II.

[293] Stammlers Werk2 will, wie wiederholt darin betont ist, die[293] »materialistische Geschichtsauffassung« wissenschaftlich »überwinden«. Folglich fragt man vor allem anderen erstens nach der Art, wie er diese Geschichtsauffassung seinerseits wiedergibt, und alsdann weiter zweitens, an welchem Punkt sein wissenschaftlicher Dissens ihr gegenüber einsetzt. Um beides möglichst anschaulich festzustellen, lohnt es, einen kleinen Umweg einzuschlagen.

Nehmen wir an, es träte demnächst – in unserer Zeit stark zunehmender Beachtung der Tragweite religiöser Momente für die Kulturgeschichte – ein Autor auf und behauptete: »Die Geschichte ist nichts anderes als ein Ablauf religiöser Stellungnahmen und Kämpfe der Menschheit. In letzter Instanz bedingen religiöse Interessen und Stellungnahmen zum Religiösen schlechthin alle Erscheinungen des Kulturlebens, einschließlich insbesondere derjenigen des politischen und des Wirtschaftslebens. Alle Vorgänge auch auf diesen Gebieten sind letztlich Widerspiegelungen bestimmter Stellungnahmen der Menschheit zu religiösen Problemen. Sie sind also in letzter Instanz nur Ausdrucksformen religiöser Kräfte und Ideen und also auch erst dann überhaupt wissenschaftlich erklärt, wenn man sie auf diese Ideen kausal zurückgeführt hat. Eine solche Zurückführung ist zugleich die einzig mögliche Art, das Ganze der ›sozialen‹ Entwicklung nach festen Gesetzen als eine Einheit wissenschaftlich zu begreifen (S. 66 unten, 67 oben), so wie es die Naturwissenschaften mit der ›natürlichen‹ Entwicklung tun.« – Auf den Einwurf eines »Empirikers«, daß doch aber zahlreiche konkrete Erscheinungen des politischen und des Wirtschaftslebens offenbar nicht die geringste Einwirkung religiöser Motive erkennen lassen, würde unser »Spiritualist« – nehmen wir weiter an – antworten: »Zweifellos ist nicht für jedes einzelne Vorkommnis nur eine einzige Ursache gegeben, und es sind daher ganz fraglos in der Kausalkette zahllose einzelne, jeden religiösen Charakters entbehrende Vorgänge und Motivationen als Ursachen eingeschaltet. Allein, man kann den kausalen Regressus bekanntlich ins Unendliche fortsetzen, und dabei wird man (S. 67 Zeile 2) immer schließlich irgendwann auf den ›maßgebenden‹ Einfluß religiöser Motive auf die Art der menschlichen Lebensführung stoßen. Alle anderen Aenderungen von Lebensinhalten gehen also auf Aenderungen der Stellungnahme zum Religiösen in letzter Instanz[294] zurück (S. 31, Zeile 26) und besitzen, da sie nur diese widerspiegeln, gar keine selbständige reale Existenz (S. 30 Zeile 2 von unten). Denn jede Veränderung der religiösen Bedingungen hat eine entsprechende parallele (S. 24 Zeile 5) Aenderung der Lebensführung auf allen Gebieten zur Folge. Jene sind eben die überall in Wahrheit allein treibenden Kräfte des sozialen Lebens wie auch – bewußt oder unbewußt – des einzelnen Menschendaseins, und bei vollständiger Kenntnis der Ursachenkette in ihrem ›einheitlichen Zusammenhang‹ gelangt man daher immer zu ihnen (S. 67, Zeile 20). Wie sollte es denn auch anders sein? Die politischen und wirtschaftlichen äußeren Formen des Lebens bestehen doch nicht als abgeschlossene Welten selbständig in eignen Kausalreihen (S. 26, Zeile 6 von unten) für sich, sie sind doch überhaupt keine eignen Realitäten (S. 29, Zeile 6 von unten), sondern können doch nur als unselbständige, lediglich im Wege der Abstraktion aus dem Ganzen der Einheit des Lebens gewonnene ›Einzelbetrachtungen‹ gelten (S. 68 Zeile 2).«

Der »gesunde Menschenverstand« unseres »Empirikers« würde nun wohl geneigt sein, hiergegen geltend zu machen, daß man über die Art und das Maß der Bedingtheit »sozialer Erscheinungen« verschiedener Gattungen untereinander a priori nichts Generelles aussagen könne. Die Tatsache und weiter die Art und das Maß der gegenseitigen Bedingtheit lasse sich zunächst nur am Einzelfall ausmachen. Es sei alsdann vielleicht möglich, durch Vergleichung wirklich (oder anscheinend) ähnlicher Fälle über die bloße Ermittlung des Maßes religiöser Bedingtheit einer einzelnen sozialen Erscheinung hinaus auch zu generelleren »Regeln« zu gelangen, – aber, wohlgemerkt, sicherlich nicht über die kausale Bedeutung »des Religiösen« überhaupt für »das soziale Leben« überhaupt, – das sei eine ganz verfehlte und vage Fragestellung, – sondern über die kausale Beziehung ganz bestimmt zu bezeichnender Gattungen von religiösen Kulturelementen zu ebenso bestimmt zu bezeichnenden Gattungen anderer Kulturelemente unter ebenfalls bestimmt zu bezeichnenden Konstellationen. – Und er würde etwa noch hinzufügen: Die einzelnen »Gesichtspunkte«, unter die wir die Kulturerscheinungen rubrizieren: »politische«, »religiöse«, »ökonomische« usw., seien bewußt einseitige Betrachtungsweisen, die lediglich zum Zweck der »Oekonomie«[295] der wissenschaftlichen Arbeit überall da vorgenommen werden, wo sie aus diesem Grunde praktisch wünschenswert seien. Die »Totalität« der Kulturentwicklung im wissenschaftlichen Sinn jenes Wortes, d.h. also das »uns Wissenswerte« an ihr, könne mithin doch nur durch eine Integration, durch den Fortschritt von der »Einseitigkeit« zur »Allseitigkeit« der »Auffassung« wissenschaftlich erkannt werden, nicht aber durch den aussichtslosen Versuch, historische Gebilde als durch eine einzelne jener nur künstlich vereinzelten Komponenten allein determiniert und qualifiziert hinzustellen. Der kausale »Regressus« führe in dieser Hinsicht doch offenbar zu nichts: so weit man auch zurückgehe, bis in die früheste »Urzeit«, stets sei die Heraushebung der »religiösen« Komponenten aus der Gesamtheit der Erscheinungen und das Abbrechen des Regressus grade bei ihnen die gleiche »Einseitigkeit«, wie in demjenigen geschichtlichen Stadium, von dem aus der Regressus begonnen worden sei. Die Beschränkung auf die Feststellung der kausalen Bedeutung »religiöser« Momente könne im einzelnen Fall heuristisch vielleicht von größtem Wert sein: darüber entscheide nur der »Erfolg« an neuer kausaler Erkenntnis. Aber die These von der Bedingtheit der Gesamtheit der Kulturerscheinungen »in letzter Instanz« nur durch religiöse Motive sei eine schon in sich haltlose, überdies mit feststehenden »Tatsachen« nicht vereinbare Hypothese.

Mit diesen Argumenten käme aber der »gesunde Menschenverstand« bei unserem »Geschichtsspiritualisten« übel an. Hören wir, was dieser entgegnen würde: »Der Zweifel, ob das kausal entscheidende religiöse Moment auch überall erkennbar sei, müßte, wenn er ins Gewicht fallen sollte, das Ziel einer prinzipiellen Methode gesetzmäßiger Erkenntnis aus einem Gesichtspunkt überhaupt in Frage stellen (S. 66 Zeile 2)«. Alle wissenschaftliche Einzelbetrachtung steht aber unter dem Grundsatz des Kausalitätsgesetzes und muß daher als grundlegende Bedingung die durchgängige Verbindung aller Sondererscheinungen nach einem allgemeinen Gesetz annehmen: sonst hat ja die Behauptung einer gesetzmäßig geschehenen Erkenntnis gar keinen Sinn (S. 67 Zeile 5 von unten, 68 oben). Das Postulat der Zurückführung aller sozialen Erscheinungen auf religiöse Triebfedern denkt gar nicht daran, zu behaupten, daß der Regressus auf diese Triebfedern immer oder überwiegend[296] oder überhaupt jemals wirklich ganz gelinge (S. 69, Zeile 8 von unten). Denn es will ja nicht eine bloße Behauptung von Tatsachen, sondern eine Methode sein (S. 68 Zeile 6 von unten), und der Vorwurf, als bedeute es nur eine zu weit getriebene Generalisation von einzelnen sozialgeschichtlichen Geschehnissen, ist deshalb schon begrifflich ganz verfehlt. Denn nicht durch solche Generalisationen, sondern a priori an der Hand der Frage: »mit welchem Recht wird überhaupt generalisiert?« (S. 69, Zeile 3) ist ja jenes Postulat gewonnen worden. Generalisieren setzt, als Methode zur Gewinnung kausaler Erkenntnis, einen letzten einheitlichen Gesichtspunkt voraus, der die letzte grundsätzliche Einheit des sozialen Lebens darzustellen unternehmen muß, da sonst ja alles kausale Erkennen ins Uferlose auseinanderstieben müßte. Jenes Postulat ist also eine systematische Methode dafür, in welcher allgemeingültigen Art und Weise die konkreten Vorgänge des Gesellschaftslebens überhaupt erst wissenschaftlich begriffen werden können (S. 69, Zeile 12 ff.), also ein grundlegendes Formalprinzip (das. Zeile 24) der sozialen Forschung. Eine Methode aber kann man nicht an der Hand historischer Tatsachen angreifen oder »widerlegen«, denn für die Frage nach der prinzipiell rechten Art solcher Formalprinzipien macht es offenbar nicht das geringste aus, ob ihre Anwendung im besonderen Fall gelingt: oft läßt ja auch die Anwendung der zweifellos allgemeingültigsten Grundsätze der Gewinnung gesetzmäßiger Erkenntnis den Menschen unbefriedigt (S. 69, Zeile 10 von unten). Jenes grundlegende Prinzip ist von allem besondern Inhalt sozialen Geschehens mithin ganz unabhängig, es würde gelten, auch wenn keine einzige Einzeltatsache ihm entsprechend wirklich erklärt wurde: das läge dann eben an der besonderen Schwierigkeit, welche – wie keiner besonderen Ausführung bedarf (S. 70 oben) – die Erforschung des sozialen Lebens der Menschen nach dem Grundsatz der Kausalität, im Gegensatz zur »Natur«, bietet. Aber wenn anders man das Formalprinzip aller kausalen Erkenntnis auch auf das soziale Leben anwenden darf, muß jenem Postulat Genüge geschehen, und das ist nur durch die Reduktion aller sozialen Gesetzmäßigkeit auf eine »grundlegende[297] Gesetzmäßigkeit«: die Abhängigkeit vom Religiösen, möglich. Folglich ist die Behauptung: – daß »in letzter Instanz« religiöse Triebfedern das soziale Leben bedingen und daß nur durch »Zurückführung« aller Erscheinungen auf diese Bedingungen es als eine »nach mechanischen Gesetzen« wissenschaftlich zu begreifende Einheit darzustellen ist, – überhaupt nicht auf dem Boden der »Tatsachen« zu widerlegen; ebensowenig wie sie bloßer Generalisierung von Tatsachen entspringt (S. 68 unten, 69 oben). Der Satz folgt vielmehr aus der Natur unseres Denkens, sofern dieses überhaupt auf die Gewinnung gesetzmäßiger Erkenntnis ausgeht, wie dies doch jede mit dem Gesetz der Kausalität arbeitende Wissenschaft tun muß. Wer also gegen jene Behauptung Widerspruch erheben will, der greift damit eben dies Erkenntnisziel selbst an. Er muß sich folglich auf den Boden der Erkenntnistheorie begeben und fragen: was ist und was heißt »gesetzmäßige« Erkenntnis des sozialen Lebens? (S. 69, Zeile 22). Nur wenn der Begriff der »Gesetzmäßigkeit« selbst zum Problem gemacht wird, kann man die erwähnte Methode der Zurückführung aller sozialen Erscheinungen auf einen einheitlichen Gesichtspunkt angreifen, und nur so könnte die Berechtigung der Behauptung, daß »in letzter Instanz« religiöse Motive maßgebend sind, überhaupt in Frage gestellt werden. »Bisher aber« – unser Geschichtsspiritualist weiß offenbar noch nichts von Stammlers Auftreten – »hat das noch kein Mensch versucht, sondern es ist ein bloßer, über das Prinzip selbst gar nichts besagender Scharmützelkrieg (S. 63, Zeile 2 von unten) über Einzeltatsachen geführt worden«.

Was wird der gesunde Menschenverstand unseres »Empirikers« zu diesen Ausführungen sagen? Ich denke, wenn er jemand ist, der sich nicht verblüffen läßt, so wird er sie als eine, sei es naive, sei es dreiste, scholastische Mystifikation behandeln und der Ansicht sein, daß man mit der gleichen »Logik« auch das »methodische Prinzip« aufstellen könne, »soziales Leben« sei »in letzter Instanz« nur aus Schädel-Indizes (oder aus der Einwirkung von Sonnenflecken oder etwa aus Verdauungsstörungen) abzuleiten, und [daß] dieses Prinzip dann so lange als unanfechtbar anzusehen [sei], als nicht durch erkenntnistheoretische Untersuchungen der »Sinn« der »sozialen Gesetzmäßigkeit«[298] anderweit festgestellt sei. – Ich persönlich würde dem »gesunden Menschenverstand« darin recht geben. –

Anders aber müßte offenbar Stammler denken. In den obigen absichtlich möglichst weitschweifig, ganz in Stammlers Stil, gehaltenen Ausführungen unseres »Geschichtsspiritualisten« braucht man nämlich nur überall statt des Wortes »religiös« das Wort »materiell« (im Sinne von: »ökonomisch«) einzusetzen, – und man hat, wie jeder sich an den in Klammern bei gesetzten Stellen von Stammlers Buch überzeugen kann, größtenteils wörtlich, immer aber sinngetreu, diejenige Darstellung der »materialistischen Geschichtsauffassung«, welche dort gegeben ist und – darauf allein kommt es uns hier an – die Stammler sich als schlechthin stichhaltig aneignet3, mit dem einzigen Vorbehalt, daß nunmehr in ihm, Stammler, der Mann gekommen sei, der, indem er sich auf den Boden der »Erkenntnistheorie« begab, diesen bis dahin von niemand bezwungenen Goliath »überwand«, d.h. aber nicht etwa als sachlich »unrichtig«, sondern als »unfertig« erwies, – als »unfertig« wiederum nicht im Sinn von »einseitig«, sondern im Sinn von »unvollendet«. Diese »Vollendung« und »Ueberwindung« geschieht dann in der Art, daß mittels einer Reihe von gedanklichen Manipulationen demonstriert wird, daß »soziale Gesetzmäßigkeit« im Sinn von »grundlegender Einheit« des sozialen Lebens und seiner Erkenntnis (beides wird, wie wir sehen werden, konfundiert) als »Formalprinzip« lediglich in der »Welt der Zwecke«, als ein die »Form des gesellschaftlichen Daseins der Menschen« bestimmendes Prinzip, als ein »einheitlicher formaler Gedanke, der als Leitstern für alle empirischen sozialen Bestrebungen zu dienen habe«, sinnvoll denkbar sei.

Uns interessiert hier nun vorerst nicht die Frage, ob Stammler die »materialistische Geschichtsauffassung« richtig dargestellt hat. Diese Theorie hat vom »Kommunistischen Manifest« bis zu den modernen Epigonen sehr verschiedenartige Formen durchgemacht; – geben wir also hier a priori getrost als möglich und wahrscheinlich zu, daß sie auch in einer der von Stammler[299] gewählten wenigstens ähnlichen anzutreffen sein mag4. Und wenn etwa nicht, dann könnte der Versuch einer eigenen Konstruktion der Form, die sie konsequenterweise »hätte haben sollen«, seitens ihres Kritikers immer noch seine Berechtigung haben. Hier aber befassen wir uns nicht mit ihr, sondern mit Stammler. Und daher fragen wir hier nur, auf welchem Wege er denn jene »Erkenntnistheorie«, die er, sei es mit Recht oder Unrecht, ihr unterschiebt und die er für unanfechtbar oder doch nur vom Boden seiner eignen Auffassung aus korrigierbar ansieht, entwickelt und begründet. Vielleicht taten wir ihm Unrecht und identifiziert er sich in Wahrheit doch nicht so weit mit ihr, als wir prima facie annahmen? Sehen wir uns daraufhin die einleitenden, »erkenntnistheoretischen« Abschnitte seines Buches an.


Quelle:
Max Weber: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. Hrsg. von Johannes Winckelmann. Tübingen 61985, S. 293-300.
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