[40] Durch Heraklit war das Sein der Dinge in ein ewiges Werden aufgelöst worden. So notwendig und fruchtbar dieser Gedanke auch war, so forderte er doch seine Ergänzung in dem Gedanken eines einheitlichen Seins, dessen Werden festzustellen ist. Dieser letztere Gedanke war bereits in des Xenophanes Geiste aufgetaucht; seine systematische Begründung findet er indes erst durch das eigentliche Haupt der Philosophenschule von Elea: Parmenides.
Leben und Werke. Parmenides' Heimat war eben dies Elea; auch er war ein Sohn angesehener und wohlhabender Eltern. Die Angaben über seine Lebenszeit schwanken bedeutend. Nach Laert. Diog. müßte er um 540, nach der Darstellung in dem platonischen Dialoge, der seinen Namen trägt, etwa 515 geboren sein. Übereinstimmend dagegen war das Altertum in dem Lobe seiner Persönlichkeit. Plato nennt ihn den »Großen«, »ehrwürdig und erhaben«, »von einer edlen Tiefe«. Aristoteles zieht ihn wenigstens den übrigen Eleaten vor.[40]
Von anderer Seite wurde ihm eine »pythagoreische« Lebensführung nachgerühmt. Auch auf Sitten und Gesetzgebung seiner Vaterstadt soll er wohltätig eingewirkt haben. Er war ein Schüler des Xenophanes, ist aber auch mit den Pythagoreern in nähere Berührung gekommen, während ihn die heraklitische Lehre am unmittelbarsten angeregt, d.h. zum Widerspruch aufgefordert hat. – Von seinem Lehrgedicht peri physeôs sind ziemlich ansehnliche Bruchstücke, im ganzen 155 meist zusammenhängende Verse (Hexameter) erhalten. Gleich der Eingang (32 Verszeilen) ist von seltener Schönheit der Sprache und des Gedankens. Der Dichter wird von Rossen, denen die Töchter des Sonnengottes den Weg zeigen, hoch, in den Äther emporgetragen zu dem Heiligtum der Wahrheit. Dort begrüßt ihn die Göttin und verspricht, falls ihn allein die Liebe zur Gerechtigkeit und Wahrheit hierher geführt, ihm alles zu verkünden: sowohl die ewige Wahrheit als auch die trüglichen Meinungen der Menschen. Dementsprechend zerfällt das Gedicht in zwei Teile: 1. die Lehre von der Wahrheit, 2. die Lehre vom Schein.
1. Seinslehre. Zur Wahrheit führen, wie Parmenides übereinstimmend mit seinem Gegner Heraklit, ja noch schärfer als dieser hervorhebt, nicht die Sinne, die uns Vielheit und Veränderung der Dinge vorspiegeln, sondern nur die Vernunft oder das Denken (ho logos, to noein), welches das Sein des Seienden als notwendig, das des Nichtseins als unmöglich erkennt. Denn, so lautet sein Kernsatz, die Wahrheit liegt in der Erkenntnis, daß nur das Seiende ist und das Nichtseiende nicht ist, der Schein in der trüglichen Meinung, daß auch das Nichtsein sei. Nur die rat- und urteilslose »doppelköpfige« Menge, taub und blind zugleich, kann Sein und Nichtsein (d. i. Werden) für ein und dasselbe erklären, wie mit deutlicher Anspielung auf die Herakliteer gesagt wird. Nur ein Seiendes kann gedacht werden, und kein Denken ohne das Seiende, von dem es ausgesagt ist; ja Parmenides erhebt sich zu der kühnen Abstraktion: dasselbe ist Denken und Sein. Doch, wie rein logisch dies auch klingen mag, vom Stofflichen kann auch der Eierte sich nicht gänzlich freimachen. Auf diesen Begriff des reinen Seins werden alsbald die Eigenschaften übertragen, welche schon die früheren Philosophen von ihren Urgründen ausgesagt hatten. Es ist erhaben ob Raum und Zeit, ungeworden, unzerstörbar und unversehrbar, eingeboren, unbeweglich, ewig. Und noch weitere: es war nie und[41] wird nicht sein, sondern ist, als ein zusammenhängendes (xyneches) Ganzes. Es heißt weiter unteilbar und allgegenwärtig, ohne Ende, überall sich selbst gleich und in sich vollendet und abgeschlossen, »der Masse einer wohlgerundeten, von der Mitte nach allen Seiten gleichstarken Kugel vergleichbar.«
2. Physik. Parmenides fühlte nun offenbar den Widerspruch zwischen diesem aus dem rein begrifflichen Denken gewonnenen Grundsatz des unteilbaren Seins und der vielgestalteten Wirklichkeit. Auf die Seinslehre seines ersten Teils folgt daher in dem zweiten ein Eingehen auf die, wenn auch »trügerischen, Meinungen der Sterblichen«, d.h. ihre sinnlichen Wahrnehmungen, eine Art bedingungsweiser Physik, die auf dem Boden der Erscheinungswelt steht, auf die »Worte der Wahrheit« die »Worte der Meinung«. Hier gibt er denn auch, dem Beispiele seiner Vorgänger folgend, eine Weltbildungstheorie. Er geht dabei von zwei Urstoffen aus, die an die erste Ausscheidung des Anaximander, teilweise auch an Heraklit erinnern. Dem ätherischen, lichten, leichten Element des überall sich selbst gleichen Feuers tritt ein zweites gegenüber: die dichte, dunkle, schwere Masse, aus der die Erde entstanden ist. Jenes stellt das wirkende, dieses das leidende Prinzip dar. Die Vermischung beider erfolgt seitens einer alles lenkenden Gottheit durch den ersten Erreger aller Dinge, den Eros (Liebestrieb). Von der dann weiter folgenden Lehre über die Entwicklung der Welt und Entstehung des Menschen sind uns leider nur einzelne Verse erhalten. Von psychologischem Interesse ist die Bemerkung, daß, wie das All, so auch des Menschen Sinnesart aus beiden Elementen gemischt sei, doch so, daß das (übrigens noch ganz naiv materialistisch abgeleitete) Geistige vorwiege. Eine gedankliche Vermittlung zwischen der Lehre vom Sein und der vom Schein ist zwar von einzelnen neueren Forschern angenommen worden, aber aus dem Erhaltenen nicht ersichtlich, ja vielleicht nicht einmal von Parmenides selbst angestrebt worden.
Eher als des Eingängers Heraklit konnte des Parmenides Philosophie eine Schule bilden. Ihr Denken in reinen Begriffen forderte geradezu zur dialektischen[42] Durch- und Fortbildung heraus. Diese leistete der eleatischen Lehre vor allem Parmenides' Lieblingsschüler
25 Jahre jünger als er. Gegenüber den Angriffen und dem Spott, den die wunderbare Einheitslehre seines Meisters vielfach hervorgerufen hatte, verteidigte er dieselbe mit solchem Scharfsinn, daß er noch von Plato der eleatische »Palamedes« (Tausendkünstler) genannt und von Aristoteles als Erfinder der Dialektik bezeichnet wird. Er suchte den Beweis indirekt zu führen, indem er die entgegengesetzte Annahme des Vielen und der Bewegung als widerspruchsvoll nachzuweisen suchte: das in der Geschichte des griechischen Philosophierens so wichtig gewordene hypothetische Verfahren (Hypothesis = Grundannahme) hat hier seinen Ursprung. Seine im ganzen Altertum, ja bis in die. Neuzeit berühmten aporiai (Verlegenheiten) decken in der Tat den Widerspruch auf, in dem unser Denken notwendig mit der sinnlichen Wahrnehmung in bezug auf die Grundbegriffe der reinen Naturwissenschaft: Bewegung, Zeit, Raum und Größe gerät. Wir erwähnen nur das Wichtigste. Zenon geht von der Voraussetzung der unendlichen Teilbarkeit des Raumes aus. Unter dieser Voraussetzung kann 1. die Bewegung nicht anfangen (jeder Raum enthält wieder einen Raum in sich, jeder Ort liegt wieder an einem Ort); sie kann 2. nicht enden, Achilleus die Schildkröte nicht einholen; denn während er an ihren Standort A gelangt ist, ist sie in B angelangt, ist er dort, ist sie in C usw.; 3. der fliegende Pfeil ruht; denn er ist in jedem Augenblicke nur in demselben Räume, ruht also während der ganzen Zeit seiner scheinbaren Bewegung. – Zenons Beweise lösen die Probleme nicht, ja sie wollen sie vielleicht nicht einmal lösen. Sie haben aber das Verdienst, auf die Schwierigkeiten, die in diesen Problemen liegen, hingewiesen und so die Infinitesimalrechnung vorbereitet zu haben. Daher haben sie auch immer wieder, trotz ihres scheinbaren Widersinns, tiefere, namentlich mathematische Denker beschäftigt, von Aristoteles und Plato bis auf Hegel und Herbart, insbesondere auch die Philosophen des mathematischen Zeitalters: Bayle, Spinoza und Leibniz. Sie haben die Begriffe des Unendlich-Großen und des Unendlich-Kleinen, des Zeitmoments, der Ruhe, des Vorsprungs u. a. zur Erörterung gebracht, wenn auch das Ergebnis vorerst nur ein negatives sein konnte.
[43]
Melissos von Samos, der 441 in der Nähe seiner Vaterstadt die Flotte der Athener besiegte, vertrat den Standpunkt der Eleaten mit der Einschränkung bezw. Ergänzung, daß er die zeitliche wie räumliche Unendlichkeit des einen Seienden behauptete, und daß er als Konsequenz derselben die Unmöglichkeit eines leeren Raumes folgert. Ob er zu der Rücksichtnahme auf das letztere Problem durch die später (§ 9) zu behandelnden Atomstiker angeregt war (Zeller) oder sie angeregt hat (Natorp), ist zweifelhaft. Das Eine ist ihm nicht bloß unbewegt, sondern auch völlig gleichartig mit sich selbst, es wird weder größer noch kleiner, es – empfindet weder Lust noch Schmerz, ist überhaupt unkörperlich. Die sinnliche Wahrnehmung ist ebendarum trügerisch, weil sie uns statt des einen und dauerhaften Seins eine Vielheit veränderlicher Dinge vorspiegelt.
Beide, Heraklit und die Eleaten, sind großartig in ihrer Einseitigkeit, und die Einseitigkeit beider ist fruchtbar gewesen, von ihrer Zeit an bis zur Gegenwart. In Heraklits Werden keimt nicht nur der sophistische Zweifel an allem Bestehenden, sondern auch alles entwicklungsgeschichtliche Denken, während die Eleaten in ihrem Sein den ruhenden Pol in der Erscheinungen Flucht gesucht haben und so die Urheber des Gedankens der Gesetzlichkeit geworden sind. Beider Denken haftet freilich noch am Kosmos, der sinnlich wahrnehmbaren Welt der Wirklichkeit.
Der weitere Fortgang des philosophischen Denkens ist nun der, daß die jüngeren Naturphilosophen des 5. Jahrhunderts, insbesondere Anaxagoras und Empedokles, eine Vermittlung zwischen dem eleatischen Sein und dem heraklitischen Werden anstreben, wie sie anderseits eine ebensolche zwischen der älteren Naturphilosophie und den Anfängen des Atomismus darstellen.[44]
Buchempfehlung
Diese Blätter, welche ich unter den geheimen Papieren meiner Frau, Jukunde Haller, gefunden habe, lege ich der Welt vor Augen; nichts davon als die Ueberschriften der Kapitel ist mein Werk, das übrige alles ist aus der Feder meiner Schwiegermutter, der Himmel tröste sie, geflossen. – Wozu doch den Weibern die Kunst zu schreiben nutzen mag? Ihre Thorheiten und die Fehler ihrer Männer zu verewigen? – Ich bedaure meinen seligen Schwiegervater, er mag in guten Händen gewesen seyn! – Mir möchte meine Jukunde mit solchen Dingen kommen. Ein jeder nehme sich das Beste aus diesem Geschreibsel, so wie auch ich gethan habe.
270 Seiten, 13.80 Euro
Buchempfehlung
1799 schreibt Novalis seinen Heinrich von Ofterdingen und schafft mit der blauen Blume, nach der der Jüngling sich sehnt, das Symbol einer der wirkungsmächtigsten Epochen unseres Kulturkreises. Ricarda Huch wird dazu viel später bemerken: »Die blaue Blume ist aber das, was jeder sucht, ohne es selbst zu wissen, nenne man es nun Gott, Ewigkeit oder Liebe.« Diese und fünf weitere große Erzählungen der Frühromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe ausgewählt.
396 Seiten, 19.80 Euro