phöniker reden, sondern muß erst fragen: aus was für Volkselementen bestand die Bevölkerung um 1500, 1200, 1000, 800, woher kommt der Name – gab es mehrere – endlich: was sprach man um 1500, wie, wer? Wer kann das?


137


Sprache: Die ältesten Arten des Sprechens erfolgten mit viel Gesten – Mienenspiel, Betonung, Bewegung von Kopf und Händen – und wenig Worten. Im Dunkeln konnte man sich nicht verständigen. Also [umfaßte] der Wortschatz von Sprachen des 3. Jahrtausends (ohne die Kultursprachen Ägyptens und Babylons), etwa Troja II oder Tripolje, etwa tausend Wörter (um eine Zahlengröße zu nennen, dreistellig), wozu jedes Dorf noch ein paar Lokalwörter hatte. Solche Sprachen, die erst die Erwachsenen lernten, wurden leicht gewechselt. Die Zähigkeit einer Sprache in einem Volkstum liegt auch an ihrem Wortvorrat – es ist schwer, eine neue zu lernen. Das Gedächtnis ist damals noch nicht so elastisch.

Die ›hethitische‹ Sprache ist ein Beispiel dafür, daß ein Stamm mit indogermanischer Sprache diese aufgab und eine neue unvollkommen annahm. Es blieben einige Reste zurück. Es ist nicht die Ruine eines Bauwerks, sondern ein neuer Bau, in dem einige Steine des alten verbaut sind. (Jiddisch ist nicht semitisch, Pidgin nicht chinesisch). Diese eigentliche ›he thitische‹ Sprache kann wohl mit den heutigen Kaukasussprachen[137] gemeinsame Ahnen gehabt haben. Natürlich ist es sinnlos, die heutigen Kaukasusformen zu vergleichen.


138


Schrift: Es gibt eine orthographische Tradition, durch das Lernen, die Schule gepflegt. Man schreibt Buchstaben hin, die nicht gesprochen werden, ohne es zu merken. Das Schriftbild hat seine eigene Geschichte, die zäher ist als die Lautgruppe. Die gebildete Sprache hält sich mehr an die konventionelle Aussprache des Schriftbildes.

Digamma wurde massenhaft geschrieben, als es nicht mehr gesprochen wurde, sicher an falschen Stellen, [desgleichen] h. Die phrygische Inschrift mit αναξ; beweist also nichts.


139


Vorgriechische Personennamen‹. [Ich bin] gegen die Sitte, alle Namen des Epos griechisch erklären zu wollen. Wie die Ortsnamen sind auch die Personennamen massenhaft nicht griechisch. Gerade die, die griechisch aussehen – einfach Volksetymologie. Beispiele: Eteokles, Agamemnon, Achilleus, Odysseus.

1600 Schachtgräber (altindogermanisch) – 1400 Kuppelgräber (libysche Achäer) – 1200 Griechen. Agamemnon wie Minos [wurden] von der griechischen Sage annektiert.


140


Sein und Haben: Nur das nordische Sprachdenken kennt das Wort ›haben‹ – so stark ist sein Eigentumsdenken. Sein ist: optisch Vorhandensein. Haben ist: als Eigentum dazugehören. Wir sagen sogar: Der Hirsch besitzt ein Geweih. Die Farbe ist der Blume eigentümlich.[138]


141


Sprache, Schrift: Die Einteilung der Wissenschaft (Laute, Konsonanten) ist nichts weiter als eine Verwechslung von Laut und Buchstabe. Es werden einfach die Zeichen des heutigen Alphabets in Gruppen geteilt. In Wirklichkeit gibt es Hunderte von Konsonanten und Dutzende von Vokalen, die von Dorf zu Dorf wechseln. Sie sind ›im Deutschem‹, in Oberbayern, Schlesien, Franken, Sachsen grundverschieden.

Erst das Sprechen ›im Banne des Alphabets‹, die gelernte Aussprache der Schriftsprache, bringt über der wirklichen Bauernsprache eine Art von gemeinsamem Konsonantenschatz hinein.

Die Erfindung des Alphabets ist also tatsächlich die Erfindung einer Schrift, die die hundert tatsächlich gesprochenen Konsonanten durch einige Zeichen ungenau zusammenfaßt und so dem, der die Aussprache gelernt hat, die Möglichkeit gibt, anhand des Textes so zu sprechen, wie es in Wirklichkeit geschieht. Der Buchstabentext ist nur ein Anhalt, keine tatsächliche Wiedergabe des Gesprochenen, was unmöglich wäre.


142


Wirbel von Sprache und Rassen: Es ist sinnlos, aus viel späteren oder gar heutigen Typen von Schriftresten zurückschließen zu wollen. Als die Herrenstämme, in dünner Oberschicht oft, seßhaft wurden, bildeten sich überall landschaftlich gebundene Menschenschläge aus, welche das Rassebild der neuen Volksstämme beherrschten. In ihnen tauchten im Strom der Generationen immer wieder Anklänge an die einstigen Elemente auf – so ›mongoloide‹ Typen in Nordeuropa, sehr viel in Rußland, die zum Teil wenigstens auf diese ›bronzezeitliche‹ Eroberung des 2. Jahrtausend zurückgehen. Aino. Und ebenso sind die Sprachen, z.B. im Kaukasus, Reste einstig großer Sprachfamilien. Finnisch-ugrisch. Die Stämme, welche wir nach Sprachen gruppieren, als Tataren, Hunnen, Türken, Tocharer, Skythen, Mongolen, die aber nach Landschaft, Lebensart, Weltanschauung einander sehr nahe[139] standen und also vermutlich der ›Rasse‹, der Blutmischung nach verwandt sind. Man darf das, was heute als mongolisches Kennzeichen gilt (Mongolenfleck, Lidspalte), nicht damals schon in Innerasien suchen. Es ist sicher (ego) erst durch die Mischung im chinesischen Imperium seit der Hanzeit von Südosten (etwa Tonkin, Sikiang, Nanking) allseitig verbreitet worden, durch Mischung.


143


China: Hier hat sich eine der vorindogermanischen Sprachen als Schriftsprache durchgesetzt. Verstümmelt, abstrakt, durchgeistigt; offenbar, weil die Flexion [eine] andre Seele hatte, ist sie ganz verschwunden.


144


Außer den Personennamen haften auch die wichtigen Worte für Krieg und Staat fester als die Sprache. (Wörter der Priesterwelt haften am Ort.) Wer, war, guerre, Wergeld. Burg, Faubourg, Borgo, Boulevard. Meier. Palast, Pfalz.

Die Namen für besondre Waffen haften an der Ware, also Handelsbezeichnungen – gladius, caballus, pilum, Tschako, Kalpak.


145


Die alten Heldennamen (und Götternamen wie Damater, Potidon) entstammen nicht der Sprachgruppe, aus der sich seit Homer der ›hellenische‹ Dialekt entwickelt und erhalten hat. Waren sie indogermanisch, so sind sie aus einer oder mehreren Sprachfamilien, die ausgestorben sind, verschollen. Was wissen wir von den indogermanischen Sprachen nördlich von Hellas? ›Illyrer‹ und ›Thraker‹ sind künstliche Phantasievorstellungen. Und Baskisch, Etruskisch, kaukasische Sprachfamilien und andre, die spurlos verschwunden sind?

Hier muß einmal gegen den Grundfehler der Philologen Einspruch erhoben werden, von den schriftlich erhaltenen Sprachresten aus[140] rückwärts zu sehen, als ob es keine schriftlosen Sprachen gegeben hätte. Was wüßten wir denn von der indischen Sprache bis Buddha, wenn nicht die mündliche Tradition die Reste der Literatur bewahrt hätte? Nicht eine Inschrift. Von den vielen Sprachen auf dem Boden des heutigen China? Wir kennen nur die offizielle ›chinesische‹ Sprache der Literatur und Urkunden der Dschouzeit. Die Knochenorakel sind Wortzeichen – welcher Sprache, das wissen wir nicht.


146


Es gab vor 1200 überhaupt noch keine ›Hellenen‹. Die Spracheinheit – so fiktiv sie wäre, denn der Spartaner konnte den Jonier gar nicht verstehen, wenn er sprach, – bildet sich von der jungindogermanischen Gruppe her, die um 1200 eine dünne Herrenschicht über vielen andren Sprachen bildete, die sich erhielten, vor allem im Kult, auf dem Lande, in der niedern Masse; ausgehend von den Joniern, gefühlt, erlebt als Gemeinschaft von Herrengeschlechtern, langsam ausgedehnt auf die ganze Landsmannschaft. Die ›Stämme‹ [waren] ursprünglich nur Phratrien, adlige Phylen. ›Landsmannschaften‹ ist der richtige Ausdruck für den Zusammenhalt: Adel und sein Gefolge, Hörige, zuletzt alle im Lande.


147


Personen- und Ortsnamen, Titel und Wörter für Waffen, Haus, gesellschaftliche Ordnung beweisen nichts für die Sprache der Bevölkerung. Sie sind viel konservativer als die Sprache, die gewechselt wird. Die Personennamen in romanischen Ländern [sind] zum großen Teil germanisch, in germanischen zum großen Teil hebräisch, romanisch. Die tatarischen Bulgaren sprechen slavisch, die Namen sind byzantinisch. [Die] Titel in Deutschland (Armee) [sind] teils französisch (General, Sekretär), [teils] (Admiral) arabisch, (Husaren) tartarisch, (Ulanen) polnisch.[141]


148


Sprachen werden schnell gewechselt. Am festesten sitzen Handelssprachen und Bauernsprachen. Eroberer, Nomaden, Verwaltungen wechseln die Sprache viel leichter. Aber die Sitte der Namensgebung ist sehr zäh. Deshalb verraten Personennamen mehr als Sprachen (und Ortsnamen).

In Boghazköi [gibt es] nicht nur Namen von indogermanischer Prägung, sondern eher westkleinasiatische. Deshalb muß die Kanzleisprache einen andren Ursprung haben (ist sie erst seit 1500 in Gebrauch?). Wurde sie auf dem Galaterwege vom Balkan her von Eroberern mitgeschleppt, die dann vernichtet wurden und nur in der Kanzlei Spuren ihrer Sprache hinterließen? Hing das mit den Hyksos zusammen?


149


Noth, Israelitische Namen, S. 41: Leichter noch wechselt ein Volk seine Sprache als seine Eigennamen. Juden in Deutschland, Germanen in Frankreich, Altrom, Althellas, Hethiter, Kleinasien. Es sind nicht die Namensklänge und selten die Bestandteile des Namens, die verglichen werden dürfen, sondern die allgemeine Sitte der Namensbildung. Die Veränderungen dieser Sitte spiegeln die Geschichte. Rom: Absterben des Pränomen, Aufkommen des Cognomen, dessen Bildung. Hellas: Bildung zweigliedriger Namen Herakles etc. Wo? Wann?

Griechische Namen: Wilamowitz II. Ursprünglich weltlich, kriegerisch. Später theologische Namen. Wie bei den Germanen.


150


Die Personennamen, solange man ihrem Sinn nach und nicht nur konventionell verfuhr, sind in Ägypten [und] Babylon (Israel) religiöser, im Norden persönlicher Natur. Götternamen kamen in althellenischen und altgermanischen Namen nicht vor. Auch in altitalischen und altkeltischen Namen fehlen sie.[142]


151


Wie die hellenisch sprechenden Stämme, so haben auch die Träger des Urgermanischen und Urkeltischen in Nordwesteuropa eine Bevölkerung vorgefunden, mit der sie sich mischten – der blonde Menschenschlag. Wie die Türken entsteht so ein Elitevolk, Auslese. Die ›urindogermanische Sprache‹ ist ganz einfach die Sprache der Arier im Lande Arien. Von dort [wird sie] mit den Streitwagenvölkern verbreitet. Hier entsteht der Typus des Herren- und Eroberervolks. Auch die Tocharer nannten sich selbst Arier (Arsi). Das ›Persische‹ ist nur ein winziger Teil der verbreiteten Gruppe (Skythen, Kimmerer, Pamirsprachen).


152


Wieviele Spracharten und Stammessprachen es gegeben hat, zeigen die Reste: Baskisch, Etruskisch, Kaukasus, Novilara, Boghazköi etc. Hunderte von Sprachen und Spracharten, die in Systeme zu bringen kindisch ist! Auf der Karte große Gebiete als illyrisch, iberisch, ligurisch zu bezeichnen, ist albern: ebenso könnte man über Afrika das Wort Buschmann oder Suaheli schreiben.


153


Hier ist eine Naivität der Sprachforschung festzustellen: bei bekannten Sprachen (Germanisch, Französisch, Latein) ist man immer gleich bei der Hand, Fremd- und Lehnwörter festzustellen. In wenig bekannten (Etruskisch, Hethitisch) habe ich das noch nie bemerkt. Im Gegenteil: Jedes Wort, das man findet, gilt ohne weiteres als Wort dieser Sprachen. Und bei unbekannten Sprachen, wie dem Illyrischen, Iberischen – die nie existiert haben –, gilt jedes Element (Suffix, Wurzel) in einem geographischen Gebiet als Element von ihr. Was ist aber ›Fremdwort‹? Wortschatz wandert aus einem grammatischen System ins andre, je früher, desto mehr. Erst mit dem Reicherwerden der Sprache an Worten wird der Wortschatz fester. Sprechen =[143] Denken: Man nimmt den gesamten Wortschatz des fremden Landes an, denkt aber grammatisch in seiner eigenen Weise.


154


Für die Rasse ist nicht entscheidend, was für eine Sprache sie spricht, sondern wie sie sie spricht, ›Dialekt‹!!! Aussprache und Syntax sind Rasse: So entstehen Gebilde wie Jiddisch, Mönchslatein, Pidginenglisch, lingua rustica. Zum Teil gehen die griechischen Dialekte hierauf zurück: Sie entstanden, weil eine nichtgriechische Bevölkerung das Griechische sprechen lernte. (Gercke I, 523.) Vor allem ist ›Achäisch‹ ein solches Anderssprechen (527). Welche Eigentümlichkeit der Aussprache und des Lautwandels haben griechische, italische und kleinasiatische Dialekte, Etruskisch, Kretisch gemein? Das auf einer Landkarte abstecken!


155


Noch eines wird von Philologen immer vergessen: daß der Unterschied von Schriftsprachen und Volkssprachen nicht immer dialektisch, sondern sehr oft der von ganz verschiedenen Sprachen ist, von denen die eine schriftlich überhaupt nicht erscheint und also für die philologische Betrachtungsweise nicht vorhanden ist. Wenn man dann die Existenz der Völker aus schriftlichen Resten ablesen will, verschwinden große und wichtige Völker spurlos aus dem so entwickelten Geschichtsbild.

Die Galater haben (Hieronymus) noch im 4. Jahrhundert keltisch gesprochen, aber es gibt nicht eine einzige keltische Inschrift. Wer schreiben lernte, schrieb griechisch oder lateinisch. Ebenso die Germanen (Vandalen etc.). In Hellas wurden sicher noch zur Zeit des Perikles weithin vorgriechische Sprachen gesprochen, in Italien noch zur Zeit Hannibals nichtitalisch, und in Etrurien [verlief] die Schriftentwicklung noch ganz anders. Wenn irgendwo sämtliche Inschriften in einer Sprache abgefaßt sind, ist das noch kein Beweis dafür, daß diese Sprache auch im Volk gesprochen wurde: Boghazköi, Normannen in England, Französisch, Westgoten in Italien, Spanien.[144]


156


Ich glaube, daß das Bild der Sprachgeschichte heute noch falsch ist: Wir schließen unwillkürlich für die Frühzeit auf verhältnismäßig wenige Ursysteme, aus denen die uns bekannten Sprachen abzuleiten sind. Sicherlich war es umgekehrt. Was wir kennen, sind doch nur die wenigen Sprachen, die dort offiziell gebraucht wurden, wo man schrieb, und es ist klar, daß Schriftsprachen im Munde von mächtigen Kulturnationen unendlich [viele] schriftlose Sprachen zum Erlöschen brachten. Wo die Schrift einmal plötzlich in ein andres Gebiet hineinleuchtet, wie in Boghazköi, sind plötzlich Nester verschollener Sprachen aufgedeckt. Was wissen wir denn von der Sprache Indiens, Chinas um 1500 v. Chr.? Um das Mittelmeer herum kennen wir bis jetzt Schriftreste von vielleicht 50 Sprachen (darunter ›neue‹: von Cypern, Novilara, Lemnos).


157


Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft 1925, S. 301: Das Koptische ist die Vulgär-, das Demotische die Schriftsprache des Niedergangs. Wichtig, daß die Fellachen eine starre Sprache haben – Vulgärlatein, Kechua, Hindi. Endschicksal der Kultursprachen. Überhaupt: die Sprachgeschichte muß sich an die schriftlichen Dialekte halten und deren grammatische Genealogie feststellen. Die Schriftsprache teilt das Sonder Schicksal in der ›Gesellschaft‹. Das ›Volk‹ schreibt wenig, liest in Ägypten etc. vielleicht gar nicht. Lesen und Schreiben sind exklusiv.

Dieser Aufsatz ist entscheidend für die Geschichte der ägyptischen Sprache, deren schriftliche Seite Sethe mit einem Kanal, deren mündliche er mit einem Strom vergleicht. Ist das Ägyptische vielleicht erst durch die Schrift vom Semitisch-Hamitischen getrennt worden?[145]


158


Sprache: Sie ist mitteilend (Ich und Du). Echte Urdichtung bedient sich ihrer aber als kosmisches Mittel, ohne Rücksicht auf ›Verständlichkeit‹. Daher echte Gedichte nur dem Dichter verständlich sind und oft selbst diesem nicht, wenn ihm das Erlebnis fremd geworden ist. Ursprünglich sind alle Spracharten unbewußt entwickelt. In hohen Zuständen lernen Kinder unbewußt die Sprache (mehrere) ihrer Umgebung, mimische Zeichen, Schrift, oft mehrerer Kultursprachen. Der Erwachsene ist sich nur der ›Schriftsprache‹ bewußt, nicht aber der fragmentarischen Zeichensprache, die er von Kindheit an auch noch besitzt. Das Kind zeichnet von selbst, aber schreiben ist ihm eine Arbeit.


159


Sprache: Ich rede von ›Sprech- und Denktypus‹. Das praktische Denken der Menschen einer c-Kultur hat das System z.B. des indogermanischen Sprechens entwickelt. Es ist die Art kausalen Denkens, welche die sprachliche Formung der Elemente der Sachen, des Geschehens, der ›Eigenschaft‹ in bezug auf etwas gestaltet. Die Beziehungssilben (Präfix, Suffix, Infix, Determinativ, Flexion, Artikel, Präposition etc.) sind Denkzeichen.


160


Alle urtümlichen Märchen, Folklore, Sagen, Mythen lassen sich auf wenige Grundtypen zurückführen, z.B. Fragepein (Laistner), Brüdermärchen, Flug, Besiegung des Bösen etc. Es sind ebenso Qualtypen des Traumes, namentlich bei Kindern. Die Psychoanalyse (›Mikosch‹) zieht das alles auf großstädtische Sexualdekadenz herab; ebenso läßt sich da alles auf Hunger und Durst oder Machttraum reduzieren. Ich zeige nur, daß hier die Menschenseele sich vorsprachlich ihrer Verhältnisse zur Welt bewußt wird, wachend und träumend. Es sind die Grundsituationen des erfinderischen, persönlichen Raubtiers.[146] Verhältnis zum andern (Feind, Freund), zum Weib, zu Tieren, zur Welt, zu Tag und Nacht, zu Jugend, Alter, Vergangenheit, Zukunft. Es sind die ersten ahnenden, schauenden Regungen der Metaphysik. Mit der Sprache büßen sie ein Teil ihrer Tiefe ein. Sie bestehen neben dem Sprechbaren, heute noch, als das nicht in Worte zu Fassende, das man in Musik, Malerei, Symbolik legt.


161


Sprachenschicksal: Herrenvölker verlieren die Sprache (Turscha, Normannen); Siedlungsvölker halten sie fest. Keine Sprache beweist etwas für die Herkunft der sie redenden Bevölkerung. [Es gibt] drei Wandertypen von Sprachen: Siedlerexpansion (deutsch), Handelssprachen (englisch), Verwaltungssprache (römisch). Es gibt ursprünglich keinen ›Stolz auf die Muttersprache‹. Im Gegenteil: Stolz, die fremde Herrensprache zu verstehen.


162


Sprache: Verschiedene ›Sprachen‹ im Sinne von ›Griechisch‹, ›Keltisch‹ – also Sprachgruppen von starker Eigenart – entstehen durch das Aussterben der massenhaften andren Sprachen, so daß jetzt relativ verschiedenartige zusammenstoßen.


163


Alle Theorien über den Ursprung der Sprache, weil von Theoretikern entwickelt, haben den Fehler, daß sie den denkenden und schreibenden Stubengelehrten, den Dichter und Redner voraussetzen-Herder, Hamann, Humboldt –, also monologisch sind. Die Sprache ist aber dialogisch entstanden. Man spricht zu jemand, der antwortet. Die Satzwörterreihe [ist] nicht die Entwicklung eines Gedankens wie in der ›Rede‹, sondern abwechselnd als Frage, Antwort, Befehl etc. Der Satz ist ursprünglich nicht die Fassung eines Gedankens, sondern einer Absicht.[147]


164


Nicht die Begriffe, die Sätze sind zuerst da. Die Begriffsworte folgen erst aus dem Zweck der Sätze. Hierher! Los! Nein! Ist es so?

Es ist ganz falsch, wenn die Sprachbetrachter, die Stadtgelehrten von Worten für Dinge ausgehen: Mond, Schaf, Tisch. Das erste ist der Satz, der sich an den andren wendet. Und erst in bezug auf den Satz entstehen die Wörter für Dinge. Ursprünglich genügt ein ›das dort!‹ oder ›die hier‹.


165


Man muß [sich] darüber klar sein, daß dem Sprechenden zunächst die Abstraktionsworte Schwierigkeit machen – Worte ohne Bild, Einbildung –. ›Der Hirsch‹ ist deutlich. ›Der Wind‹ (von wehen) bezeichnet eine Tatsache, dann wird sie zum Substantiv, Subjekt, Numen: ›Der Wind weht‹. Alle Substantive haben die Tendenz, mythologisch auf das Denken zu wirken. Die Sprache, die Masse der vorhandenen Wörter ist wie eine Landschaft, wie Töne der Nacht, man wittert ›Mächte‹ darin. So hat Zarathustra seine Abstraktionen sofort personifiziert.

Die Personifikation der Abstraktion. ›Der Tod‹ – mors imperator. Die römischen Götter des Säens, Sichelns, Mahlens etc. Die Tür als Gott, der Herd, das Ehebett. Tücke des Objekts. Das Feuer. Gerechtigkeit, Weisheit, Friede, Krieg. (Übergang vom Sichtbaren zum Abstrakten.)


166


Sprache, b: Schauen, Ahnen – Entstehung von Lautgebilden vager Art, der symbolische Ausdruck, noch kein eigentlicher Name.

c: Auch nur der Wunsch, sich mitzuteilen, ist Erleichterung. Die Seelenqual, aus Einsichten von Tod, Vergänglichkeit, drohender Zukunft entwickelt, sucht nach Mitteilung – Annäherung an den fremden Mikrokosmos.[148]


167


Ortsnamen: Man hat heute die Bedeutung solcher Namensschichten für die Ermittlung geschichtlicher Vorgänge erkannt, aber die tiefe Bedeutung dieses Vorgangs selbst dabei gänzlich übersehen. Trotzdem gibt gerade das die historischen Aufschlüsse.

Nun ist in Ägypten und Babylon noch zu verfolgen, wie sich die Idee des Stadtnamens entwickelt (Beispiel Buto Ur): Man nennt nämlich nicht die Stadt selbst, sondern etwas Sakrales, wonach die Siedlung allmählich den Namen erhält. Es ist ganz sicher, daß die frühesten echten Wohnnamen – wobei sich Stamm- und Wohnplatz also ideell trennen, Bewohntes und Wohnendes, erst Ende des 4. Jahrtausends und nur hier, in der Urkultur, entwickeln, worauf die Sitte allmählich sich ausdehnt.

Die kleinasiatisch-mittelmeerische [Nomenklatur] ist sicher erst im 3. Jahrtausend erfolgt, und zwar nach jederorts strenger Sitte. So sind die ›kleinasiatischen‹ Ortsnamen auf -ss und -nt die älteste Namensschicht und etwa 2500 anzusetzen, als die kassitisch-atlantische Strahlung beginnt. Auch die Umbenennung durch spätere Völkerschichten unterhegt gewissen Regeln, die man ermitteln muß, um klar zu sehen: Die Heldenvölker haben vielfach dem Stadtgebiet den gehörten Namen überlassen, aber die Burg neu benannt – bei ihnen ist die Namengebung schon mehr persönlich als kultisch: keinem Pharao wäre es eingefallen, eine Stadt nach sich zu benennen.


168


Eigennamen (Exkurs): Echte Stadtnamen im späten Sinne dürfen wir im 4. Jahrtausend nicht erwarten. Der Name ist heilig (nomen est omen), und erst spät wird er eine bloße Bezeichnung für ein Objekt. Wenn irgendwo eine Siedlung entstand, so müssen stets mehrere Namen je nach der tiefen Bedeutung vorhanden gewesen sein: zunächst der Tempelname, weil das Numen den Schutz verbürgte, dann der identische Name, Selbstbezeichnung des Stammes, dessen Mittelpunkt die Siedlung war, dann etwa der Name der Siedlung als befestigte[149] Abwehreinheit, oft der übliche Name des Marktes. In politischen, händlerischen, religiösen Zeugnissen werden also verschiedene Namen genannt sein, von denen im 2. Jahrtausend schließlich einer weithin herrschend wird als Rest aus einer Zeit feierlicher Namengebung. Ebenso trägt bekanntlich ein Mann ursprünglich mehrere Namen. Mohammed hatte einen verlorenen ›Taufnamen‹, als Ehemann hieß er nach seinem ersten Sohn Abulkasim, in der Stadt führt er den Ehrennamen Amin. Mohammed ist seine Selbstbezeichnung als Prophet.


169


Namen: Die älteste, erste Namengebung war stets ein feierlicher Akt, eine ›Taufe‹. Mit dem Namen erhielt der Jüngling, der Verband, die Siedlung ein Numen, ein Wesen, und hörte auf Sache zu sein.

Die Sprache war etwas viel zu Ernstes, um für bloße Benennungen gebraucht zu werden. Namen hatten also auch einen Sinn (in Kasch war es ein ganzer Satz). Erst später wurden sie abgeschliffen und gewöhnlich. Mit jeder als solche empfundenen Epoche tritt also die Taufe auf einen neuen Namen ein: der Mann heißt anders als der Jüngling, ein ›Volk‹ beim Auszug anders (›Sachsen‹), Umbenennung einer Stadt! Deshalb haben kultisch wichtige Personen (ägyptischer König) mehrere Namen je nach der Rolle, die sie spielen. So nimmt der Papst einen neuen Namen an.


170


Antike: Das stärkste Beispiel für [das] Verschwinden der Sprache, während die Rasse bleibt, sind die keltischen Sprachen, die 200 v. Chr. fast ganz West- und Mitteleuropa und Kleinasien beherrschten und dann rasch bis auf wenige Reste verschwinden.


171


Das Ursemitische hat sich im 4. Jahrtausend in Afrika vom Hamitischen abgespalten und ist in Arabien insular erstarrt. Da das Guanchisch[150] und Kabylisch zum Hamitischen gehören, so stammt die Sprache vielleicht aus Spanien-Frankreich (Jungpaläolithikum, mit dem Megalithikum einwandernd). West-Ost-Pendel. Süd-Osten: Somalo-Abessinien. Im übrigen Afrika aufgegangen in den späteren Sprachen (weil [es die Sprache] erobernder Minderheiten [war]). Das älteste Semitisch ist das Akkadische (mit der Megalithkultur von Libyen her?). Viel jünger [sind] Aramäisch, Sabäisch, Arabisch. Ist das Germanische auf semitischer Unterlage entstanden; Oder das ›Iberische‹?


172


Semitohamitische Sprachen: Um den Eindruck endlich zu vertilgen, daß das zwei Sprachgruppen seien, muß gesagt werden: Wir kennen aus dieser [Gruppe]:

1. das Ägyptische als Schriftsprache einer Hochkultur, also im Zustande einer senilen Entwicklung. Erst jetzt ahnt man (Sethe), wie verschieden darin die Völkersprachen des Niltals gewesen sind.

2. das Semitische, in Wirklichkeit eine Hochsprache in vielen Dialekten, nicht eine Gruppe von Sprachen.

Die Verschiedenheiten sind zum Teil chronologisch bedingt: Akkadisch 2500, Aramäisch 500, Arabisch noch später. Also ein Abstand wie Pyramidentexte und [römische] K[aiserzeit].

3. [Sonst] sehr wenig, [einige] als Beduinensprache, andre aus Nordafrika, die wir ohne Gründe als Einheiten behandeln: Libysch, Nubisch.


173


Wie wenig das geschichtlich bekannteste Verbreitungsgebiet einer Sprache für deren Geschichte beweist, zeigt das Keltische: um 500 v. Chr. halb Europa, um 0 fast verschwunden, und das Römische: um 500 ein Dorf, um 0 die halbe Welt.[151]


174


Schrift: Statt ›Übernahme‹ der phönikischen Zeichen muß man mit Etappen rechnen: im 2. Jahrtausend überall im Mittelmeer nordische Leute, erstaunt über Ägypten, versuchend, deren Zeichen sich irgendwie – als Kennworte etc. anzueignen. Daraus gewisse Systeme, bis zuletzt die jonische Hansa daraus das feste ›griechische‹ Alphabet gemacht hat. Aber man merkt überall die älteren Spuren, wo die Zeichen zum Teil Silben waren. Damals haben sehr oft neue Stämme die fremdsprachliche Schrift unbeholfen gebraucht – schon infolge von Verhandlungen. Es müssen oft sehr wenige Leute gewesen sein, die sich das zurechtmachten (Ulfilas), weil sie hier Sprachen kannten. Ist die ›hethitische‹ Bilderschrift die eines Seevolkes, also einer indogermanischen Sprache?


175


Sprache: Die Stammbaumtheorie entspricht durchaus der damaligen Theorie der Biologie – Darwin! Äußerlich gleicht das dem Stammbaum alter Familien, aber in Wirklichkeit ist es eine Figur logischer Schlußketten, die den Zufall ausschließen soll. Jedes Glied ist im Kausalismus die Wirkung [des Vorhergehenden] und [die] Ursache des Folgenden. Und von diesem Stammbaum der Sprache leitet sich das heute noch herrschende Bild der Völkergeschichte ab: Urvolk, die ›Inder‹ von Europa nach Indien ›gewandert‹ und dergleichen Dummheiten mehr. Bequem, aber dumm.


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Sprache: Diesen Abschnitt so beginnen: Die große Scheide zweier Zeitalter des Menschseins hegt nun aber dort, wo der gedacht vorgestellte, ›erkannte‹ Zusammenhang von zwei Eindrücken als Ursache und Wirkung das wache Dasein zu beherrschen beginnt. Die ursprüngliche animalische Erfahrung bezieht sich nur auf die Tatsache gewisser Folgen: zwischen der Folge von Tag und Nacht und der von[152] klug und dumm ist ein Artunterschied. Nun aber tritt zum Daß das Warum, zur Kenntnisnahme des eben Geschehenden als etwas Bekanntem, Gewohntem das Wissen um die Notwendigkeit auch in Zukunft, immer und überall.

Diese Epoche ist gleichbedeutend mit der der Sprachgewöhnung. Von Mitteilungselementen, die nur warnen, hindeuten zum eigentlichen Sprechen, das in Satzfolge fortlaufend kausal ist und Kausales darstellt und mitteilt. Hier scheiden sich die Stufen a-b und c-d.


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Einfluß der Politik auf die Sprachgeschichte: Wer die Sprache des Herrenvolkes redet, gehört dazu. Wen man nicht versteht, der ist Objekt. Deshalb die Neigung der Unterworfenen, die Herrensprache schleunigst anzunehmen. Einen Stolz auf die Sprache kennt erst das Heldentum. So entsteht aber die Tatsache, daß die große Masse eines Gebietes eine ganz andre Sprache redet als die kleine Oberschicht der Beamten, Regenten, Kaufleute und Urkunden.


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Sprache: Hier in Kürze eine neue Theorie vorlegen. Bis jetzt Stammbaum und Wellentheorie. Beide [enthalten] den Fehler, den Sprachbestand für einschichtig zu halten und die Sprache selbst für das Wesen (statt [für] eine Seite des Ausdrucks eines Wesens), dessen Geschichte in sich selbst beschlossen liegt. Deshalb gibt es bis heute noch keine Sprachgeschichte (Weltgeschichte des sprachlichen Ausdrucks). Aber ich unterscheide: 1. Mundarten und Gesellschaftssprachen, 2. Alltags- und Schriftsprachen, 3. Sprachentwicklung und politische Entwicklung der Sprachschicksale.

Entscheidend ist die Stadt: Land- und Stadtsprachen; Stand: Klasse [und] Beruf; Rasse; Kultur: die westindogermanische Sprache jüngeren Typs (›Centum‹), im 2. Jahrtausend seelisch ausgebildet, gehört einer neuen Kulturseele an.[153]


179


Ursprachen: Wenn man die enorme Sprachzersplitterung gerade in Restgebieten (Kalifornien, Kaukasus) sieht, drängt sich der Gedanke auf, daß das Phänomen der großen Sprachgewöhnung spät und der d-Kultur zugehörig ist, eventuell auch c. Daß aber vorher etwas ganz andres erscheint: nämlich eine Rasseverwandtschaft im Entstehen grammatischer Grundsätze, die in jedem der zahllosen Stämme eine andre Art der Verwirklichung fanden. Die ›Verwandtschaft‹ besteht also gar nicht zwischen den Sprachen selbst, sondern [zwischen] den Prinzipien ihrer Entstehung. Das ist eher Konvergenz und sicher nicht Genealogie. Die Ansammlung des Wortschatzes muß schließlich in jedem Dorf für sich stattgefunden haben (wie heute noch in Europa jeder Dialekt, jeder Landstrich einen Eigenbesitz hat, vgl. z.B. Pflanzennamen!). Der nächste Schritt war das Absterben zahlloser davon, unter ständiger Vermischung der Wortmassen, aber auch der Aussprache und Endungen, sobald die Sprache übernommen wurde. Erst geschichtliche Ursachen und Schicksale haben dann über diesen Massen sehr späte, komplexe, durch Mischung entstandene, konvergente ›Sprachfamilien‹ entstehen lassen, so daß die Annahme einer ›Ursprache‹ falsch ist. [Was wir für ›Ursprache‹ halten,] das ist immer eine Sprache, die sehr spät das politische Schicksal hatte, weitverbreitet zu werden. Das Indogermanische z.B. ist sicher um 2000 v. Chr. noch irgendein obskurer Dialekt gewesen, von dem wir keine Ahnung haben, wer und wo [man] ihn damals sprach.


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Sprache: Der große Fehler, die Verbreitung der ›Sprachen‹ kartographisch von ›Schriftsprachen‹ abhängig zu machen. Leider kennen wir den ältesten Sprachzustand nur von den Schriftsprachen. Eben deshalb sollten die fehlerhaften Inschriften besonders beachtet werden: Papyri, Grabsteine, Graffiti des niederen Volkes, denn sie sind echter. Es ist einfach nicht wahr, wenn man die (indogermanische) Sprache in[154] Italienisch, Spanisch, Deutsch, Russisch etc. aufteilt. Es gibt dort Hunderte von Sprachen, sämtlich noch in Menschenschläge abgesondert, geographisch genau begrenzt, mit Übergängen. Die spanischen Mundarten z.B. sind Sprachen. Das Niederdeutsche steht dem Englischen und Holländischen näher als dem Oberbayrischen. ›Deutsch‹ und ›Italienisch‹ der Alpen haben in Satzbau, Aussprache, Geschlecht des Wortes viel Gemeinsames.


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Sprache: Auch Ortsnamen sind nur beweiskräftig, wenn sie durch anderes gedeckt werden. Die Urheber eines Namens sind meist gar nicht die Begründer der Siedlung und sehr oft weder deren Bewohner noch die Sieger im Kampf um die Umgangssprache. Im Kreis des Ägäischen Meeres kennen wir von vielen Orten mehrere Namen, die nacheinander galten; oft ist keiner ›griechisch‹, aber er wurde griechisch gesprochen. Die Römerstädte an Rhein und Donau waren von Kelten und Germanen bewohnt; Latein war nur Verkehrssprache, aber die Namen blieben lateinisch.


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Der Grundfehler der Sprachwissenschaft ist, daß sie – als Fachwissenschaft – ihren Gegenstand, ›die Sprache‹, als etwas für sich Bestehendes behandelt. Es gibt aber keine Ursprachen, sondern Grundtypen des Denkens, die sich in unendlichen innerlich ähnlichen Sprachstrukturen äußern. Man wird das aber auch in andren Formenwelten finden: Hamiten und Megalith, Kaschiten und Templum, Arier und Geistesreligion.


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Die Sprachvirtuosität der Dünnblütigen! Nicht Napoleons Ansprachen, sondern Kants Denken, Besserwissenwollen der Philosophen, Rechthabenwollen. Auch die Seele: die der Starkblütigen und der[155] Dünnblütigen: Dahin gehören die Züge von Stolz, Haß, Wut, Hingabe – und Rechthaberei, Kleinlichkeit etc.


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b: Urgrammatik: charakterisierte Lautgebilde bezeichnen das Tempus: ›Jetzt – noch nicht – nicht mehr‹, den Ort, die Sache.

c: Der Träger geläufigen Sprechens wird der ›Satz‹ kausaler Prägung: nicht ›das erscheint so‹, sondern ›das ist so, weil; soll so sein‹. Die Satzarten sind nicht mehr metaphysische, sondern physische Einheiten und Klassen: Frage – Bedingung – Bestätigung – Aussage – Syntax.

Also b: Schwergewicht im Wortgebilde, c: [Schwergewicht] im ›Satz‹ als kausal durchkonstruierte Wortfolge. Zu b gehört Andeutung von Tempus (Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft), Ort (dort, hier), Charakteristik (Größe, Bewegung, Zahl, männlich, weiblich). Mittlere Allgemeinheit, nicht ›Hirsch‹, sondern ›Kitz, Bock, Schimmel, Stute, Rappfohlen‹. Alles das durch Gesten verdeutlicht. Flexion als Charakteristik (symbolisch) in Lage und Verhalten des Bezeichneten, Urgrammatik als Bestand der Charakterisierungsgebilde am Wort. Syntax als Gesetz des Verfahrens der Satzbildung im Sprechen ›fortlaufend‹. Erst der Satz macht aus Wortsymbolen Wortbegriffe. Ein ›Begriff‹ ist ein Satzbestandteil, ein Träger kausaler Satzstrukturen (ein Ausruf ›O Gott‹ enthält ein Lautsymbol, keinen Begriff. ›Gott ist – –‹: das ist ›Gott‹ als Begriff). Der ›Begriff‹ existiert nur im fortlaufenden Satzsprechen (auch dem Denken als Mitsichsprechen).


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Die ›historischen‹ Sprachen sind durchsetzt von Versteinerungen wie nur irgendein Kalkgebirge. Alle ehemals lebendigen Formen haben sich da ›gesetzt‹, zertrümmert, abgeschliffen, vermengt: aber die Leitfossilien sind überall erkennbar. Im Grunde ist das ganze grammatische System fossil, weil das syntaktische Sprechen nicht nur mit ihm, sondern auch gegen seine archaische Starrheit arbeitet. Das[156] Skelett der Deklination und Konjunktion zerfällt rasch, soweit es nicht durch spätere Gemenge zusammengehalten wird. Fossil [ist] z.B. das Geschlecht der Substantive, das Medium, der Dual, der Unterschied von Personen und Sachen.


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Das syntaktische, ›geläufige‹ Sprechen und Verstehen des Gesprochenen beruht auf einer Art von Suggestion. Statt der wirklichen Begriffe und Flexionen dringt ein dichter Schwall von Lauten, Beziehungen, Andeutungen ins Ohr, welcher die geistigen Beziehungen bewirkt, welche ›gemeint‹ sind. Die Fähigkeit, diese Suggestion zu erreichen, liegt in den Ausdrücken: eindringlich, überzeugend, klar, unwiderstehlich sprechen. Es ist die ›Rednergabe‹. Das Gegenteil, die ausgebliebene Suggestion, ist mit dem Wort ›Geschwätz‹ gemeint.


187


Erst mit der Gewohnheit des Mitandernsprechens, aus dem das Mitsichselbstsprechen folgt, entwickelt sich das ›Privatleben‹ als stilles Innenleben erst neben und dann im Gegensatz zu dem öffentlichen Leben der Allgemeinheit. Es gibt neben dem geistigen Leben des Stammes noch das der Stände, Klassen, Klubs (Totemclane, Altersklassen), und dann hat jeder für sich ein nachdenkliches geistiges Innenleben: Aber das ist (Persönlichkeit). Und nun erst entsteht der Zwist: Beim Palaver alle unter einen Hut zu bringen, quot capita, tot mentes, weil jeder ›seine‹ Privatgeistigkeit behaupten und durchsetzen will. Starke Persönlichkeiten wollen die öffentliche Meinung beherrschen, schwache sich nur neben ihr behaupten. Typen des Rechthabers, Nörglers, Opponenten, Herrschers.


188


Es ist ein tragischer Unterschied zwischen Sprechenkönnen und Sprechenmüssen. Solange ein Schwärm von Menschen und Tieren als[157] Ganzes, als Wir fühlt, tut, ist, ist Sprechen der begleitende Ausdruck dieses Lebendigseins, als Zuruf, Bestätigung, Warnung, als Ausdruck von Jubel und Schmerz, Brunst und Energie. Man könnte schweigen, aber das gesteigerte Lebensgefühl drängt zum Laut.

Anders der Schwärm höherer Menschen, in dem jeder nicht nur das Wir, sondern darüber hinaus auch noch das ›Ihr und Ich‹ der Mehrheit fühlt: Hier drängt es zum Aussprechen, Vor- und Nachbesprechen, Mitsichsprechen, um immer wieder die Brücke zu schlagen zwischen sich und den andern, aus dem Druck des Fürsichseins, der Not des Zusammenseinmüssens. Das Sprechenmüssen vereinsamender Seelen führt zur Gewohnheit der Zwiesprache, deren logische Form kausaler Natur ist.

Und aus dieser Not, dieser zur Selbstverständlichkeit aufsteigenden Möglichkeit entwickelt sich ›Kulturleben‹, nämlich das gestaltende Leben, das nur durch Zwiesprache zwischen einzelnen die Gestaltungen herbeiführt.


189


Die d-Sprachen sind ohne Ausnahme das Ergebnis der Konvergenz. Sie bilden sich aus Dialekten, aber sie zerfallen sofort wieder von selbst. Die geistige Konvergenz ist aber syntaktisch – grammatisch die Lebenseinheit der Gesellschaft, im Wortbestand die des praktischen Lebens. Z.B. gab es keine urindische Sprache, sondern nur Dialekte. Die verschiedenen ›hellenischen‹ Sprachen von 1100 sind das Produkt der beginnenden Hochkultur: Sprachen der ritterlichen Internationale über dem Bauerntum: Dutzende von höfischen Redeweisen über Hunderten von Dorfdialekten, Skalden, Höfe, Kaufleute bringen dann die Konvergenz immer weiter.


190


Mit der Hochkultur bilden sich über den Dialekten die eigentlichen ›Sprachen‹ aus, z.B. die indischen, hellenischen, germanischen, aber da handelt es sich um Standessprachen, ohne Ausnahme. Es gibt eine[158] priesterliche Standessprache und eine adlige – Rigveda, Homer – oft als Schriftsprache festgehalten, die über dem. Bauern- und Beduinendialekt besteht und von Bauern kaum verstanden wird. Die Sprache der Stadt: auch da jede für sich, für die Unterklasse Dialekt bleibend oder wieder werdend (Berlin), weil die c-Denkweise ihren syntaktischen Stil findet. Erst die großen Staatengebilde [und] politischen Schicksale haben als Sprachschicksal die Ausbildung von echten Kultursprachen zur Folge: das sind aber Idealsprachen, die in Lehrbüchern beschrieben und gefordert, aber von niemandem wirklich so gesprochen werden.


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Die Formenkreise der Sprachbildung sind nichts weniger als ›Ursprachen‹. Weder ist man sich dieser Ähnlichkeit bewußt, noch kann man sich daraufhin verständigen. Die Voraussetzung dafür, daß man sich über weite Strecken hin trotz dörflicher Unterschiede verstehen kann, ist bereits ein politisch-händlerisches Zusammenfassen: Die Unterordnung der Dorfsprachen unter eine, welche die Sprache des Marktes, der Handelsstraße oder der regierenden Klasse ist. Auch [davon gibt es] noch viele Hunderte. Und erst an der Schwelle und im Bannkreise der Hochkultur, der Stadt, des Staates, der Schrift entwickeln sich Kultursprachen wie das Altvedische, Sumerische, die nun in die Dörfer dringen und dort Dialekte schaffen. Also


  • a) Elementare Formenkreise der Sprachbildung – Ornamentik
  • b) Herauswachsen von Herrensprachen (Regierung, Kult, Handel) über die dörfliche Sprachmasse
  • c) Festlegung von Kultursprachen (Schrift, Auswendiglernen, Sitte, Bildung).

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Sprachgeschichte: Gegenüber der heute herrschenden Ansicht, daß formal verwandte Sprachen aus einer ›Ursprache‹ hervorgegangen seien – eine Ansicht, welche rein philologisch, also blind fachwissenschaftlich ist und das wirkliche Bild der gesamten Kultur einschließlich[159] der Sprachsitte, kurz alles Nichtsprachliche: Siedlung, Gesellschaft, Rasse ignoriert –, will ich hier ein Bild geben, wie es die tatsächliche Geschichte fordert. Ich weise außerdem darauf hin, daß die ›Stammbaumlehre‹ der Sprachen eine verdächtige Ähnlichkeit mit dem Darwinismus besitzt, also der materialistischen Denkweise des vorigen Jahrhunderts entspricht, welche die Methode des Nachdenkens von vornherein festgelegt hat.

In der Tat muß man sich vorstellen, wie dann die Bevölkerung im Zeitalter der Entstehung grammatisch durchgebildeter Wortsprachen aus Zeichensprachen (UdA II) organisiert war. Es handelt sich um das 7.–5. Jahrtausend etwa, als die Fähigkeit des persönlich kausalen Denkens begann, das Leben zu organisieren. Von Städten ist keine Rede, ebensowenig von Nationen und Nationalstaaten. Der inneren formalen Verwandtschaft weiter Bevölkerungen – was ich fließende Kultur nenne – entsprach kein Bewußtsein dieser Verwandtschaft und noch viel weniger eine staatliche Zusammenfassung desselben. Die größte organisierte Formeinheit ist der Stamm, ein Dorf oder einige, ein enges Tal, das, was man an einem Tag versammeln kann. Tausende solcher Einheiten wohnen da, wo im 2. Jahrtausend ein ›Reich‹ bestehen kann. Sie gehören religiös und politisch zusammen und haben nur eifersüchtig und mißtrauisch behandelte Beziehungen gegeneinander, bei denen der Krieg der Naturzustand und der Friede die künstliche Ausnahme ist.

Es ist klar, daß eine Sprache sich in jeder dieser winzigen Einheiten für sich entwickelt. Der Rasseverwandtschaft entspricht eine Verwandtschaft der Aussprache und des Satzbaues, die geistige einer Verwandtschaft der Grammatik und des Wortbaues. Aber nicht mehr als Verwandtschaft! Der natürliche, heute noch bei Indern und Negern anzutreffende Zustand ist der, daß kein Dorf das andre versteht und daß für jeden Verkehr die alte Zeichensprache fortbesteht. Erst allmählich, als Handel und Politik mit ihrem Schicksal größere Einheiten bilden, beginnen diese Tausende von Dorfsprachen zu Hunderten von Landschaftssprachen zu werden: so ist es im 3. Jahrtausend am Mittelmeer noch sichtbar.[160]

Erst die großen Bewegungen der städtischen Kultur mit ihren Schriftsprachen lassen die meisten davon als politisch und händlerisch bevorzugte ›offizielle‹ Sprachen absterben; und nun erst beginnt die Dialektbildung: eine Rückbildung in den natürlichen Zustand, so daß schließlich jede winzige Gegend die gemeinsame Sprache wieder in ihrer Art spricht, also aus dem fossilen Stoff sich etwas Lebendiges macht.

Um ›das‹ Indogermanische zu nehmen, so ist als Anfang die Bildung unzähliger punktueller Dorfsprachen anzunehmen, die innerlich gleichartig oder ähnlich sind, aber so, daß überall Übergänge zur Nachbarschaft bestehen und also eine scharfe Grenze gegen andre ›Ursprachen‹ überhaupt nicht vorkommt. Wenn im 2. Jahrtausend Stämme mit solchen Sprachen nach Indien kamen, so bildete sich ein (relativ!) gemeinsamer Wanderjargon aus, gegen den die ältesten Sprachen verschwinden. Daraus werden dann höfische (Pali) und priesterliche (Veda) Mundarten, die viel später durch die Schrift auf einen Einheitstyp kommen. Ebenso haben Nordstämme, die nach der Ägäis kamen, unendliche Mundarten verschiedenster Art geredet, die von einem Jahrhundert ins andre auf wenige politisch bevorzugte zusammengeschmolzen, von hundert auf ein Dutzend (1200), endlich mit der Schrift auf ein paar Gruppen.

Was man aber ›dorisch‹, ›äolisch‹ nennt, sind erst Ergebnisse der politischen Staatsbildung, wo die Herrenschicht ihre synthetische Sprache zur ›Landessprache‹ erhebt. Tatsächlich hat noch in den Inschriften jedes Dorf seinen Dialekt.

Von Ägypten, Babylonien und China wissen wir es nur deshalb nicht, weil es eine offizielle Schriftsprache gibt und Dialekte schriftlos bleiben. Wie weit das geht: wie besitzen vom Galatischen und Makedonischen (trotz Alexander!) keine Zeile. Alles Schriftliche ist ›griechisch‹.


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Wie es aussieht, wenn jemand eine fremde Sprache mit eigner Syntax spricht, lehrt jedes Witzblatt, wo z.B. ein Neger englisch, ein[161] Jude deutsch, ein Slawe französisch radebrecht. ›Germanisierte‹ Bevölkerungen sprechen mit abweichender, ihrer Rasse entsprechender Syntax: lingua rustica, Satzbau der Ostelbier, Schweizer. Das fällt aber nur selten auf, weil sie eben ›deutsch sprechen‹. Eine Landkarte der grammatischen und der syntaktischen Elemente würde ganz verschieden aussehen, aber die heute übliche Art sieht nur auf die Grammatik. ›Pferd meiniges‹. ›Hat er gemacht ein Geschäft‹. Sprachwechsel einer Rasse ist nur ein Wechsel der Grammatik.


194


Bei der beliebten Aufstellung von Sprachverwandtschaft wäre etwas mehr Mathematik am Platze: Wenn zwei Sprachen Übereinstimmung aufweisen, etwa zwei Dutzend Wörter, so sollte man fragen, wieviel Prozent des bekannten Wortbestandes das sind: 10% z.B. würde die Grenze des Zufalls nicht überschreiten. Ebenso steht es mit dem Begriffe des Lautbestandes und der grammatischen Endungen.


195


Der Höhepunkt der grammatischen Systematisierung ist schon überschritten, bevor die Hochkulturen beginnen (in den Spätamöben also), und es beginnt eine syntaktische Kunst der Satzfolgen und Satzgruppen (Nebensatzarchitektur), welche das fossile Material der Urgrammatik abschleift und anders verwendet.


196


Sprache [ist] nicht nur Geist, sondern auch Weltanschauung: sie enthält die erste menschliche Philosophie und Religion! Alle spätere Philosophie ist eine Umdeutung dieser ersten. Religion ist also Sprachvertiefung. Philosophie sucht ›Irrtum‹ durch ›Wahrheit‹, d.h. Worte durch Worte zu ersetzen.[162]


197


Herder hat Recht: die Sprache ist der Ursprung der Kultur (341/2). Sprachen setzen statt der Wirklichkeit Namen und Worte. Sprache ist die eigentliche Philosophie, metaphysisch in ihrem Bau, in ihrem Material. Der sprechende Mensch geht nur in einem Traumbilde seines Verstandes umher (342), und zwar in einem unpersönlichen, in der Tradition des Sprechens liegenden. ›Traumbild des Geistes‹. Der echte Denker macht sich davon frei: für ihn ist die Sprache nicht Schatz von Ansichten, sondern Werkzeug.


198


Erst die Sprache als Gewohnheit macht aus sinnlichem Verstehen einerseits die Wahrnehmung, andrerseits den Geist. Die Sprachgeschichte ist die Geschichte der Emanzipation des Geistes. Alte Sprachen sind Zeugnisse früherer geistiger Zustände. Sprache und Geistesgeschichte sind dasselbe. Erzogen hat sich das menschliche Bewußtsein zum ›Geist‹ an der Sprache. Der Satz ist der Urniederschlag kausalen Bewußtseins: Subjekt – Prädikat. Das Lautgebilde (Wort) trennt das Leben vom Denken.


199


Der Satz als Element fließenden Sprechens enthält in seiner Struktur alle Elemente einer primitiven Metaphysik. Die Logik beginnt mit der Lüge. Die Fähigkeit, fließend zu sprechen, verführt zum Spiel, das für rassige Menschen von der Vorzeit bis heute den Tag beherrscht. Spiel der Einbildungskraft – Märchen, Lüge, Aufschneiden – Spiel der Hand – Ornament. Verkleidung, Nachäffen, Imitation (Stimme, Gebärde), Spiel mit dem Glück, Schicksal (Würfel, Wette, Schlacht).

Die Lüge ist die erste ›Sprache zu einem Zweck‹. Und erst aus diesem primitiven Spiel mit Tatsachen entsteht der Begriff der Wahrheiten! Lüge unter primitiven Menschen ist ein Zeichen von Schlauheit, Überlegenheit, Kriegslist, ein Genuß, man nimmt es nicht übel.[163] Harmlos. Erst die Sitte scheidet Kreise, innerhalb deren es ›unehrlich‹ ist, sich zu überlisten. Nur nach außen [ist es erlaubt:] Jesuiten. Northcliffe. Und die Moral fordert ein ›Ideal‹, ›Wahrheit‹.


200


Was für ein Unsinn! Man nimmt die Schriftsprache der Veden (1000 v.), Homers und die Inschriften am Ägäischen Meer (800 v.), Roms (200 v.), des persischen Hofes (500 v.), der gotischen Bibel (300 n.), [der] keltischen und germanischen Handschriften (800 n.), erfindet zu jeder ein ›Volk‹, behauptet, diese Völker hätten ein Urvolk mit einer Ursprache gebildet, ohne Rücksicht darauf, daß dies zufällig erhaltene Schriftsprachen sind, daß unzählige Bauernsprachen verschwunden sind, ohne durch Zufälle der politischen Geschichte in Schriftsprachen hineingebracht zu sein. Welch Unsinn! Wüßten wir nicht, daß die Sprachen Südwesteuropas, Amerikas, der Philippinen, der unteren Donau, indirekt auch Englands, Kanadas, Australiens aus dem Dialekt der kleinen Stadt Rom hervorgegangen sind, durch geschichtliche, nicht sprachliche Ereignisse, wir würden längst aus Indianern, Spaniern, Franzosen, Indern etc. ein ›Urvolk‹ erfunden haben und seine ›Sitze‹ etwa in Frankreich suchen. Der Eingriff der politischen Geschichte in die Sprachgeschichte ist unendlich groß.


201


Persönliche, künstlerische Gestaltungskraft, abstrahierend, erklärend, kritisch: Aus Sprachgewöhnung vom Zeichen zum Erzählen (›Sänger und Hörer‹). Urform der Dichtung, Schöpfung eines Bildes von Vergangenem. Erklärender Mythus (Tiermärchen. Es war einmal), sexuelle Erklärung und rühmende Schilderung (Jägerlatein. Ich war einmal. Bedeutung der 3. und 1. Person). Hier beginnt, Zeichen losgelösten Geistes, schon der Humor (in der Tiergeschichte) und Witz (über andre). Ein Spiel mit der Sprache, mit Logik, mit Denkgesetzen (Humor = Norden, Weite; Witz = Süden, Enge?).[164]

Im Erzählen findet endlich das Schicksal, der Zu fall, die Zeit eine Ausdrucksform. Hat sich daran das Perfektum entwickelt? Die reale Mitteilung braucht diese Form gar nicht.


202


Semitohamitisch: Das Tempo der Sprachveränderung entspricht durchaus dem Tempo der Veränderung der Lebensformen (überall? Indianer?)

Sehr alte Systeme wie das Semitohamitische können in abgeschlossenen Erdräumen, wo sich nichts ändert, wie in Arabien, zu einer erstaunlichen Unbeweglichkeit führen. Das Arabische ist beinahe unbeweglich, während das Ägyptische, entstanden auf dem Boden einer aufsteigenden Hochkultur, eine rasende Veränderung durchmacht.

Man sollte aber einen neuen Begriff einführen: So wie zu den Rassezügen mendelnde Art gehört, nicht etwa eine bestimmte Form der Nase, sondern ein Ausmaß von Variabilität, so ist auch bei grammatischen Systemen die Variabilität von der Starrheit bis zur Leichtflüssigkeit ein Formelement, das bei den arischen Systemen dem letzten, bei dem semitischen dem ersten Extrem zuneigt!


203


Zu den Verbreitungsmotiven der Urzeit gehört der Verkehr längs der uralten ewigen Handels- und Wasserstraßen, der Hunnen-, Waräger-, Vandalen- [und] Galaterstraße. Was wissen wir denn von der Geschichte, den Tendenzen, Schlachten, Führern im 3./2. Jahrtausend in Europa! Längs dieser Straßen muß sich irgendeine Sprache zur Handelssprache ausgebildet haben: Zunächst unter den Händlern, dann in der Siedlung, von dort vielleicht über ganze Stämme hin. Denn es gab damals noch keinen ›Stolz auf die Muttersprache‹.

Wenn also die Keramik Beziehungen von Elam bis zur Adria beweist – sind dann Sprachen von sumerischem Typus dorthin gewandert und haben sich verbreitet (Etruskisch, Lemnos, Novilara ...)?[165]

So haben sich Jonisch, Punisch, Spanisch, Venezianisch längs der Häfen verbreitet, Griechisch in Südrußland und [in der] Provence.


204


Mit der Sprache sucht der Mensch die Übermacht der Umwelt zu überlisten. Dazu verbündet er sich mit seinesgleichen. Aspekt der ›Menschenerde‹: der Mensch gegen die Welt. Sprache ist List, Waffe, Macht. Die Grammatik. Das fließende Sprechen ist Prosa, Alltag. Die ›Worte‹ sind zum Teil Prosa, Urlaute. Mit der Sprache beginnt der Hochmut gegen die Tiere.

Sprachmelodie hat eine enorme Rolle gespielt und [hat] sie heute noch. Im entwickelten Schriftgebrauch durch Interpunktion ausgedrückt: ? ! – sind Melodiezeichen. Unterschiede: Satzmelodie als Rasseausdruck: singend (Thüringen), Franzosen; melodischer Sinngebrauch: Frage, Antwort.


205


Das Sprechen unter c-Menschen geschieht mit dem ganzen Leibe: Miene, Arm, Bein. Wenn ein Neger eine Geschichte erzählt, führt er sie zugleich vor, ebenso eine alte Bäuerin, die Kindern Märchen erzählt. Die grammatischen Sätze sind kurz. Das syntaktische Element wird durch (unwillkürliche) Gesten besorgt. Auch beim Palaver, heute noch in südlichen Parlamenten und Volksversammlungen, Straßenaufläufen. Nur der ›Gebildete‹ spricht rein sprachlich, ohne Gesten. Der ›Sprechgesang‹ (Tonfall) ist noch ein primitiver Rest.


206


Es ist falsch, Poesie und Prosa zu unterscheiden und womöglich die erste als die ältere Form hinzustellen. Das erste ist eine gestammelte Rede ohne eigentlichen Satzbau, kurz, durch Gesten verdeutlicht. So spricht heute noch der Bauer zu seinem Knecht. Aber die Sprachforscher, die den ganzen Tag diskutieren, lesen und schreiben, halten ihr[166] durchgebildetes Sprachniveau – das der Bauer gar nicht verstehen würde – für ›die‹ Sprache. Cicero als Quelle für lateinische Syntax!

Die erste Trennung zweier Spracharten Hegt in c: alltägliche und gehobene Prosa, nicht etwa ›Poesie‹, sondern bewußtes Schönsprechen: Anrede, Kultrede, Märchen und Heldentaten erzählen. Erzählen, Vortragen, feierlich Reden ist dem Wesen nach anders als Frage, Befehl, Feststellung. Erst viel später wird das ›Urlied‹ – Melodie ohne Worte, la-la-la – durch einen ›Text‹ bereichert: es entsteht die rhythmische Sprachkunst, zuerst hymnisch, Marschlied, Tanzlied, dann erst ›Lied an sich‹.


207


Jede Bezeichnung von Dingen, Eigenschaften, Tätigkeiten entsteht im Gegensatz des Eindrucks zu einem andern. Polarität der Begriffspaare. Der erste Begriff ist immer Ausdruck eines feindlichen, unangenehmen Eindrucks. Häßlich ist früher da als schön, schlecht früher als gut. Die Sprache aus der Angst geboren stellt zuerst das Angsterregende fest. Die Sprache in b ist Sprechen ohne Sprache, wie Zeichnen ohne Zeichen. Erst beim Übergang zu c entstehen die festen Lautgruppen als Ausdrücke fester erlernbarer Bedeutung. Sprache ist Ausdruck für einen Eindruck.


208


Ursprache: Das ›Zeichen‹ ist niemals starr. Wir glauben es nur, weil das Schriftbild es zu sein scheint. Aber man spricht selbst die einfachsten Worte immer wieder anders. Was gleich bleibt, ist sozusagen das musikalische Thema des Wortes, jedes wirklich ausgesprochene Wort aber ist eine Variation über das Thema (Sievers!). Heute, wo uns das Schriftbild begleitet und festhält, ist die Veränderlichkeit gering; zu Anfang – wie heute im Dialekt – ist sie unendlich groß, so daß nur im engsten Kreise das Wort wiedererkannt wird. Deshalb muß die Sprachforschung von dem Dialekt und nicht vom Schriftbild ausgehen.

Die ältesten Worte wurden ›gesungen‹, rein musikhaft, wie Lachen und Weinen. Die konsonantische Seite trat hinter der vokalischen zurück.[167] Noch heute liegt der tiefe Sinn nicht des ›Wortes‹, sondern des augenblicklichen Wortgebrauchs im Ton (fragend, klagend, bestätigend, Sievers). Die ältesten Schriftsprachen legen deshalb eigentlich nur Wert auf die konsonantische Fixation: die Vokalisation mußte man im Umgang gelernt haben. Sie gehörte nicht zum festen Bestand des Wortes – wie heute noch!

Quelle:
Oswald Spengler: Frühzeit der Weltgeschichte. München 1966, S. 134-168.
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