§ 6. Anfänge der Staats- und Rechtsphilosophie.

  • [321] Literatur: Über die zahlreiche ältere Literatur betr. Macchiavelli berichtet ausführlich Robert v. Mohl, Gesch. und Liter. d. Staatswiss. III, 519-551; das bedeutendste neuere Werk ist das von Villari, 3. Aufl.[321] 3 Bde., 1912-14, ins Deutsche übersetzt von Mangold, Leipzig 1877-83, vgl. außerdem die Monographie von R. Fester, Stuttg. 1900. M. s bekannteste Schrift Il Principe, Venedig 1515 erschienen, öfters ins Deutsche übersetzt, u. a. in Kirchmanns hist.-polit. Bibliothek und bei E. Diederichs (1912), zusammen mit der Gegenschrift Friedrichs d. Gr. – Die zuverlässigste Ausgabe von Morus' Utopia von V. Michels, mit sachlicher Einleitung von Theob. Ziegler, Berlin 1896, deutsch auch bei Reclam; die eingehendste Monographie ist die von K. Kautsky, Stuttgart 1890, 2. Aufl. 1907. Über die übrigen Utopien s. die betreffenden Abschnitte der Geschichte des Sozialismus in Einzeldarstellungen, Bd. 1 von Ed. Bernstein, Hugo, Kautsky und Lafargue. – Das ausführlichste Werk über Bodin ist: Baudrillart, Bodin et son temps. Paris 1853: – Über Althus vgl. Gierke, Johannes Althusius und die Entwicklung der naturrechtlichen Staatstheorien (1880, 2. Aufl. 1902). Über Vico vgl. O. Klemm, Vico als Geschichtsphilosoph und Völkerpsycholog. 1906. B. Croce, La filosofia de V., Bonn 1911.

1. Macchiavelli.

Auch die Anfänge selbständiger Staats- und Rechtsphilosophie, die in der Zeit der Renaissance auftauchten, waren von dem Geist der Antike erfüllt oder doch angeregt. So hat der berühmte florentinische Staatsmann Nicolo Macchiavelli (1469-1527), durch seine Verbannung 1512 zur Schriftstellerei veranlaßt, aus dem Studium der römischen Geschichte den Antrieb zu seiner politischen Theorie erhalten, zu der dann allerdings in noch höherem Grade die Bedürfnisse und Einflüsse des modernen Staatslebens mitwirkten. In seinen Untersuchungen (Discorsi) über die erste Dekade des Titus Livius leitete er aus der Geschichte seiner antiken Landsleute die Gesetze der Erhaltung der Staaten ab, während sein Principe dem zerrütteten Staate, den er in dem augenblicklichen Zustande seines Vaterlandes vor Augen hatte, die nach seiner Ansicht unumgänglichen Grundsätze seiner Wiederaufrichtung vorhielt. Seine Geschichtsauffassung ist durchaus naturalistisch. Die Geschichte erscheint ihm als ein beständiger Kreislauf von Ordnung, Kraft, Müßiggang, Unordnung, Zerrüttung, und aus dieser wieder Rückkehr zu Kraft und Ordnung. Erhalten wird ein Staat durch die gleichen Eigenschaften, die ihn gegründet haben. Deshalb fordert er für sein Italien die Wiedergeburt der antiken Kraft und Größe; zu diesem Zweck verlangt er, in Konsequenz des von Dante (S. 269) Begonnenen, in bewußtem und schärfstem Gegensatz zu dem mittelalterlichen Staatsideal, völlige Trennung von Staat und Kirche; denn in der römischen Kirche und dem Papsttum sieht er das schlimmste Hindernis des von ihm ersehnten unabhängigen[322] italienischen Nationalstaates. So hat auch der verrufene Macchiavelli sein Ideal. Freilich, um es zu verwirklichen, erscheint ihm jedes Mittel recht. In der Politik soll man nicht fragen: Was ist gut oder schlecht?, sondern: Was ist nützlich oder schädlich? Es gibt in ihr nur eine Tugend: die Tatkraft (virtù). Wer sich der Moral nicht entschlagen kann, soll als Privatmann leben. Das Gute tun die Menschen nur aus Zwang. Hunger und Armut machen sie betriebsam, die Gesetze gut. Die christliche Moral dagegen – so sagt der Mann der Renaissance, Nietzsche vorausnehmend – hat mit ihrem Preis der Demut, der Selbstüberwindung und der Kraft im Leiden die Menschen schwach gemacht. Am verhaßtesten sind ihm diejenigen, welche weder zum Guten noch zum Bösen Energie zeigen. Den geistigen Gehalt der Religion verkennt dieser reine Machtpolitiker gänzlich, er schätzt sie nur aus politischen Gründen. Ebensowenig hat er ein Auge für die in der Stille wirkenden wirtschaftlichen Kräfte. Die Politik geht ihm ausschließlich in Intrigenspiel und Machtkampf auf.

Macchiavelli ist einseitig und kalt, aber scharf und klar. Mit der bloßen moralischen Verurteilung, zu welcher die »macchiavellistischen« Grundsätze seines Principe allerdings herausfordern, ist es nicht getan. Friedrich der Große, der eine solche in seiner Jugendschrift Anti-Macchiavell gab, hat sich als Herrscher nicht selten zu »macchiavellistischen« Handlungen genötigt gesehen.


2. Thomas Morus.

In vollstem Gegensatze zu dem italienischen Realpolitiker steht der erste neuzeitliche Utopist, der englische Kanzler Thomas Morus (1480-1535), der fein gebildete Humanist und Staatsmann, der seine Überzeugungstreue gegenüber dem brutalen Heinrich VIII. mit seiner Hinrichtung zu büßen hatte. Seine lateinisch geschriebene Utopia (Nirgendheim), die einer ganzen Literaturgattung den Namen gegeben hat, ist seit ihrem ersten Erscheinen (1516, deutsch zuerst 1524) sehr oft herausgegeben worden. Die hier zum erstenmal seit Plato wiederkehrende ausführliche Zeichnung eines Idealstaates ist nicht, wie man vielfach angenommen hat, das phantasievolle Erzeugnis einer müßigen Stunde, sondern in ernster Absicht erdacht. Das geht schon aus dem einleitenden, durchaus historisch gehaltenen Teile hervor, der das traurige Los der Massen in England in sehr[323] realistischen Zügen schildert. Und bei aller romanhaften Einkleidung, bei einzelnen asketischen und religiösen Zügen, die den frommen Katholiken, neben einem geistigen Aristokratismus, der den Freund des Erasmus verrät, sind doch hier schon eine ganze Reihe Probleme berührt, die heute den sozialen Denker aufs ernstlichste beschäftigen: die Aufhebung des Privateigentums zugunsten eines wirtschaftlichen Kommunismus, die Organisation der Arbeit, die Frauenfrage, das Übervölkerungsproblem. Bereits hier wird die Abschaffung des Eigentumsrechtes erörtert, das Recht auf Arbeit und der Sechsstundentag gerechtfertigt, die gewöhnlichen Einwände gegen die Durchführbarkeit der sozialistischen Idee widerlegt, die »kleinen« und »großen« Mittel unterschieden, auf die unverjährbaren Rechte der Natur gegenüber dem bloßen Zufall der Geburt hingewiesen. Besonders bemerkenswert für einen praktischen Staatsmann des 16. Jahrhunderts ist Morus' ausgeprägte Abneigung gegen den Krieg. Morus war seiner Zeit weit voraus. Ein Schatten fällt allerdings auch auf seinen Idealstaat: für die niedrigsten Arbeiten existiert eine Art mit Zwangsarbeit behafteter Sklavenstand, aus den Verbrechern des eigenen und fremder Länder und freiwillig sich verdingenden Tagelöhnern des Auslandes bestehend; die Kinder sind übrigens wieder frei. »Nichts wird eben,« wie Morus einmal sagt, »gut und vollkommen sein, wenn nicht die Menschen gut und vollkommen sind.«

Morus' Utopia fand zwar große Verbreitung, indes erst im 17. Jahrhundert zahlreichere Nachfolger: Campanellas Sonnenstaat (1630, s. § 3), die Fragment geblichene Nova Atlantis Bacos von Verulam (1621), die Oceana des Engländers Harrington (1656) und des Franzosen Vairasse »Geschichte der Sevaramben« (1677). In der Zeit der Religionskriege und der Entwicklung zum absoluten Königtum nahmen andere staats- und rechtsphilosophische Probleme das öffentliche und gelehrte Interesse in höherem Grade in Anspruch.


3. Bodin.

Einen dritten, sowohl der reinen Machtpolitik des Florentiners wie dem utopistischen Sozialismus des englischen Kanzlers entgegengesetzten, Typus der Staatsphilosophie vertritt der Franzose Jean Bodin (Bodinus, 1530-1596). Schon in seiner Jugend ein gefeierter[324] Rechtsgelehrter, gab er im Jahre 1577 sein Werk De la république heraus. Bodin ist Gelehrter und Jurist, nicht praktischer Staatsmann; von den eigentlichen politisch-religiösen Parteikämpfen hielt er sich, ähnlich seinen Zeitgenossen und Geistesverwandten Montaigne und Charron, fern. Der politische Zweck geht ihm im ethischen, der Bürger im Menschen auf; er neigt zum Moralisieren. Auch er ist von den Alten lebhaft angeregt, neben Aristoteles von Cicero und den Stoikern. Die Gerechtigkeit, der Zweck des Gemeinwesens, fließt aus dem natürlichen Licht der menschlichen Seele, die ursprünglich gutartig ist; dem Macchiavelli tritt er daher aufs schärfste entgegen. Gegenüber diesem Absolutisten erscheint er wie ein heutiger Liberaler. Während Macchiavelli im Grunde Republikaner ist, aber zu seinen Zwecken die absolute Gewalt des »Fürsten« fordert, so ist Bodin von Haus aus Monarchist und stellt sogar einen stark absolutistisch gefärbten Souveränitätsbegriff auf, ver langt aber, daß der Herrscher nach den Gesetzen Gottes oder der Natur regiere. Geschichtsphilosophisch hat er das Verdienst, als einer der ersten auf die geographischen Vorbedingungen des Volkscharakters und der Wirtschaftsweise der einzelnen Länder, sowie auf die bei aller Mannigfaltigkeit doch vorhandene Gesetzmäßigkeit der geschichtlichen Entwicklung hingewiesen zu haben (vgl. seine Schrift Methodus ad facilem historiarum cognitionem 1566).

Eigenartiger und bedeutsamer als seine politische ist seine religionsphilosophische Stellung. Die Schrift seines Alters, das Collegium heptaplomeres, ist ein auf dem toleranten Boden Venedigs spielendes Gespräch von sieben lebendig gezeichneten Vertretern der verschiedensten Bekenntnisse: je eines Calvinisten, Katholiken, Lutheraners, Juden, Mohammedaners und – zweier Vertreter der natürlichen Religion, unter deren einem (Toralba) Bodin selbst zu verstehen ist. Die Grundgedanken sind: Keine Religion ist allein seligmachend, in allen ist als ihr Wesen und Kern die natürliche Religion vorhanden, d. i. der Glaube an Gott, Freiheit und Unsterblichkeit, der von der Natur in jedem Menschen wohnt. Der Staat soll alle dulden und schützen. Nur zum Ertragen der Atheisten vermag sich der sonst so duldsame, Friede und Eintracht predigende Bodin nicht aufzuschwingen, und gegen Zauberer und Hexen forderte er in einer besonderen Schrift strenges Einschreiten. Seinem politischen Ideal entsprach der tolerante König Heinrich IV.[325]

Trotz der so gemäßigten Ansichten seines Verfassers galt das Collegium heptaplomeres den Zeitgenossen als etwas Unerhörtes; die Schrift wurde nur in Abschriften heimlich verbreitet und wird im 17., ja noch im 18. Jahrhundert öfters mit Abscheu erwähnt. Der Urtext wurde erst 1857 nach einem Manuskript der Gießener Bibliothek von L. Noack vollständig herausgegeben, nachdem 1841 ein Teil nebst einem Auszug in deutscher Sprache von Guhrauer veröffentlicht worden war.


4. Althus.

Vertrat schon Bodin ein aus der Natur des Menschen fließendes Recht, so tritt dies, übrigens schon von der Stoa und einem Teil der Scholastik (Thomas) gepflegte Naturrecht doch erst nach ihm deutlicher auf. Sein Begründer in Deutschland ist Johannes Althusius (Althus), den der Berliner Rechtshistoriker Gierke durch seine Monographie (S. 322) aus unverdienter Vergessenheit gezogen hat. Geboren 1557 in der Nähe von Siegen, gestorben 1638 als Syndikus der Stadt Emden, trat Althus, im Gegensatz zu Bodin, in Leben und Lehre für das Prinzip der Volkssouveränität ein. Wie er das Recht der ostfriesischen Bürger und Bauern mutig gegen den Adel verfocht und mit Begeisterung den Freiheitskampf der Niederlande gegen die spanische Tyrannei verfolgte, so betrachtet er auch theoretisch in seiner Politica (1603), die nicht weniger als acht Auflagen erlebte, als Quelle des Rechts den (natürlich nur idealen, nicht geschichtlichen) Gesellschaftsvertrag. Die Ephoren (Volkstribunen, »Stände«) sind berechtigt, einen pflichtvergessenen Fürsten zu vertreiben, ja hinzurichten. Einen fruchtbaren Gedanken Bodins weiterbildend, legt Althus viel Wert auf die Mittelglieder zwischen Individuum und Staat: Familie, Korporation, Gemeinde, Provinz. Dagegen ist dieser eifrige Verteidiger politischer Freiheit als leidenschaftlicher Calvinist Gegner der Religionsfreiheit. Der protestantisch-theologische Standpunkt macht sich auch in seinen sittlichen Anschauungen – abgesehen von einer Schrift über die Umgangstugenden – stark bemerkbar. Und im ganzen bildet er mehr den Abschluß einer vorangegangenen Epoche, als daß er eine neue einleitete. Aber in seinen rechts- und staatsphilosophischen Ausführungen arbeitet er doch, wenn er sie auch mit Beispielen aus der biblischen Geschichte zu stützen sucht, nicht, wie die meisten übrigen »Monarchomachen«,[326] mit theologischen Beweisen. Die Gewalt der Ephoren stammt z.B. nur mittelbar von Gott, unmittelbar vom Volke.


5. Die Monarchomachen.

In kirchlichem Interesse verfochten auch der schottische Presbyterianer Buchanan (†1582) und die französischen Hugenotten Hotman und Languet (der 1579 seine Vindiciae contra tyrannos unter dem Namen Junius Brutus schrieb) aufs schärfste das Prinzip der Volkssouveränität gegenüber der Monarchie, während aus demselben Grunde umgekehrt die deutschen Lutheraner, dem Vorbilde Luthers und Melanchthons folgend, das unantastbare Recht der Fürsten und die göttliche Mission der Obrigkeit verteidigten. Dagegen behaupteten wiederum im Interesse ihrer Kirche die Jesuiten, daß der Staat ein menschliches Machwerk sei, durch einen ursprünglichen Vertrag zwischen Fürsten und Volk entstanden, welches letztere sein ursprüngliches Recht stets wieder an sich zu nehmen berechtigt sei, wenn der König sich der ihm übertragenen Macht unwürdig zeige: so außer dem schon oben (§ 5) genannten Suarez die spanischen Jesuiten Molina, Bellarmin und namentlich Mariana (1537 bis 1624), der an die freiere Verfassung seiner Heimat Aragonien gewohnt war. Die Monarchie verdient zwar an sich den Vorzug, ist aber durch Gesetze in bestimmter Weise zu beschränken. Der Tyrann dagegen, der den Staat zugrunde richtet, die öffentlichen Gesetze und – die »heilige Religion« verachtet, soll zuerst gewarnt, wenn das nicht hilft, abgesetzt, gegebenenfalls getötet werden; das letztere indes nur, wenn die öffentliche Volksstimme oder »gelehrte und angesehene Männer« es gestatten (De rege et regis institutione, 1589). Welche praktischen Folgerungen daraus gezogen wurden, kam in der Ermordung Heinrichs IV. durch Ravaillac zutage, ebenso wie später die Hinrichtung Karls I. von England eine Folge der »monarchomachischen« Theorien war. Unter dem »Volk« verstehen freilich diese Monarchomachen noch fast durchweg – die bevorrechteten Stände!


6. Hugo Grotius.

Dagegen tritt aus dem Rahmen enger Konfessionspolitik mehr heraus der in Italien geborene, aber wegen seines Protestantismus nach England ausgewanderte Naturrechtslehrer Albericus Gentilis (1551-1611), der[327] mit seinem Hauptwerk De iure belli (1588/89) ein Vorläufer des Niederländers Hugo Grotius ist.

Hugo de Groot, geboren 1583 zu Delft, schon mit sechzehn Jahren Doktor der Rechte und früh zu hohen Vertrauensstellungen in seinem Vaterlande gelangt, dann aber in den Sturz der republikanischen Partei durch die oranische verwickelt und nur durch die List seines treuen Weibes lebenslänglicher Gefangenschaft entgangen, wurde 1635 in Paris schwedischer Gesandter und starb 1645 auf einer Reise nach Schweden in Rostock. Er fällt zwar der Zeit nach nicht mehr streng in den Rahmen der Renaissance, wohl aber der Sache nach, indem auch er auf das Echt-Menschliche und Natürliche zurückgeht. Ist er auch nicht der erste Urheber des Naturrechts gewesen, für den man ihn früher hielt, folgt er auch vielfach den Spuren der Stoa, der römischen Jurisprudenz und selbst des h. Thomas, so hat er es doch in seinem berühmten Werke De iure belli ac pacis (1625) zuerst tiefer und eingehender begründet und zugleich mit dem Völkerrecht verbunden, als dessen Begründer er anzusehen ist. (Übersetzt ist das umfangreiche Werk von Kirchmann in der Philos. Bibliothek, Bd. 31 und 32.) Freilich geschieht die Verselbständigung der Rechtswissenschaft noch in der Weise, daß neben dem menschlichen, auf die Vernunft gegründeten noch ein »göttliches«, auf die Offenbarung gegründetes Recht unterschieden wird, allein beide Sphären werden doch streng voneinander gesondert. Das Naturrecht kann selbst von Gott, der als Schöpfer der menschlichen Natur auch sein letzter Urheber ist, nicht abgeändert werden, so wenig wie der Satz, daß 2 x 2 = 4 ist; es wäre gültig, auch wenn kein Gott existierte. Es entspringt lediglich aus den »inneren Prinzipien« des Menschen, aus dessen ursprünglichem natürlichen Geselligkeitstriebe (appetitus societatis); denn Gemeinschaftsleben ist dessen Bestimmung. Es besteht in dem, was die Vernunft als mit der Natur des Menschen übereinstimmend oder daraus folgend erkennt. Alles Recht beruht auf der Voraussetzung, daß Verträge und Versprechungen dazu da sind, gehalten zu werden, und diese Voraussetzung wieder auf einem, wenn auch nur stillschweigenden, ursprünglichen Vertrage. Der Staat ist durch den Willen der einzelnen entstanden, das Recht des Einzelnen gegenüber der Gesellschaft kann daher nie verschwinden, wie denn überhaupt die ganze Rechtsordnung bei Grotius wesentlich dem Schutze der individuellen Interessen dient. Auch Grotius[328] lehrt die ursprüngliche Souveränität des Volkes, doch mit der Beschränkung, daß das letztere sie auf immer einem einzigen Fürsten oder Stande übertragen könne!

Die Grundlagen des Völkerrechts (ius gentium) entsprangen ihm aus der Frage: Wann ist ein Krieg gerecht, und wie ist er zu führen? Der Krieg zwischen einzelnen Personen ist auf Notwehr zu beschränken, der des Einzelnen gegen den Staat als Aufruhr zu unterdrücken; der des Staates gegen einzelne, nämlich die Strafe, ist gerecht und nützlich, wenn sie angewandt wird, nicht quia peccatum est, sed ne peccetur; der Krieg zwischen Staaten endlich ist nach den Grundsätzen der Humanität zu führen. Gerecht ist er nur, wenn offenbares göttliches oder natürliches Recht verletzt worden ist. Treue und Redlichkeit sind die beste Politik. Grotius' Ausführungen haben mächtigen Eindruck auf seine Zeit gemacht und lange Zeit die gesamte Rechtsphilosophie beherrscht.

Grotius war auf vielen Gebieten zu Hause. Er verteidigte als scharfsinniger Rechtsgelehrter die Handelsfreiheit im Interesse seines Vaterlandes in der Schrift De mari libero, 1609, gegen England. Er war ein gelehrter Philosoph, aber auch ein trefflicher Humanist (Verfasser lateinischer Gedichte und zweier religiöser Dramen), Geschichtskenner und -schreiber, ja sogar – Theologe. Er schrieb u. a. eine ausführliche Exegese zum Alten und Neuen Testament und eine in zahlreiche fremde Sprachen übersetzte Verteidigung des Christentums (De veritata religionis Christianae, Leyden 1622). Als von selbst einleuchtende und notwendige Religionswahrheiten erscheinen ihm das Dasein Gottes und die Vorsehung. Wer diese leugnet, muß unterdrückt werden. Im übrigen will Grotius, seiner niederländischen Abstammung getreu, duldsam verfahren und kein Volk wegen seines abweichenden Glaubens bekriegt wissen, selbst ein heidnisches nicht, denn der Glaube an historische und übernatürliche Wahrheiten kann niemand aufgedrängt werden.


7. Giovanni Battista Vico.

Endlich möge bereits an dieser Stelle ein italienischer Denker erwähnt werden, der zwar erst ein Jahrhundert später gelebt, aber an Bodin und Grotius sich gebildet hat: der Begründer der neueren Geschichtsphilosophie und Völkerpsychologie Giovanni Battista Vico (1688-1744), Lehrer der Rhetorik an der[329] Universität Neapel. Gegenüber der geistigen Leere, die nach der Unterdrückung von Bruno, Campanella und Galilei unter der Alleinherrschaft des von Spanien aus unterstützten Jesuitismus über die Philosophie Italiens hereinbrach, bildet die einsame Gestalt des durch die neuplatonische Renaissance, namentlich Campanella, beeinflußten Neapolitaners den einzigen Lichtpunkt. Vico blieb zwar gläubiger Katholik, äußert aber bereits eine ganze Reihe moderner geschichtsphilosophischer Ideen. Der Grundgedanke seines Hauptwerks Prinzipien einer neuen Wissenschaft von der gemeinsamen Natur der Völker (1725, ins Deutsche übersetzt 1822) ist der, daß bei allem Walten der Vorsehung im Grunde doch die Menschen selbst, der Natur ihres Wesens und zugleich ihren sozialen Bedürfnissen folgend, ihre Geschichte gestalten, und daß die Entwicklung der Völker nach einem allgemeinen Gesetze natürlich fortschreitet. So folgt z.B. im Altertum wie in der neueren Zeit dem mythisch-theokratisch-patriarchalischen ein aristokratisch-ritterliches und diesem ein bürgerliches (demokratisches oder monarchisches) Zeitalter. Weniger modern ist Vicos Metaphysik, die, gegen Descartes gerichtet, platonisch-augustinische Gedanken mit einer Art Monadenlehre verbindet.

Quelle:
Karl Vorländer: Geschichte der Philosophie. Band 1, Leipzig 51919, S. 321-330.
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