§ 5. Heraklit.

  • [35] Literatur: Schleiermacher, Herakleitos der Dunkle von Ephesos, 1807 (S. W. III. 2, 1-146). J. Bernays, Gesammelte Abhandlungen I, ed. Usener, 1885. Ferd. Lassalle, Die Philosophie Herakleitos des Dunklen von Ephesos, 2 Bände, Berlin 1858. P. Schuster, Heraklit von Ephesus, Leipzig 1873. Teichmüller, Neue Studien zur Gesch. der Begriffe I. II, Gotha 1876, 78. E. Pfleiderer, Die Philosophie d. Her. v. Eph. im Lichte der Mysterienidee, Tübingen 1886.
    Die meisten Schriften über Heraklit, insbesondere die Lassales (des bekannten Sozialisten), leiden an dem Fehler, Heraklit in zu starkem Maße Mm Vater aller möglichen modernen Ideen machen zu wollen. Die beste Sammlung seiner Fragmente jetzt bei Diels, a. a. O. S. 66-84.

Nicht ohne Grund hat Hegel den Heraklit für den ersten spekulativen Philosophen erklärt. Die Milesier (§ 2) waren vor allem doch Naturforscher; Ausgangspunkt und Gegenstand ihres Forschens blieb der Kosmos. Dieser Sachverhalt blieb im wesentlichen auch bei den Pythagoreern, wenn sie auch zu mathematischem Denken über das Weltall sich erhoben. Heraklit beginnt, falls wir von den soeben erwähnten kritischen Äußerungen des Xenophanes absehen, zum erstenmal über das Denken[35] selbst zu philosophieren, obgleich auch sein Hauptobjekt das Weltall bleibt.

1. Leben. Mit Heraklit kehren wir wieder nach der Urheimat der griechischen Philosophie, dem ionischen Kleinasien, zurück. Er stammte aus Ephesus und zwar, wie das für fast alle diese älteren Philosophen kennzeichnend ist, aus vornehmem Geschlechte. Dieser Abstammung entsprach auch seine schroff-aristokratische Gesinnung, die ihn nach dem Siege der Volkspartei von dem öffentlichen Leben sich völlig – wie es heißt, in die Waldeinsamkeit – zurückziehen ließ. Sein Leben fällt wahrscheinlich in die Zeit zwischen 535-475. Im Leben wie in der Philosophie ging er als stolzer, einsamer und verbitterter Denker seinen eigenen Weg. Die tiefsinnige, feierliche, bilder- und gleichnisreiche, ja öfters gewollt orakelhafte Sprache seines Buches brachte ihm schon im Altertum den Beinamen des »Dunklen« ein. Nach Sokrates bedurfte es eines delischen, d.h. vorzüglichen Tauchers, um bei Heraklit auf den Grund zu kommen. 137 Fragmente (darunter 11 unecht) sind erhalten.

2. Prinzip. Heraklit stellt sich in bewußten Gegensatz nicht nur zur Menge, sondern auch zu seinen nächsten philosophischen Vorgängern und Zeitgenossen; nur die milesischen Naturphilosophen tadelt er nicht, an deren zweiten (Anaximander) er in der Tat auch in manchem erinnert. Die Menge sei taub für die Wahrheit, auch wenn diese ihr nahe trete, und halte sich in ihrem Unverstande lieber an die Gesänge der Dichter, von denen er besonders Homer, Hesiod und Archilochos bekämpft, und den Troß vorgeblicher Lehrer. Vielwisserei sei eine schlechte Kunst und belehre den Geist nicht; das sehe man an Hesiod und Pythagoras, Xenophanes und Hekataios. Er selbst ist sich offenbar bewußt, eine völlig neue Bahn zu eröffnen, die er durch eigenes Ringen gefunden hat. »Ich erforschte mich selbst,« sagt er einmal voll stolzen Selbstgefühls. Das menschliche Bewußtsein tritt dem Objekt gegenüber.

Der Grundgedanke der neuen Lehre ist der: In der gewöhnlichen Ansicht vom Sein der Dinge steckt ein Vorurteil, wir müssen sie als werdende betrachten. Es gibt nichts Festes und Beharrliches in der Welt. Panta rhei, d. i. Alles ist im Flusse, in ewigem Wechsel und Werden begriffen. »Nicht zweimal können wir in[36] denselben Fluß hineinsteigen,« lautet sein Lieblingsgleichnis, »denn neue und immer neue Gewässerströmen ihm zu.« Aus Einem wird Alles, aus Allem Eines. Zu dem verschiedenen Nacheinander tritt dann das entgegengesetzte Nebeneinander: »Das Meerwasser ist das reinste und abscheulichste, für die Fische trinkbar und heilsam, für die Menschen untrinkbar und verderblich.« Und zu dem Nebeneinander das schon bei Anaximander im Keime vorhandene Zugleichsein der Gegensätze, an deren Ausmalung unser Dichter-Denker geradezu seine Freude hat. Leben und Tod, Wachen und Schlafen, Mischung und Trennung, Entstehen und Vergehen, Alt und Jung, Sterblich und Unsterblich, Gerade und Krumm, Männliches und Weibliches, Hohes und Tiefes, ja auch Gutes und Böses: – es ist dasselbe. Sie alle sind nur verschiedene Formen des nämlichen Prozesses. Der Kosmos gleicht einem beständig umgerührten Mischtrank.

Wie entsteht nun trotz dieser ewigen Bewegung der Schein des Beharrens, inmitten des steten Werdens der Schein des Seins? »Durch den Gegenlauf,« antwortet Heraklit. Der »Streit« ist nicht bloß der Herr und »König«, sondern auch der »Vater« aller Dinge; Gegensatz erzeugt Einheit. Entgegengesetztes vereinigt sich zum Heilsamen. Krankheit macht die Gesundheit süß, Hunger die Sättigung, Arbeit die Ruhe. So wird die Welt der Gegensätze zu einer großen Harmonie, »in sich zurückkehrend, gleich der des Bogens und der Leier«, wie das von Heraklit gern gebrauchte, etwas dunkle Bild für das Auseinanderstrebende, das wieder zusammengeht, lautet.

3. Das Urfeuer. Diese eine Ordnung der Dinge nun, die kein Gott und kein Mensch geschaffen hat, wird von ihm öfters bezeichnet als Feuer. Wie haben wir uns das zu denken? Offenbar nicht so bequem wie Aristoteles und andere altgriechische Berichterstatter, denen man früher folgte, die das Feuer einfach als Heraklits archê, in dem Sinne des Urstoffs der milesischen Naturphilosophie (§ 2), erklären. Wir wissen bei dem Mangel an Nachrichten freilich nicht sicher, ob nicht auch schon die Schule von Milet ihren »Urgrund« in geistigerer Weise aufgefaßt hat. Bei Heraklit dem Bilderreichen jedenfalls scheint das »ewig lebendige Feuer«, das der Kosmos »immer war, ist und sein wird, nach Maßen sich entzündend und verlöschend nach Maßen« kaum buchstäblich[37] verstanden werden zu können. Freilich ganz vermag er sich der stofflichen Auffassung noch nicht zu entschlagen. Aus dem Feuer, das übrigens nicht sowohl als Flamme, sondern als feuriger Hauch (psychê)gefaßt wird, läßt seine Weltentstehungslehre als Umwandlungen (tropai) desselben erst Wasser (Flüssiges), dann Erde (Festes) hervorgehen – »der Weg nach unten« –, und umgekehrt wieder aus Erde Wasser, aus Wasser Feuer – »der Weg nach oben«, in stetem Kreislauf. Aus Feuer ist das Weltall einstmals geworden, in Feuer wird es sich dereinst auflösen, um sich alsdann aufs neue zu bilden. (Eine Lehre, die, wenn wir für »Feuer« den Feuerball des Sonnensystems setzen, der modernen Naturwissenschaft nicht allzufern steht, üb rigens von manchen Gelehrten als spätere stoische Umdeutung dargestellt wird.) Daß das Urfeuer von Heraklit gleichwohl nicht rein stofflich gefaßt wurde, zeigt ein Satz wie der: »In Feuer setzt sich alles um und das Feuer in alles, wie Ware in Gold und Gold in Ware,« wo es fast nur als Symbol der Veränderung erscheint. Auch wird es anderseits mit dem Göttlichen identifiziert und mit der allwaltenden Dike oder dem Verhängnis (heimarmenê): eine Auffassung, die an das Fragment des Anaximander erinnert. In diesen Zusammenhang gehört wohl auch der Spruch: »Alles lenkt (eigentlich: steuert) der Blitz.« Ob und inwieweit Heraklit das allen Gemeinsame schon als Vernunft (logos) gedacht hat, ist bei dem Zustand der Fragmente und der gleichnishaften Sprache des »Dunklen« schwer zu entscheiden. Jedenfalls nicht als zweckmäßig handelnde Macht, denn die Ewigkeit heißt einmal ein »brettspielender Knabe«, der die Steine aufbaut und wieder zusammenwirft. Auch erwähnt Sokrates, der Heraklit studiert hat, nichts von einer Weltvernunft bei ihm, und Aristoteles bezeichnet ausdrücklich Anaxagoras als den Erfinder des nous (vergl. § 8). Eher könnte er dabei das strenge, ausnahmslose Walten eines Weltgesetzes im Auge gehabt haben, das, wie bei Anaximander und Pythagoras, so auch bei Heraklit nicht nur die Sonnenbahnen, sondern auch das menschliche Leben nach Maß und Zahl bestimmt.

4. Psychologisches und Ethisches. Auch auf die menschliche Seele wird das Bild des Feuers übertragen. Die »trockene« Seele ist die weiseste und beste, sie ist ein Teil des göttlichen Urfeuers, das sie, wie der Blitz die Wolke, durchzuckt. Aber die meisten Menschen folgen[38] – damit kehren wir zu den bereits anfangs gestreiften erkenntnistheoretischen Spuren in Heraklits Lehre zurück – nicht der Weltvernunft, die sie nicht erkennen, sondern dem eigenen Wähnen (oiêsis). Und doch sind »Augen und Ohren schlechte Zeugen (der Wahrheit), wenn sie ungebildeten Seelen angehören«. Solche »feuchte« Seelen gleichen dem Trunkenen, der von einem bartlosen Knaben geführt wird und strauchelt. Aber »sein Sinn ist des Menschen Dämon«, d.h. des Menschen Charakter ist sein Schicksal. Der anthropologische Zug tritt, nach dem Erhaltenen zu urteilen, neben dem allerdings noch immer vorherrschenden kosmologischen bei Heraklit entschieden stärker hervor als bei seinen Vorgängern. Nach Laertius Diogenes zerfiel denn auch seine Schrift neben dem naturphilosophischen in einen politischen und einen – theologischen Teil. Letzteres ist wohl möglich, da die Philosophie des »dunklen« Weisen unleugbar eine religiös-mystische Färbung trägt, weshalb ihn auch E. Pfleiderer mit dem Mysterienwesen in nähere Beziehung bringen will. Wie sein Gegner Xenophanes, eifert auch er gegen die bildliche Darstellung der Götter und blutige Opfer. – Aus dem politischen Teil werden Sätze stammen wie die: »Für das Gesetz muß das Volk kämpfen wie für eine Mauer«, »Überhebung muß man löschen gleich einer Feuersbrunst«. Deshalb müssen auch Strafen sein, um die Menge im Zaume zu halten. Auch auf diesem Gebiete fordert er dieselbe Unterordnung des Einzelnen unter das Allgemeine, die er auf theoretischem Gebiete verlangt. Freilich beruht das Gesetz oftmals auf dem »Rat eines Einzigen«, dem man dann um seiner überlegenen Einsicht willen Gehorsam schuldet. Erst durch solches Sichfügen unter das Allgemeine (Gesetz, Schicksal) werde dem Menschen die wahre Befriedigung (eigentlich das »Wohlgefallen«, euarestêsis) zu teil.

5. Nachwirkung. Heraklit ist eine Art antiker Faust, der mit den Rätseln des Daseins ringt und bereits manche moderne Elemente in sich trägt. Ein ursprünglicher Denker, dessen starke Seite offenbar in der genialen Intuition, nicht in der wissenschaftlichen Einzelforschung lag, hat er nicht bloß auf seine, sondern auch auf die nachfolgende Zeit bedeutsam eingewirkt. Plato hat in seiner Jugend Heraklits Einfluß erfahren, selbst Aristoteles ist nicht unberührt von ihm geblieben. Am meisten aber hat er auf die Naturphilosophie und Theologie der Stoiker gewirkt, die insbesondere seine Logoslehre[39] weiter ausgebaut haben, und durch sie mittelbar auf die alexandrinische Religionsphilosophie jüdischer (Philo) und christlicher (Clemens) Richtung. Ja, noch bis in die neueste Zeit haben sich so entgegengesetzte Naturen, wie der gemütsinnige Schleiermacher und die verstandesscharfe Kämpfernatur Lassalles, sowie dessen dialektischer Meister Hegel, dem Reize der dunklen Weisheit des Philosophen von Ephesus nicht entziehen können.

Hat auch der einsame und eigenartige Mann keine »Schule« begründet, so hat es doch schon früh »Herakliteer« gegeben. Bekannt von ihnen ist jedoch nur Platos Lehrer Kratylos (nach dem auch ein platonischer Dialog benannt ist), der, den Satz des Meisters überbietend, behauptete: auch nicht einmal könne man in denselben Fluß hineinsteigen; Aristoteles spottet, Kratylos habe schließlich gar nichts mehr behaupten zu dürfen geglaubt, sondern nur noch den Finger bewegt. Auch in einer dem Arzte Hippokrates untergeschobenen Schrift Von der Diät (um 400 v. Chr.) werden heraklitische Sätze verwandt.

Quelle:
Karl Vorländer: Geschichte der Philosophie. Band 1, Leipzig 51919, S. 35-40.
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