Ghelen, Johann van

[314] Ghelen, J. van. Die Buchdruckerfamilie van Ghelen entstammte einem altadeligen Geschlechte, welches aus Westfalen nach Antwerpen ausgewandert war und hier seine Wohlhabenheit begründet hatte; unter Maximilian I. und Karl V. zählten die van Ghelen zu den hervorragendsten Bürgergeschlechtern Antwerpens.

Zwischen 1520 und 1528 findet sich unter den Buchdruckern Antwerpens ein Johann oder Hans van Ghelen, dessen Vater bereits die Buchdruckerkunst und das Buchhändlergeschäft betrieben hatte. Des ersteren Sohn, Johann van Ghelen, übernahm die Offizin des Vaters und erscheint auf zwei von ihm gedruckten Büchern mit den Jahreszahlen 1555 und 1560 als Hofbuchdrucker Kaiser Karls V. Ebenso waren seine 3 jüngeren Brüder Josef, Jakob und Jeremias Buchdrucker; sie hatten ihr Geschäft auf der »Lombard-Vest« zu Antwerpen, wo eine Bank vor dem Hause ihr Wappen, das auch ihr Buchdruckerzeichen darstellte, zeigte: »ein Baum mit daran hängendem Schilde, der die Buchstaben L. v. G. und den Wahlspruch: »fide nunquam polluta« enthielt; zu beiden Seiten des[314] Baumes befanden sich aufspringende weiße Windhunde; am Fuße desselben lag ein Buch, auf welchem ein Kaninchen saß.«

Da Johann und Jeremias sich dem Protestantismus zugewendet hatten, so mußten sie, als 1579 die wallonischen Provinzen wieder der spanischen Herrschaft unterworfen wurden, aus Antwerpen auswandern. Ersterer ging nach Mastricht, letzterer nach Rotterdam. Hier erwarb sich Jeremias ein sehr bedeutendes Vermögen, doch war dort seines Bleibens nicht; er wurde wieder katholisch und ging nach Antwerpen zurück, wo er sich nunmehr als Buchdrucker und Buchhändler zu bedeutendem Ansehen emporarbeitete. Sein Sohn Jacob van Ghelen ist der Vater des berühmten Wiener Buchdruckers Johann van Ghelen, der 1645 geboren wurde. Dieser studierte anfangs bei den Jesuiten, dann bei den Augustinern in seiner Vaterstadt und beendete seinen Unterricht in den Schulen zu Breygen unweit Villvorden. Mit einem tüchtigen Schatz von Kenntnissen ausgerüstet, kehrte er nach Antwerpen zurück und widmete sich jetzt der Buchdruckerkunst, die er dann zu Brüssel und Ryssel ausübte. Anfangs 1670 kam er auf seiner Reise durch Deutschland nach Wien, wo er in die Offizin des Johann B. Hacque eintrat, welcher ebenfalls ein Niederländer war und meistens den Druck fremdsprachlicher Zeitungen und Bücher besorgte. Ghelen, welcher der deutschen, lateinischen, niederländischen, französischen, italienischen, spanischen und ungarischen Sprache mächtig war, nützte Hacque viel. Hier lernte er auch Hacques Schwägerin, die Goldschmiedstochter Elisabeth de la Fontaine, kennen und vermählte sich mit ihr 1672. Nach dem 1678 erfolgten Tode Hacques kaufte Johann van Ghelen von seiner Schwägerin die Offizin und wurde am 23. September des genannten Jahres auch als Universitäts-Buchdrucker immatrikuliert.

1678 hatte er ein Privilegium zum »truckh und Verkauffung der Lateinischen vnd wälschen Zeittungen« per decretum erhalten. Auf sein Nachsuchen wurde ihm 1699 diese Freiheit durch ein Diplom des Kaisers Leopold I. wegen seiner Verdienste als Universitäts- und welscher Buchdrucker, sowie für seine Dienste zur Pestzeit (1679), namentlich aber während der Belagerung Wiens durch die Türken (1683) erneuert, bekräftigt und für den Fall seines Todes auch auf seinen Sohn, Johann Peter van Ghelen, übertragen.

1684 gab Ghelen in Venedig eine italienische, dann in Wien in deutscher Sprache eine »kurze, doch wahrhafte und mit denkwürdigen Umständen verfaßte Erzählung der im Jahre 1683 von dem Erbfeinde vorgenommenen Belagerung von Wien« heraus.[315] Ihr Titel lautete wie folgt: »Kurtze, doch wahrhaffte und mit denckwürdigen Umständen verfaßte Erzehlung der im Julio 1683 Heil. Jahrs von dem Erb-Feinde vorgenommenen, Welt-erschollenen Belagerung wie auch... am 12. September desselben Jahrs... ins Werck gesetzten Entsetzung Römisch-Kayserlicher Residentz-Stadt Wien: Anfänglich in italiänischer Sprach beschrieben... anjetzo aber... in unser Mutter-Sprach übersetzt.« (Darunter der kaiserliche Adler.) Gedruckt im Jahr Christi 1684. 3 Bl. 72 S. mit Starhembergs Porträt. (Quart.)

1701 wurde Ghelen »aus Rücksicht seiner Emporbringung und Förderung der Wissenschaften und Litteratur« vom Kaiser mit dem Titel und dem Privilegium eines »italienischen Hofbuchdruckers« ausgezeichnet. Es heißt in demselben: »Weil Unser getreuer Johann van Ghelen... bereits vor 23 Jahren bei seiner Profession einen Ehr- und untadelhaften Wandel geführt, auch während der Contagion (1679) und Belagerung (1683) neben Stellung seiner Leute zu der Universitäts-Compagnie sich verdienet hat... auch das Diarium der Belagerung in italienischer Sprach herausgegeben... die wälsche Zeitung und unserer geliebtesten Frauen Mutter Eleonora das sogenannte Creutz-Ordnungsbuch in deutscher und wälscher Sprache und auf unserer Befehl verschiedene italienische Bücher der österreichischen Historien, Opern und viel andere Werke welsch und in andern Sprachen gedruckt hat, geruhen wir ihn, weilen er, van Ghelen, nicht allein mit einer vollkommenen Truckherei, sondern mit Notturften und Schriften wohl versehen, sondern auch eine ganze Schriftgießerei, wodurch die Truckherei allzeit erneuert und verändert werden könnte, zu unserm italienischen Hofbuchdrucker allergnädigist aufzunemen.«

1699 wurde ihm von Kaiser Karl VI. die nach dem Erlöschen der wirklichen Hofbuchdruckerei bei den Cosmerovischen Erben erledigte Stelle eines wirklichen Hofbuchdruckers verliehen, dieselbe auch am 11. März 1720 infolge seiner Bitte und »wegen seiner langen Experienz in den meisten europäischen Sprachen«, sowie seiner Verdienste um die Wissenschaft wegen auf seinen Sohn Johann Peter für die Zeit von zehn Jahren übertragen.

Als Ghelen die Hacquesche Offizin übernommen hatte, war dieselbe ziemlich bedeutungslos. Der neue Besitzer hauchte ihr auch einen neuen Geist ein und brachte seine Druckerei durch tüchtige fachmännische Leitung auf allen Gebieten schnell zu einem bedeutenden Rufe. Das Recht, die welschen Zeitungen zu drucken, faßte er mehr[316] als sein Vorgänger Hacque in weltmännischem Sinne auf, und das Korrespondenz-Bureau, welches er zu diesem Zwecke eingerichtet hatte, brachte dem Unternehmen reicheren Stoff und besseren Absatz. Der italienische Druck und Verlag – darunter auch verschiedene Relationen – spielten überhaupt in Ghelens Offizin eine Hauptrolle.

Deutsche Schriften gingen in großer Zahl aus seiner Presse hervor. Der betriebsame Mann unternahm auch das Wagnis, eine deutsche Zeitung herauszugeben, die anfangs in zwangloser Folge, »so oft sich etwas politisch Wichtiges ereignete,« erschien. Im Jahre 1703 verwandelte er dieselbe in eine regelmäßig zweimal die Woche (Mittwochs und Sonnabends als den Posttagen) erscheinende Zeitung »Posttäglicher Mercurius«, deren erste einen Quartbogen starke Nummer am 31. Januar ausgegeben wurde. Bemerkenswert ist, daß er sich zu diesem Unternehmen infolge eines »öffentlichen Anschlags« entschloß, in welchem die Regierung zur Herausgabe einer politischen Zeitung aufforderte und dem Unternehmer sehr einladende Vorteile zusicherte. Neben dem »Mercurius« gründete Ghelen noch in demselben Jahr das »Wienerische Diarium«, ebenfalls »posttäglich« erscheinend, welches bald den Mercurius verdrängte, Organ für amtliche Erlasse und Bekanntmachungen wurde, und später den Titel »K. k. privilegierte Wiener Zeitung« annahm. Aber erst seit 1813 erscheint sie täglich und setzte ihrem Titel anstatt des »K. k.« »Oesterreichisch-kaiserliche« vor. Seit 1858 besorgt die Hof- und Staatsdruckerei den Druck der »Wiener Zeitung«, die bis 1832 im Besitze der Familie van Ghelen gewesen war.

Neben den deutschen bildeten lateinische Verlagsartikel ein ziemliches Kontingent; auch druckte Ghelen in ungarischer, hebräischer und anderen Sprachen. Was seinen deutschen Satz betrifft, so ist zu bemerken, daß er für denselben, ganz entgegen dem damaligen Gebrauche, Antiquatypen einzuführen versuchte, jedoch infolge der Teilnahmslosigkeit des Publikums bald wieder zur gewohnten Frakturschrift zurückkehrte.

Ghelens Offizin war nebst der des Cosmerovius die größte in Wien. Sie besaß 5 Pressen und einen bedeutenden Vorrat von Lettern. Die Lettern – Antiqua, Fraktur und Schwabacher in allen Abstufungen – wurden teils von auswärts bezogen, teils auch, wie Initialen, Kopfleisten und Vignetten nach guten französischen Mustern in der eigenen Gießerei, welche Ghelen sich sorgfältig eingerichtet hatte, hergestellt. Da er für seine Drucke meistens auch bestes Papier verwendete, wie es damals nur größere Offizinen mit[317] erheblichen Kosten anzuschaffen vermochten, so machten dieselben gegenüber anderen Erzeugnissen der Wiener Buchdruckerpresse einen vorteilhafteren Eindruck.

Von der Leitung der Buchdruckerei hatte er sich schon in den letzten Jahren seines Lebens (er starb am 13. 5. 1721) mehr und mehr zurückgezogen und sie seinem Sohne Johann Peter van Ghelen, welcher bisher die Redaktion der welschen Zeitungen besorgt hatte, übertragen. Dieser war 1673 geboren, wurde von seinen Eltern wegen der herannahenden Türkengefahr zu den Brüsseler Verwandten geschickt, wo er zwei Jahre verblieb. Nach Wien zurückgekehrt, vollendete er seine Studien und erlernte hierauf in des Vaters Offizin die Kunst Gutenbergs. 1692 begab er sich wieder nach Brüssel, um dort den Buchhandel zu erlernen. Im folgenden Jahre nach der Heimat zurückgekehrt, unternahm er eine größere Reise durch Deutschland, Frankreich und Italien und trat dann in das väterliche Geschäft ein.

Johann Peter van Ghelen besaß zahlreiche Privilegien zum ausschließlichen Druck und Verlag von Evangelien- und Gebetbüchern, Kalendern (Wappen- und Staatskalender) u. v. a. Von größeren, auch wegen ihrer zum Teil kostbaren Ausstattung erwähnenswerten Druck- und Verlagswerken nennen wir: J. J. Fux, Gradus ad Parnassum, 1725; des Matthias Seutter »Atlas novus«, herausgegeben von M. Roth, 1730; M. Bel, Notitia Hungaricae novae historicae geographica devisa, 4 Bände, 1735-42 u.s.w. Als Johann Peter v. G. am 9. September 1754 starb, ging die Offizin an Johann Leopold van Ghelen, damals Stadtrichter der Stadt Wien (geb. 1708, gest. 1760), über. Dieser wurde 1753 von Maria Theresia in den erbländischen Adelsstand mit dem Prädikate »Edler van Ghelen« erhoben. Ihm folgte J. A. van Ghelen der 1787 die Buch- und Kunsthandlung samt allen Privilegien und Gerechtsamen an F. C. Zierch verkaufte.

Die Druckerei, die erst unter dem Namen Edler van Ghelen, später Ghelensche Erben weitergeführt wurde, stellte 1832 die erste Maschinenpresse in Oesterreich auf. Nachdem jedoch die Wiener Zeitung abgetreten war, ging das Geschäft immer mehr zurück und die Erben Ghelens sahen sich genötigt, dasselbe zu veräußern. Zunächst übernahm es als Hauptgläubigerin eine Papierfabrik, von dieser erwarb es der Eigentümer der 1848 gegründeten »Presse« August Zang.

Quellen: A. Mayer, Wiens Buchdruckergeschichte, 1882.

Quelle:
Rudolf Schmidt: Deutsche Buchhändler. Deutsche Buchdrucker. Band 2. Berlin/Eberswalde 1903, S. 314-318.
Lizenz:
Faksimiles:
314 | 315 | 316 | 317 | 318

Buchempfehlung

Raabe, Wilhelm

Der Hungerpastor

Der Hungerpastor

In der Nachfolge Jean Pauls schreibt Wilhelm Raabe 1862 seinen bildungskritisch moralisierenden Roman »Der Hungerpastor«. »Vom Hunger will ich in diesem schönen Buche handeln, von dem, was er bedeutet, was er will und was er vermag.«

340 Seiten, 14.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Spätromantik

Große Erzählungen der Spätromantik

Im nach dem Wiener Kongress neugeordneten Europa entsteht seit 1815 große Literatur der Sehnsucht und der Melancholie. Die Schattenseiten der menschlichen Seele, Leidenschaft und die Hinwendung zum Religiösen sind die Themen der Spätromantik. Michael Holzinger hat elf große Erzählungen dieser Zeit zu diesem Leseband zusammengefasst.

430 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon