Max Weber

Die wirtschaftliche Zugehörigkeit des Saargebiets zu Deutschland1

Auszug

Der Bitte, über die wirtschaftliche Seite des Problems, insbesondere mit Bezug auf das Saarbecken zu reden, kann ich in ziemlicher Kürze genügen, da mein persönlicher Standpunkt der ist: daß in dieser Frage die Ehre der Nation im Spiel ist und daher Wirtschaftsfragen keine entscheidende Rolle spielen dürfen. Richtig ist aber, daß staatliche Grenzen unmöglich nur nach nationalen Gesichtspunkten gezogen werden können, solange es Staaten mit Wirtschaftspolitik überhaupt gibt. Die gemischtsprachigen Gebiete Oberschlesiens z.B. gehören aus zwingenden wirtschaftlichen Gründen zu Deutschland, weil das ganze Gebiet wirtschaftlich dorthin »blickt« und eine Verstümmelung des ganzen ostelbischen Wirtschaftslebens eintreten würde, nicht zuletzt auch des oberschlesischen, wollte man versuchen, es abzutrennen.

Richtig ist ferner für unser spezielles Problem: daß Deutschland und Frankreich als Wirtschaftskörper an Kohlen einerseits, Erzen andererseits ziemlich entgegengesetzt ausgestattet sind. Als Ganzes[565] betrachtet hat Deutschland viel Kohle, Frankreich zu wenig. Deutschland hat für seine Kohle zu wenig Erz, Frankreich ist jetzt eines der erzreichsten Länder der Erde geworden. Unter Bezugnahme auf diesen Tatbestand argumentieren die Franzosen nun so:

1. Wir haben Kriegsschäden an Kohlenbergwerken in (angeblicher) Höhe einer Jahresförderung von 10 Millionen Tonnen. 2. Wir haben an sich einen Bedarf von 55 Millionen und eine Eigenförderung von 40 Millionen Tonnen. 3. Das Saarbecken – welches nach den mir vorliegenden Zahlen 1913 122/3 Millionen Tonnen förderte – muß da in die Lücke springen.

Dazu ist zu sagen: 1. braucht Frankreich andere Kohlen als das Saargebiet hervorbringt. Für die entscheidende Qualität: Fettkohlen, ist dessen Förderung für seinen eigenen Bedarf ungenügend und wird durch Zuschuß von außen ergänzt. 2. bezog Frankreich bisher die Kohlen zur Deckung seines Fehlbedarfs von anderswoher und auf anderem Wege. England, Belgien, Deutschland deckten den Bedarf, und die Franzosen fühlten sich so wohl dabei, daß sie sich noch einen, je nach den Kohlenpreisen auf 15 bis 20% vom Wert zu bemessenden, Kohleneinfuhrzoll erlaubten und trotzdem gut versorgt waren. Diese Versorgung stammte zu einem ganz geringen Bruchteil aus dem Saargebiet. Dagegen kann 3. das Saargebiet überhaupt nicht mehr abgeben als bisher auch. Nach den mir vorliegenden Zahlen wurden von der Saarkohle rund 30% verhüttet, 11% für Gasanstalten, 10% für Bahnbetriebe der verschiedenen Arten verwendet und 25% dem Hausbrand und Handel zugeführt. Von der Förderung wurden über 1/3 innerhalb des Saarbeckens selbst, etwa 1/3 in Süddeutschland verbraucht, welches in starkem Maße davon abhängig ist: Sie erinnern sich, daß die Heidelberger Gasbeleuchtung und Gasheizung während des Krieges gelegentlich nur durch sehr energisches Eingreifen des Direktors bei den Saarbergwerken Versorgung finden konnte. Nur ein Siebentel der Saarförderung geht nach Lothringen und ein ferneres Siebentel nach Frankreich. Das wird auch künftig so sein. Jede weitergehende zwangsweise Reservierung der Saarkohle aber, vor allem der an Ort und Stelle verbrauchten Fettkohlen, für französische Zwecke, einerlei in welcher Form, wäre der Tod der Saarindustrie.

Französischerseits wird nun weiter darauf hingewiesen: daß das jetzt an Frankreich fallende lothringische Gebiet zur Verhüttung seiner vielbesprochenen Minetteerze ganz auf die Saarkohlen angewiesen[566] sei. Da wir die genau gleichartige entsprechend umgekehrte Argumentation deutscher Annexionisten bezüglich des Minettegebietes (Briey) stets, auch auf dem Gipfel der deutschen Erfolge, bekämpft haben, haben wir das Recht, uns ein- für allemal derartige Argumentationen auch von seiten der Gegner zu verbitten. Natürlich braucht die Minette die Kohle. Aber Lothringen hat Kohle. Rund 3,8 Millionen Tonnen, mehr als doppelt soviel als aus dem Saargebiet nach Lothringen abgesetzt wurde, fördert Lothringen schon jetzt, wovon nur 1,5 Millionen nach dem Elsaß und Lothringen (im ganzen) gingen, rund 500000t aber nach Frankreich abgegeben wurden. Dagegen bedarf das Saargebiet der Minette unbedingt. Fast 6/7 der lothringischen Produktion ging nach Deutschland. Das Saargebiet ist daher ungleich mehr abhängig von Lothringen als umgekehrt. Allerdings ist auch die Minette ihrerseits stark darauf hingewiesen, mindestens teilweise das Saargebiet zur Verhüttung aufzusuchen, da sie in die Ferne nicht so zweckmäßig absetzbar ist. Saarkohle und französisch-lothringische Minette sind in der Tat aufeinander angewiesen. Wer aber an Völkerversöhnung und Völkerbund glaubt, wird daraus den willkommenen Schluß ziehen: daß künftig trotz aller jetzigen Gegensätze diese Gebiete sich über die Grenze hinweg wirtschaftlich wieder die Hand reichen werden. Wer aber nach rein materiellen Gesichtspunkten für die Zugehörigkeit eines Gebietes sucht, der muß sich erinnern: daß die Mosel und ihre Nebenflüsse, die natürlichen Wasserstraßen des Gebietes, nach Norden zum Rhein führen und nach Durchführung der von einigen engherzigen Interessenten früher hintertriebenen Kanalisation dies erst recht tun werden. Das Kohlen- und Minettegebiet als Ganzes blickt also hinsichtlich seiner sämtlichen natürlichen Bedingungen nach Deutschland, nicht nach Frankreich, und der Versuch, ihm sozusagen den Kopf umzudrehen, wäre gegen alle Natur der Dinge.

Erst recht so steht es mit den im Saargebiet auf der Grundlage seiner Bodenschätze beruhenden Produktionszweigen. Zunächst mit den Hütten. Ihr Roheisen wird an Ort und Stelle und in der Pfalz zu Stahl verarbeitet. Für diesen Stahl aber ist Frankreich kein Markt, sondern nur Deutschland. Ebenso ein spezifisches Fertigfabrikat: die Röhren. Damit ist Frankreich aus eigener Produktion nach Bedarf versehen, also kein Markt dafür. Nicht anders die wichtige Glasproduktion. Frankreich ist auch darin über Bedarf aus eigenem gedeckt. Die wichtigsten auf die Kohlen des Saargebietes angewiesenen[567] örtlichen Industrien müßten also, selbst wenn man ihnen die Kohlen ließe, verkümmern, wenn sie gewaltsam in den französischen Wirtschaftskörper hineingezwängt werden sollten. Sie wären freilich vollends und ausdrücklich dem Untergang geweiht, wenn man – wie es jetzt in der französischen Presse angedeutet wurde – das Saargebiet zwar bei Deutschland belassen, ihm dabei aber die Lieferung von Kohlen für angebliche französische Wirtschaftsbedürfnisse auferlegen wollte. Für die Schäden im Sommegebiet wäre eine Deckung gerade aus dem Saargebiet wirtschaftsgeographisch nicht zu rechtfertigen, für das Saargebiet aber wäre sie ruinös und bedeutete eine wirtschaftlich unsinnige Zerstörung blühender alter Industrien. Man darf auf diesen Plan: die Saarbevölkerung als arbeitslose Bettler Deutschland zu überlassen, nachdem man ihr die Bodenschätze unter den Füßen wegkonfisziert hätte, wohl den Ausdruck »niederträchtig« anwenden. Vorsichtig veranschlagt, würde es sich um das Schicksal von rund 250000 von der halben Million Menschen handeln, welche das Saargebiet heute umfaßt.

Bedarf nun etwa Frankreich neues Land oder mehr Bodenschätze zur Versorgung seines Menschenüberschusses? Für die Tatkraft seiner Unternehmer? Für die Erwerbsgelegenheit seiner Arbeiter?

Frankreich und Deutschland unterscheiden sich in ihrer inneren Stellungnahme zur Wirtschaft tiefgehend. Frankreich ist das Land des Zweikindersystems, des Sparens und der Rentner. Es hat im Verhältnis zu seinen natürlichen Möglichkeiten zu wenig Menschen. Deutschland war schon bisher das Land der Unternehmer und Arbeiter und wird nach dem Kriege ein Land sein, welches im Verhältnis zu seinen natürlichen Möglichkeiten zuviel Menschen hat. Nicht französische Unternehmer oder Arbeiter, sondern ganz und gar nur: die französische Finanzwelt, die Banken, die dort in ganz anderem Umfange als bei uns die Industriepapiere in der Hand halten, hätten ein Interesse daran, mit einem Objekt wie den Saargruben ihr Spiel treiben zu können. Für Deutschland dagegen ist nach dem Kriege die Frage der Schaffung von Erwerbsgelegenheit für seine Arbeitermassen schlechthin die Frage, hinter der alle anderen zurücktreten. Wenn man von der Notwendigkeit einer Millionenauswanderung aus Deutschland wie von einer Selbstverständlichkeit spricht, so ist das leider richtig. Nur unterläßt man gewöhnlich zu fragen, nicht nur: wohin?, sondern vor allem: was für Dinge müssen bei uns zunächst eintreten, ehe sich die Millionen zur Auswanderung in Bewegung[568] setzen werden? Diese Millionenauswanderung eines Pariavolkes könnte freilich die wirkliche »deutsche Gefahr« für die Erde werden. Ein Frevel sondergleichen ist es, sie zu befördern. Die schmachvolle Ausweisung der in Elsaß-Lothringen beheimateten deutschdenkenden Bevölkerung, der Weltboykott gegen das Deutschtum und die Abschneidung überseeischer Erwerbsmöglichkeiten werden Deutschland noch mit Massen von Erwerbslosen überschwemmen. Alle diese Perspektiven sind derart unerhört furchtbar, daß der Gedanke als ein Zynismus sondergleichen bezeichnet werden muß, von einer Wegnahme von Produktionsmitteln, sei es in Gestalt einer offenen oder verhüllten Annexion, sei es in Gestalt der Beschlagnahme von Kohlenlieferungen zu reden, welche die Stillegung einer Industrie und die Brotlosigkeit von Hunderttausenden zur Folge haben müßten, nur zu dem Zweck, politischen Annexionismus oder reine Bankinteressen zugleich zu befriedigen und zu bemänteln.

Für die Zukunftspolitik, vor allem für die Völkerbundpolitik, wird freilich selbst diese Seite der Sache noch überragt durch die unerhörte Verletzung des Selbstbestimmungsrechts, welche uns hier angesonnen wird. Nach langjährigem Genuß der französischen Verwaltung hat das Saargebiet [1815] nicht nur seinen Wiederanschluß an Deutschland, sondern seinen Neuanschluß an Preußen begehrt2. An einen Staat also, dem sonst in Deutschland zwar mit allseitigem Respekt, aber wenigstens von Leuten, die vorher noch nicht zu ihm gehört hatten, selten mit dem Wunsch begegnet wurde: zu ihm zu kommen.[569] Es ist meines Wissens das einzige Gebiet, das gerade diesen Willen geäußert hat. Diese im eigentlichsten Sinn durch Selbstbestimmung getroffene Entscheidung nicht zugunsten von Pariser Finanzinteressen mit Füßen treten zu lassen, ist eine Sache der Ehre.[570]


Fußnoten

1

Von MAX WEBER selbst für den Wiederabdruck gekürzte Fassung seiner Ansprache bei der »Protestkundgebung von Lehrkörper und Studentenschaft der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg« am 1. März 1919. Die Ansprache selbst war von solchen »Explosionen des Zorns« begleitet, daß der Verf. es angebracht fand, diese Partien für die Einzelveröffentlichung ohne Schaden für die Sachausführungen zu streichen.

Die Protestkundgebung wurde unter dem Titel »Gegen Frankreichs Anspruch auf Pfalz und Saarbecken« im Verlag Carl Winter, Heidelberg 1919, vollständig veröffentlicht. Der Auszug aus den zwei Reden von HERMANN ONCKEN und MAX WEBER erschien unter dem Titel »Gegen Frankreichs Anspruch auf das Saarbecken« als politische Flugschrift bei Hermann Bergmann, Berlin 1919 (Verlagsnummer 217). Darin nehmen die Ausführungen HERMANN ONCKENS die Seiten 3 bis 7, diejenigen MAX WEBERS die Seiten 8-12 ein. In der Originalausgabe der Kundgebung umfaßt die Ansprache HERMANN ONCKENS die Seiten 4-14, diejenige MAX WEBERS die Seiten 30-38. (D.H.)


2

Dies war in seiner Ansprache schon von WOLF GANG WINDELBAND hervorgehoben worden (Kundgebung, Seite 23 f.).

Im zweiten Pariser Frieden vom 20. November 1815 kamen Bouillon an das Großherzogtum Luxemburg, Saarlouis und Saarbrücken an Preußen, Landau an Bayern.

HERMANN ONCKEN hatte dazu in seiner Rede ausgeführt: Im ersten Pariser Frieden »hatten die europäischen Mächte 1814 eingewilligt, außer Landau auch Saarbrücken, also ein Plus gegenüber der französischen Staatsgrenze von 1792, bei Frankreich zu belassen. Erst der erneute Friedensbruch NAPOLEONS im Jahre 1815 bewog die Mächte dazu, diese Konzession wieder zurückzunehmen und Saarbrücken, dem Wunsche seiner deutschen Bewohner entsprechend, an Deutschland zurückzugeben. ... ›Die überwiegende Meinung in England ist‹, so schrieb der englische Ministerpräsident Lord LIVERPOOL an Lord CASTLEREAGH am 15. Juli 1815, ›daß wir vollkommen berechtigt sind, uns den gegenwärtigen Moment zunutze zu machen, um von Frankreich die hauptsächlichsten Eroberungen LUDWIGS XIV. zurückzunehmen (to take back from France the prinzipal conquests of Louis XIV).‹« (Auszug, Seite 6 = Kundgebung, Seite 8/9). (D.H.)


Quelle:
Max Weber: Gesammelte politische Schriften. Hrsg. von Johannes Winckelmann. Tübingen 51988.
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