Max Weber

Stellungnahme zur Flottenumfrage der Allgemeinen Zeitung (München)[30] 1

Für eine Vorlage, welche durch die unerwartete Geringfügigkeit ihrer Anforderungen fast ebenso sehr wie durch die kluge Sachlichkeit ihrer Vertretung die Gegner in offenbare Verlegenheit gesetzt hat, noch besonders einzutreten, scheint mir unnötig. Wird auf formale Momente kein unnötiges Gewicht gelegt, so erscheint sie ja glücklicherweise im wesentlichen gesichert. Nur völlige politische Vezogenheit und naiver Optimismus können verkennen, daß das unumgängliche handelspolitische Ausdehnungsbestreben aller bürgerlich organisierten Kulturvölker, nach einer Zwischenperiode äußerlich friedlichen Konkurrierens, sich jetzt mit völliger Sicherheit dem Zeitpunkt wieder nähert, wo nur die Macht über das Maß des Anteils der Einzelnen an der ökonomischen Beherrschung der Erde und damit über den Erwerbsspielraum ihrer Bevölkerung, speziell auch ihrer Arbeiterschaft, entscheiden wird. Wenn nun angesichts der Selbstverständlichkeit dieser Entwicklung, die uns stets erneute militärische Opfer im Interesse unserer Zukunft, für welche wir, als eine große Nation, unseren Nachfahren vor der Geschichte verantwortlich sind, näherlegen wird, sich trotzdem auch hier im Südwesten ein verhängnisvoller[30] Mangel an Verständnis dafür gerade in breiten bürgerlichen Kreisen zeigt, so darf zur Er klärung dessen verschiedenes nicht vergessen werden. Zunächst, daß die Art des Regimes in Deutschland in den letzten 20 Jahren, halb »cäsaristisch«, halb »patriarchalisch«, neuerdings überdies durch eine spießbürgerliche Furcht vor dem roten Gespenst verzerrt, das Gegenteil politischer Erziehungsarbeit an der Nation gewesen ist. Zumal die Benutzung der Militärfragen als Kampfmittel gegen unbequeme Oppositionsparteien hat sie – sehr zum Schaden der Heeresinteressen –, aus einfach sachlichen Budgetfragen in Angelpunkte des periodisch sich wiederholenden inneren Machtkampfs umzuwandeln, zu ihrem Teil beigetragen. Eine ostentative »gefällige«, die errungenen Lorbeeren schonende, allen überseeischen Expansionsgedanken ersichtlich abholde Politik, wie sie nach 1870 begann, konnte der Erweckung des Interesses an der Flotte gewiß nicht förderlich sein. Noch weniger aber kann dies in der Gegenwart eine Wirtschaftspolitik, welche sich von der allmächtigen agrarischen Phrase beherrschen läßt, der auch die Allgemeine Zeitung nicht selten arglos zum Opfer fällt. Es ist begreiflich, daß zwischen dem Streben nach maritimer Macht und einer Politik, welche Deutschlands kommerzielle Machtstellung teils schon geschädigt hat, teils weiter preiszugeben sich bereit zeigt, ein Widerspruch gefunden wird. Nicht eine mit antikapita listischen Schlagworten operierende Politik selbstgenügsamer sogenannter »Sammlung«, sondern allein eine entschlossene Durchführung der Konsequenzen unserer kraftvollen bürgerlich-gewerblichen Entwicklung – ohnehin die auf die Dauer allein mögliche Wirtschaftspolitik Deutschlands im Zeitalter des Kapitalismus2, man mag ihn nun lieben oder hassen, – kann für die bürgerliche Klasse dem Verlangen nach Macht zur See einen Sinn verleihen. Zum Schutze der Grundrente bedarf es keiner Flotte. Und nur einem Regiment, welches in seiner inneren Politik zeigt, daß es die freien Institutionen des Vaterlandes zu erhalten und freiheitlich weiterzuentwickeln sich nicht fürchtet, wird man das Vertrauen entgegenbringen, daß ihm nicht auf dem Gebiete der äußeren Politik Kraft und Mut im entscheidenden Moment, aller starken Worte ungeachtet,[31] versagen werden, ebenso wie dies auf dem Gebiete der sozialpolitischen Arbeit im Innern der Fall zu sein scheint3.


Heidelberg, Dezember 1897

Prof. MAX WEBER[32]


Fußnoten

1

Die Redaktion der Allgemeinen Zeitung in München hatte im Spätjahr 1897 durch Versand von 1800 Fragebogen eine Umfrage bei ausgewählten Personen des In- und Auslandes veranstaltet über deren Einstellung zur Frage der seitens der Regierung des deutschen Kaiserreichs beabsichtigten Flottenvermehrung (die zweite Flottenvorlage des Jahres 1897 ging dem deutschen Reichstag am 30. November zu). Im 101. Jg. 1898 begann die Redaktion, die ihr zugegangenen Antworten in den Außerordentlichen Beilagen ihres Blattes zu veröffentlichen, zuerst in Nr. 1 am 11. Januar und endend mit Nr. 23 am 6. März.

Der Wortlaut des Fragebogens und die redaktionelle Kommentierung zu ihrer Enquete ist abgedruckt in der Außerordentlichen Beilage Nr. 1 auf den Seiten 1/2.

MAX WEBERS Stellungnahme, die auf die neun detailliert gestellten Fragen nicht einging, erschien in der Außerordentlichen Beilage Nr. 3 vom 13. Januar 1898 auf Seite 4/5 unter der laufenden Nummer 46. (D.H.)


2 Vgl. hierzu MAX WEBERS Diskussionsreden auf dem 8. Evangelisch-sozialen Kongreß 1897 zur Frage: Agrarstaat oder Industriestaat? (Verhandlungs bericht 1897, Seite 105-113,122/23). (D.H.)


3 Diese Abwendung von der aktiven Sozialpolitik seitens des kaiserlichen Regimes in den 1890er Jahren wird von MAX WEBER scharf angegriffen in seiner Vorbemerkung zum 1. Heft der Einzeldarstellungen auf Grund des von ihm für den Evangelisch-sozialen Kongreß erhobenen Materials über die Landarbeiter in den evangelischen Gebieten Norddeutschlands (S. GOLDSCHMIDT, Die Landarbeiter in der Provinz Sachsen, sowie den Herzogtümern Braunschweig und Anhalt [1899], Seite 1-11). (D.H.)


Quelle:
Max Weber: Gesammelte politische Schriften. Hrsg. von Johannes Winckelmann. Tübingen 51988, S. 33.
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