IV.

[322] Das entscheidende Merkmal des »sozialen Lebens«, seine »formale« Eigenart, ist, nach Stammler, daß es »geregeltes« Zusammenleben ist, aus Wechselbeziehungen »unter äußeren Regeln« besteht. Machen wir hier sofort Halt und fragen, ehe wir Stammler weiter folgen, was man sich alles unter den Worten: »geregelt« und »Regel« denken kann. Unter »Regeln« können[322] zunächst 1. generelle Aussagen über kausale Verknüpfungen verstanden sein: »Naturgesetze«. Will man dabei unter »Gesetzen« nur generelle Kausalsätze von unbedingter Strenge (im Sinn der Ausnahmslosigkeit) verstehen, dann wird man (a) für alle Erfahrungssätze, die dieser Strenge nicht fähig sind, nur den Ausdruck »Regel« beibehalten können. Nicht minder (b) für alle jene sog. »empirischen Gesetze«, denen umgekehrt zwar empirische Ausnahmslosigkeit, aber ohne oder doch ohne theoretisch genügende Einsicht in die für jene Ausnahmslosigkeit maßgebliche kausale Bedingtheit eignet. Es ist eine »Regel« im Sinn eines »empirischen Gesetzes« (ad b), daß die Menschen »sterben müssen«, es ist eine »Regel« im Sinn eines generellen Erfahrungssatzes (ad a), daß einer Ohrfeige gewisse Reaktionen spezifischer Natur von seiten eines davon betroffenen Couleurstudenten »adäquat« sind. – Unter »Regel« kann ferner 2. eine »Norm« verstanden sein, an welcher gegenwärtige, vergangene oder zukünftige Vorgänge im Sinn eines Werturteils »gemessen« werden, die generelle Aussage also eines (logischen, ethischen, ästhetischen) Sollens, im Gegensatz zum empirischen »Sein«, mit dem es die »Regel« in den Fällen ad 1 allein zu tun hat. Das »Gelten« der Regel bedeutet im zweiten Fall einen generellen9 Imperativ, dessen Inhalt die Norm selbst ist. Im ersten Fall bedeutet das »Gelten« der Regel lediglich den »Gültigkeits«-Anspruch der Behauptung, daß die jener entsprechenden faktischen Regelmäßigkeiten in der empirischen Wirklichkeit »gegeben« oder aus dieser durch Generalisierung erschließbar seien.

Neben diesen dem Sinne nach sehr einfachen beiden Grundbedeutungen des Begriffs: »Regel« und »Geregeltheit« finden sich nun aber andre, die nicht ohne weiteres glatt in einer jener beiden aufzugehen scheinen. Dahin gehört zunächst das, was man »Maximen« des Handelns zu nennen pflegt. Defoes Robinson z.B. – Stammler operiert mit ihm gelegentlich ganz ebenso, wie die theoretische Nationalökonomie es tut, wir müssen es daher auch tun – führt in seiner Isoliertheit eine, den Umständen seiner Existenz gemäß, »rationale« Wirtschaft, und das heißt ohne allen und jeden Zweifel: er unterwirft seinen Güterverbrauch und seine Gütergewinnung bestimmten »Regeln« und zwar spezieller: »ökonomischen« Regeln. Wir ersehen[323] daraus zunächst, daß die Annahme, die ökonomische »Regel« könne begrifflich nur dem »sozialen« Leben eignen: sie setze eine Mehrheit von ihr unterstellten, durch sie verbundenen Subjekten voraus, jedenfalls dann irrig ist10, wenn man überhaupt mit Robinsonaden etwas beweisen kann. Nun ist Robinson gewiß ein sehr irreales Produkt der Dichtung, ein bloßes Begriffswesen, mit dem der »Scholastiker« operiert, – allein einmal ist Stammler selbst ein Scholastiker und muß sich also gefallen lassen, daß seine Leser ihn ebenso bedienen wie er sie, und überdies: wenn denn einmal strikt »begriffliche« Abgrenzungen in Frage stehen und der »Regel«-Begriff als logisch konstitutiv für »soziales« Leben behandelt wird, und wenn ferner »ökonomische Phänomene« als »begrifflich« nur auf dem Boden »sozialer Regelung« denkbar hingestellt werden, wie dies bei Stammler geschieht, dann darf eben auch ein solches, ohne »logischen« Widerspruch und – was nicht dasselbe ist – ohne absoluten Widerspruch gegen das nach Erfahrungsregeln überhaupt »Mögliche«, konstruiertes Wesen wie Robinson keine Bresche in den »Begriff« schlagen können. Und es steht Stammler höchst übel zu Gesicht, wenn er, vorbeugend, hiergegen geltend macht (S. 84), ein Robinson sei eben kausal doch auch nur als Produkt »sozialen Lebens«, aus dem er durch Zufall hinausverschlagen worden, konstruierbar: er selbst hat ja, mit vollem Recht, aber mit einem auch hier wieder grade bei sich selbst sehr mangelhaften Erfolg, gepredigt, daß die kausale Herkunft der »Regel« etwas für ihr begriffliches Wesen durchaus Irrelevantes sei. Wenn Stammler nun ferner (S. 146 und öfter) geltend macht, ein solches isoliert gedachtes Einzelwesen sei mit den Mitteln der »Naturwissenschaft« zu erklären, da lediglich die »Natur und ihre technische (NB.!) Beherrschung« das Objekt der Erörterung bilde, so ist zunächst an die früher erörterte Vieldeutigkeit der Begriffe »Natur« und »Naturwissenschaft« zu erinnern: welche der verschiedenen Bedeutungen ist hier gemeint? Dann aber, und vor allem, daran, daß – wenn es denn einmal auf den Begriff der »Regel« allein ankommen soll – »Technik« doch grade[324] ein Verfahren nach »zweckvoll gesetzten« »Regeln« ist. Das Zusammenwirken von Maschinenteilen z.B. erfolgt ganz in dem gleichen »logischen« Sinne nach »menschlich gesetzten Regeln« wie das Zusammenwirken gewaltsam zusammengekoppelter Zugpferde oder Sklaven oder endlich – dasjenige »freier« menschlicher Arbeiter in einer Fabrik. Denn wenn in dem letzteren Fall richtig kalkulierter »psychischer Zwang«, – bewirkt durch den »Gedanken« an die, im Fall des Abweichens von der »Arbeitsordnung« geschlossene Tür der Fabrik, an den leeren Geldbeutel, die hungernde Familie usw., daneben vielleicht durch allerlei andere Vorstellungen, z.B. solche ethischer Art, endlich durch einfache »Gewohnheit«, – es ist, welcher den Arbeiter im Gesamtmechanismus festhält, bei den sachlichen Maschinenteilen dagegen ihre physikalischen und chemischen Qualitäten, – so macht das für den Sinn des Begriffs »Regel« im einen und im andern Fall natürlich keinerlei Unterschied aus. Die Vorstellungen im Kopf des »Arbeiters«, sein Erfahrungswissen davon, daß seine Sättigung, Bekleidung, Erwärmung »davon abhängen«, daß er auf dem »Kontor« gewisse Formeln ausspricht oder andre Zeichen von sich gibt (welche für einen von »Juristen« sogenannten »Arbeitsvertrag« üblich sind) und daß er sich alsdann jenem Mechanismus auch physisch einfügt, also bestimmte Muskelbewegungen vollzieht, daß er ferner, wenn er dies alles tut, periodisch gewisse spezifisch geformte Metallplatten oder Papierzettel zu erhalten die Chance hat, welche, in die Hände anderer Leute gelegt, bewirken, daß er Brot, Kohlen, Hosen usw. an sich nehmen kann und zwar mit dem Ergebnis, daß, wenn jemand ihm alsdann diese Gegenstände wieder wegnehmen wollte, auf sein Anrufen mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit Leute mit Pickelhauben erscheinen und helfen würden, sie wieder in seine Hände zurückzulegen, – diese ganze hier nur möglichst grobschlächtig angedeutete Serie höchst komplizierter Vorstellungsreihen, auf deren Vorhandensein in den Köpfen der Arbeiter mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit gezählt werden kann, werden vom Fabrikanten durchaus in der gleichen Art als kausale Bestimmungsgründe des Zusammenwirkens der menschlichen Muskelkräfte im technischen Produktionsprozeß in Betracht gezogen, wie die Schwere, Härte, Elastizität und andre physikalische Qualitäten der Stoffe, welche die Maschinen zusammensetzen, und wie die physikalischen[325] Qualitäten derjenigen, durch welche sie in Bewegung gesetzt werden. Die einen lassen sich ganz genau im logisch gleichen Sinn als kausale Bedingungen eines bestimmten »technischen« Ergebnisses – z.B. der Entstehung von x Tonnen Roheisen aus y Tonnen Erzen innerhalb des Zeitraums z – ansehen wie die andren. Und bei den einen ist dabei das »Zusammenwirken nach Regeln« jedenfalls in logisch genau dem gleichen Sinn »Vorbedingung« jenes technischen Erfolges wie bei den andren; daß dabei bei den einen »Bewußtseinsvorgänge« in die Kausalkette eingeschoben sind, bei den andern nicht, macht »logisch« auch nicht den allermindesten Unterschied aus. Wenn also Stammler »technische« und »sozialwissenschaftliche« Betrachtung einander gegenüberstellt, so kann jedenfalls das Moment des Vorhandenseins einer »Regel des Zusammenwirkens« für sich allein noch nicht den ausschlaggebenden Unterschied konstituieren. Der Fabrikant setzt das Faktum, daß Leute vorhanden sind, welche Hunger haben und welche durch jene andern Leute mit den Pickelhauben daran gehindert werden, ihre physische Kraft zu benützen, um die Mittel, die zur Stillung ihres Hungers dienen könnten, einfach da zu nehmen, wo sie sie finden, in denen deshalb jene oben entwickelten Vorstellungsreihen entstehen müssen, ganz ebenso in seine Rechnung ein, wie ein Jäger die Qualitäten seines Hundes. Und ebenso wie der Jäger darauf rechnet, daß der Hund auf seinen Pfiff in bestimmter Art reagiert oder nach einem Schuß bestimmte Leistungen vollzieht, so der Fabrikant darauf, daß der Anschlag eines in bestimmter Art bedruckten Papiers (»Arbeitsordnung«) einen gewissen Erfolg mehr oder minder sicher hervorbringt. Ganz entsprechend dem »ökonomischen« Verhalten Robinsons bezüglich der auf seinem Eiland vorhandenen »Gütervorräte« und Produktionsmittel ist nun ferner auch – um noch ein Beispiel zu nehmen – die Art, wie ein Einzelindividuum der Gegenwart mit den »Geld« genannten Metallplättchen verfährt, die es in seiner Tasche hat oder die es, nach seiner, begründeten oder unbegründeten, Ansicht, die Chance hat, durch bestimmte Manipulationen (z.B. ein bestimmtes Kritzeln auf einem »Check« genannten Papierfetzen oder das Abschneiden eines, »Coupon« genannten, anderen und dessen Vorzeigung an einem bestimmten Schalter) in seine Tasche befördern zu können, und von denen es weiß, daß sie, in bestimmter Art und Weise verwendet,[326] bestimmte Objekte in den Bereich seiner (faktischen) Verfügungsgewalt bringen, welche er hinter Glasfenstern, auf Restaurationsbüfetts usw. bemerkt und von denen er – durch persönliche Erfahrung oder Belehrung durch andre – weiß, daß er sich an ihnen nicht ohne weiteres vergreifen könnte, ohne daß jene Leute mit den Pickelhauben kommen und ihn hinter Schloß und Riegel setzen würden. Wie es eigentlich kommt, daß jene Metallplättchen diese eigentümliche Fähigkeit entwickeln, davon braucht dies moderne Individuum so wenig einen Begriff zu haben, wie davon, wie seine Beine es machen zu gehen: es kann sich begnügen mit der von Kindheit aufgemachten Beobachtung, daß sie dieselbe in jedermanns Hand mit ebensolcher Regelmäßigkeit entfalten, wie, ebenfalls im allgemeinen, jedermanns Beine gehen können und wie ein geheizter Ofen wärmt und der Juli wärmer ist als der April. Diesem seinem Wissen von der »Natur« des Geldes entsprechend richtet es seine Art ihrer Verwendung ein, »regelt« es dieselbe, »wirtschaftet« es damit. Wie diese Regelung de facto von einem konkreten Individuum, wie sie von Tausenden und Millionen seines gleichen infolge der, selbst gemachten oder durch andre übermittelten, »Erfahrungen« über die »Folgen« der verschiedenen möglichen Arten von »Regelung« vorgenommen wird und wie sie je nach der Verteilung der Chancen, derartige Metallplättchen (oder entsprechend »wirkende« Papierfetzen) künftig im Geldschrank zu haben und darüber verfügen zu können, zwischen verschiedenen unterscheidbaren Gruppen in einer gegebenen Menschenvielheit von jeder dieser Gruppen verschieden vorgenommen wird, – dies alles zu beobachten und, soweit nach Lage des Materials möglich, verständlich zu machen, müßte nach Stammler, da es sich jeweils um Erklärung des Verhaltens der Einzelindividuen handelt, ebenfalls Aufgabe »technisch«-naturwissenschaftlicher, nicht »sozialwissenschaftlicher« Betrachtung sein. Denn jene »Regeln«, nach denen die Individuen verfahren, sind hier, durchaus wie bei Robinson, »Maximen«, welche in dem einen Fall ganz ebenso wie in dem andern in ihrer das empirische Verhalten des Individuums kausal beeinflussenden Wirksamkeit gestützt werden durch entweder selbst gefundene oder von andren erlernte Erfahrungsregeln von dem Typus: wenn ich x tue, ist, nach Erfahrungsregeln, y die Folge. Auf der Basis solcher[327] »Erfahrungssätze« vollzieht sich das »geregelte Zweckhandeln« Robinsons, – auf der gleichen dasjenige des »Geldbesitzers«. Die Kompliziertheit der Existenzbedingungen, mit denen dieser zu »rechnen« hat, mag im Verhältnis zu denen Robinsons eine noch so ungeheure sein: logisch ist ein Unterschied nicht vorhanden. Der eine wie der andere hat die erfahrungsmäßige Art des Reagierens seiner »Nichtichs« auf bestimmte Arten seines Verhaltens zu kalkulieren. Daß sich unter diesen im einen Fall Reaktionen von Menschen, im andern nur solche von Tieren, Pflanzen und »toten« Naturobjekten befinden, macht für das »logische« Wesen der »Maxime« nicht das Mindeste aus. Ist Robinsons »ökonomisches« Verhalten, wie Stammler will, »nur« Technik und daher nicht Gegenstand »sozialwissenschaftlicher« Betrachtung, dann auch nicht das Verhalten des Einzelnen zu einer wie immer gearteten Vielheit von Menschen, sofern es auf seine »Regelung« durch »ökonomische« Maximen und auf deren Wirkung hin untersucht wird. Die »Privatwirtschaft« des Einzelnen wird – so können wir uns in der üblichen Sprache jetzt ausdrücken – von »Maximen« beherrscht. Diese Maximen würden nach Stammlers Terminologie, als »technische« Maximen zu bezeichnen sein. Sie »regeln« das Verhalten des Einzelnen empirisch mit wechselnder Stetigkeit, aber sie können nach dem, was Stammler über Robinson gesagt hat, nicht die »Regeln« sein, die er meint. Ehe wir uns diesen letztern zu nähern suchen, fragen wir nun noch: wie verhält sich der Begriff der »Maxime«, mit dem wir so ausführlich operiert haben, zu den beiden einleitend erwähnten »Typen« des »Regel«-Begriffs: »empirische Regelmäßigkeit« einerseits, »Norm« andrerseits? Das erfordert nochmals eine kurze allgemeine Betrachtung über den Sinn, den es hat, wenn ein bestimmtes Sich-Verhalten als »geregelt« bezeichnet wird.

Mit dem Satz: »meine Verdauung ist geregelt« sagt jemand zunächst nur die einfache »Naturtatsache« aus: sie vollzieht sich in bestimmter zeitlicher Abfolge. Die »Regel« ist Abstraktion aus dem Naturverlauf. Aber er kann in die Notwendigkeit versetzt werden, sie seinerseits durch Beseitigung von »Störungen« zu »regeln«, – und wenn er dann den gleichen Satz ausspricht, so ist der äußere Hergang zwar der gleiche wie vorher, aber der Sinn des »Regel«-Begriffes ein anderer: im ersten Fall war die »Regel« das an der »Natur« Beobachtete, im[328] zweiten Fall ist sie das für die »Natur« Erstrebte. Beobachtete und erstrebte »Regelmäßigkeit« können dabei nun de facto koinzidieren, und dies ist dann sehr erfreulich für den Betreffenden, – aber dem Sinn nach bleiben sie »begrifflich« zweierlei: die eine ein empirisches Faktum, die andre ein erstrebtes Ideal, eine »Norm«, an der die Fakta »wertend« gemessen werden. Die »ideale« Regel ihrerseits aber kann in zweierlei Arten der Betrachtung eine Rolle spielen. Einmal 1. kann gefragt werden: welche faktische Regelmäßigkeit ihr entsprechen würde, dann aber auch 2. welches Maß faktischer Regelmäßigkeit durch das Streben nach ihr kausal herbeigeführt ist. Denn das Faktum, daß z.B. Jemand jene »Messung« an der hygienischen Norm vornimmt und sich nach dieser »richtet«, ist ja seinerseits eine der kausalen Komponenten der an seiner Physis zu beobachtenden empirischen Regelmäßigkeit. Diese letztere ist in dem vorausgesetzten Fall kausal beeinflußt durch eine unendliche Vielheit von Bedingungen, unter denen sich auch das Medikament befindet, welches er, um die hygienische »Norm« zu »verwirklichen«, zu sich nimmt. Seine empirische »Maxime« ist – wie man sieht – die Vorstellung von der »Norm«, als reales Agens des Handelns wirkend. Nicht anders steht es mit der »Geregeltheit« des Verhaltens der Menschen zu Sachgütern und andren Menschen, insbesondere ihres »ökonomischen« Verhaltens. Daß Robinson und die Geldbesitzer, von denen wir redeten, sich in bestimmter Art zu ihren Gütern bzw. Geldvorräten verhalten, dergestalt zwar, daß dies Verhalten als ein »geregeltes« erscheint, kann uns veranlassen, die »Regel«, die wir jenes Verhalten, mindestens teilweise, »beherrschen« sehen, theoretisch zu formulieren: als »Grenznutzprinzip« z.B. Diese ideale »Regel« enthält dann einen Lehrsatz dar über, welcher die »Norm« enthält, der entsprechend Robinson verfahren »müßte«, wenn er sich schlechthin an das Ideal »zweckmäßigen« Handelns halten wollte. Sie läßt sich mithin einerseits als Wertungsstandard behandeln – nicht natürlich als »sittlicher«, sondern als »teleologischer«, der »zweckvolles« Handeln als »Ideal« voraussetzt. Andrerseits aber, und namentlich, ist sie ein heuristisches Prinzip, um das empirische Handeln Robinsons – wenn wir ad hoc einmal die reale Existenz eines solchen Individuums annehmen – in seiner faktischen kausalen Bedingtheit erkennen zu lassen: sie dient in letzterem Fall als[329] »idealtypische« Konstruktion, und wir verwenden sie als Hypothese, deren Zutreffen an den »Tatsachen« zu »erproben« wäre und dazu hülfe, die faktische Kausalität seines Handelns und das Maß von Annäherung an den »Idealtypus« zu ermitteln11.

Für die empirische Erkenntnis des Verhaltens Robinsons käme dabei jene »Regel« zweckmäßigen Handelns in zweierlei sehr verschiedenem Sinn in Betracht. Einmal, möglicherweise, als Bestandteil der, das Objekt der Untersuchung bildenden »Maximen« Robinsons, als reales »Agens« seines empirischen Handelns. Zweitens als Bestandteil des Wissens- und Begriffsvorrats, mit dem der Untersuchende an seine Aufgabe geht: sein Wissen von dem ideell möglichen »Sinn« des Handelns ermöglicht ihm dessen empirische Erkenntnis. Beides ist logisch scharf zu scheiden. Auf dem Boden des Empirischen ist die »Norm« eine zweifellose Determinante des Geschehens, aber eben nur eine, logisch betrachtet, ganz im selben Sinn wie bei der »Regelung« der Verdauung der »normgemäße« Konsum des Medikaments und also die »Norm«, welche der Arzt gab, eine, aber eben auch nur eine, der Determinanten des faktischen Erfolges ist. – Und diese Determinante kann in einem sehr verschiedenen Maß von Bewußtheit das Handeln bestimmen. Wie das Kind das Gehen, die Reinlichkeit, die Meidung gesundheitsschädlicher Genüsse »lernt«, so wächst es überhaupt in die »Regeln« hinein, nach denen es das Leben andrer sich vollziehen sieht, lernt sich sprachlich »auszudrücken«, im »Geschäftsverkehr« sich zu bewegen, teils 1. ohne alle subjektive gedankliche Formung der »Regel«, der gemäß es nun selbst – in sehr verschiedener Konstanz – faktisch handelt, teils 2. auf Grund bewußter Verwertung von »Erfahrungssätzen« des Typus: auf x folgt y, teils 3., weil ihm die »Regel« als Vorstellung einer um ihrer selbst willen gesollten »Norm« durch »Erziehung« oder einfache Nachahmung eingeprägt und dann an der Hand seiner »Lebenserfahrung« durch eigenes Nachdenken fortentwickelt wurde und sein Handeln mitbestimmt. Wenn man in den letztgenannten Fällen (ad 2 und 3) sagt, daß die betreffende, sittliche, konventionelle, teleologische, Regel »Ursache« eines bestimmten Handelns sei, so ist dies natürlich höchst ungenau ausgedrückt: nicht das »ideelle Gelten« einer[330] Norm, sondern die empirische Vorstellung des Handelnden, daß die Norm für sein Verhalten »gelten solle«, ist der Grund. Das gilt für die »sittlichen« Normen ebenso wie für Regeln, deren »Geltensollen« reine »Konventionssache« oder »Weltklugheit« ist: die Konventionalregel des Grußes z.B. ist es natürlich nicht, welche in eigner Person meinen Schädel entblößt, wenn ich einen Bekannten treffe, sondern meine Hand tut es, – ihrerseits aber ist diese dazu veranlaßt, entweder durch meine bloße »Gewöhnung« daran, nach einer solchen »Regel« zu handeln, oder daneben durch das Erfahrungswissen darum, daß es von andern für unschicklich angesehen wird, es nicht zu tun und deshalb Unfreundlichkeiten zur Folge hat: durch eine »Unlust« kalkulation also, oder endlich auch noch durch meine Ansicht, daß es sich für mich »nicht gezieme«, eine nun einmal allseitig befolgte und unschädliche »Konventionalregel« ohne zwingende Veranlassung nicht zu beachten: durch eine »Normvorstellung« also12.

Mit den letzten Beispielen waren wir schon bei dem Begriff der »sozialen Regelung« angelangt, d.h. einer »für« das Verhalten der Menschen zueinander »geltenden« Regel, also bei dem Begriff, an dem Stammler das Objekt: »soziales Leben« verankert. Wir erörtern nun hier noch nicht die Berechtigung dieser Begriffsbestimmung Stammlers, sondern führen vorerst unsre Erörterung des »Regel«begriffes unabhängig von der Rücksicht auf Stammler noch eine Strecke weiter.

Nehmen wir gleich das Elementarbeispiel, welches auch Stammler gelegentlich zur Veranschaulichung der Bedeutung der »Regel« für den Begriff des »sozialen Lebens« verwendet. Zwei, im übrigen außer jeder »sozialen Beziehung« stehende Menschen: – also zwei Wilde verschiedener Stämme, oder ein Europäer, der im schwärzesten Afrika einem Wilden begegnet, und dieser letztere, »tauschen« zwei beliebige Objekte gegeneinander aus. Man legt alsdann – und ganz mit Recht – den Nachdruck darauf, daß hier eine bloße Darstellung des äußerlich wahrnehmbaren Hergangs: der Muskelbewegungen also und eventuell, wenn dabei »gesprochen« wurde, der Töne, welche sozusagen die »Physis« des Hergangs ausmachen, dessen »Wesen« in gar keiner Weise erfassen würde. Denn dieses »Wesen« bestehe[331] ja in dem »Sinn«, den beide diesem ihrem äußern Verhalten beilegen, und dieser »Sinn« ihres gegenwärtigen Verhaltens wiederum stelle eine »Regelung« ihres künftigen dar. Ohne diesen »Sinn« sei – so sagt man – ein »Tausch« überhaupt weder real möglich, noch begrifflich konstruier bar. Ganz gewiß! Der Umstand, daß »äußere« Zeichen als »Symbole« dienen, ist eine der konstitutiven Voraussetzungen aller »sozialen« Beziehungen. Aber, fragen wir gleich wieder, nur dieser? Offenbar in gar keiner Weise. Wenn ich mir ein »Lesezeichen« in ein »Buch« lege, so ist das, was nachher von dem Resultat dieser Handlung »äußerlich« wahrnehmbar ist, offenbar lediglich »Symbol«: der Umstand, daß hier ein Streifen Papier oder ein andres Objekt zwischen zwei Blätter eingeklemmt ist, hat eine »Bedeutung«, ohne deren Kenntnis das Lesezeichen für mich nutz- und sinnlos und die Handlung selbst auch kausal »unerklärbar« wäre. Und doch ist hier doch wohl keinerlei »soziale« Beziehung gestiftet. Oder, um lieber wieder ganz auf den Boden der Robinsonade zu treten: Wenn Robinson sich, da der Waldbestand seiner Insel »ökonomisch« der Schonung bedarf, bestimmte Bäume mit der Axt »bezeichnet«, welche er für den kommenden Winter zu schlagen gedenkt, oder wenn er, um mit seinen Getreidevorräten »Haus zu halten«, diese in Rationen teilt, einen Teil als »Saatgut« besonders verstaut, – in allen solchen und zahllosen ähnlichen Fällen, die sich der Leser selbst konstruieren möge, ist der »äußerlich« wahrnehmbare Vorgang auch hier nicht »der ganze Vorgang«: der »Sinn« dieser ganz gewiß kein »soziales Leben« enthaltenden Maßnahmen ist es, der ihnen erst ihren Charakter aufprägt, ihnen »Bedeutung« gibt, im Prinzip ganz genau ebenso, wie die »Lautbedeutung« den schwarzen Fleckchen, die man in ein Faszikel von Papierblättern »gedruckt« hat, oder wie die »Wortbedeutung« den Lauten, die ein anderer »spricht«, oder endlich wie der »Sinn«, den jeder der beiden Tauschenden mit seinem Gebaren verbindet, dem äußerlich wahrnehmbaren Teil desselben. Scheiden wir nun, gedanklich, den »Sinn«, den wir in einem Objekt oder Vorgang »ausgedrückt« finden, von den Bestandteilen desselben, die übrig bleiben, wenn wir von eben jenem »Sinn« abstrahieren, und nennen wir eine Betrachtung, die nur auf diese letzteren Bestandteile reflektiert, eine »naturalistische«, – dann erhalten wir einen weiteren, von den früheren wohl zu unterscheidenden Begriff von »Natur«.

[332] Natur ist dann das »Sinnlose«, richtiger: »Natur« wird ein Vorgang, wenn wir bei ihm nach einem »Sinn« nicht fragen. Aber selbstverständlich ist dann der Gegensatz zur »Natur« als dem »Sinnlosen« nicht »soziales Leben«, sondern eben das »Sinnvolle«, d.h. der »Sinn«, der einem Vorgang oder Objekt zugesprochen, »in ihm gefunden werden« kann, von dem metaphysischen »Sinn« des Weltganzen innerhalb einer religiösen Dogmatik angefangen bis zu dem »Sinn«, den das Bellen eines Hundes Robinsons bei Annäherung eines Wolfes »hat«. – Nachdem wir uns überzeugt haben, daß die Eigenschaft, »sinnvoll« zu sein, etwas zu »bedeuten«, durchaus nichts dem »sozialen« Leben Eigentümliches ist, kehren wir zu dem Vorgang jenes »Tausches« zurück. Der »Sinn« des »äußern« Verhaltens der beiden Tauschenden kann dabei seinerseits in zweierlei logisch sehr verschiedenen Arten betrachtet werden. Einmal als »Idee«: wir können fragen, welche gedanklichen Konsequenzen in dem »Sinn«, den »wir« – die Betrachtenden – einem konkreten Vorgang dieser Art zusprechen, gefunden werden können oder wie sich dieser »Sinn« einem umfassenderen »sinnvollen« Gedankensystem einfügt. Von diesem so zu gewinnenden »Standpunkt« aus können wir alsdann eine »Wertung« des empirischen Ablaufs des Vorgangs vornehmen. Wir könnten z.B. fragen: wie »müßte« das »ökonomische« Verhalten Robinsons sein, wenn es in seine letzten gedanklichen »Konsequenzen« getrieben würde. Das tut die Grenznutzlehre. Und wir könnten dann sein empirisches Verhalten an jenem gedanklich ermittelten Standard »messen«. Und ganz ebenso können wir fragen: wie »müßten« sich die beiden »Tauschenden« nach äußerlichem Vollzug der Hingabe der getauschten Objekte von beiden Seiten nun weiter verhalten, damit ihre Gebarung der »Idee« des Tausches entspreche, d.h. damit wir sie den gedanklichen Konsequenzen des »Sinns«, den wir in ihrem Handeln fanden, konform finden könnten. Wir gehen also dann von der empirischen Tatsache aus, daß Vorgänge bestimmter Art mit einem gewissen, nicht im einzelnen klar durchdachten, sondern unklar vorschwebenden »Sinn« vorstellungsmäßig verbunden faktisch vorkommen, verlassen aber alsdann das Gebiet des Empirischen und fragen: wie läßt sich der »Sinn« des Handelns der Beteiligten derart gedanklich konstruieren, daß ein in sich widerspruchsloses Gedankengebilde entsteht?13[333] Wir treiben dann »Dogmatik« des »Sinns«. Und wir können auf der andern Seite fragen: war der »Sinn«, den »wir« einem derartigen Vorgang dogmatisch zusprechen können, auch derjenige, den jeder der empirischen Akteurs desselben seinerseits bewußt in ihn hineinlegte, oder welchen andern legte jeder von ihnen hinein, oder schließlich: legten sie überhaupt irgend welchen bewußten »Sinn« hinein? Wir haben dann zunächst weiter zweierlei »Sinn« des Begriffes »Sinn« selbst – nunmehr in empirischer Bedeutung, mit der wir jetzt allein zu tun haben, – zu unterscheiden. Es kann, in unserem Beispiel, damit gemeint sein, einmal: daß die Handelnden bewußt eine sie »verpflichtende« Norm auf sich nehmen wollten, daß sie also der (subjektiven) Ansicht waren, daß ihr Handeln als solches einen sie verpflichtenden Charakter trage: es wurde eine »Norm-Maxime« bei ihnen gestiftet14; – oder aber es soll nur gemeint sein: daß jeder von ihnen mit dem Tausch bestimmte »Erfolge« erstrebte, zu denen sein Handeln nach seiner »Erfahrung« im Verhältnis des »Mittels« stand, daß der Tausch einen (subjektiv) bewußten »Zweck« hatte. Von jeder der beiden Arten von Maximen ist es in jedem einzelnen Fall natürlich zweifelhaft, in welchem Grade, von der »Norm-Maxime« überdies auch, ob sie überhaupt empirisch vorhanden war. Fraglich ist: 1. wie weit waren sich die beiden Tauschenden[334] unseres Beispieles der »Zweckmäßigkeit« ihres Handelns wirklich bewußt?; 2. wie weit haben sie andrerseits den Gedanken: daß ihre Beziehungen nun so »geregelt« sein »sollen«, daß das eine Objekt als »Aequivalent« des andern gelten, daß jeder den nunmehr durch den Tausch eingetretenen »Besitz« des anderen an dem früher in seinem eignen Besitz befindlich gewesenen Objekt »achten« solle usw. – zu ihrer bewußten »Maxime«, zur »Norm-Maxime« also, gemacht, wie weit also war die Vorstellung von diesem »Sinn« 1) kausal bestimmend für das Zustandekommen des Entschlusses zu diesem »Tauschakt« selbst und 2) wie weit bildet sie den Bestimmungsgrund ihres weiteren Verhaltens nach dem Tauschakt? Das sind offenbar Fragen, bei denen uns zwar zum Zweck der Hypothesenbildung, als »heuristisches Prinzip«, unser »dogmatisches« Gedankenbild vom »Sinn« des »Tausches« sehr zu statten kommen muß, die aber andererseits natürlich mit dem einfachen Hinweis darauf, daß eben »objektiv« der »Sinn« dessen, was sie getan haben, ein für allemal nur ein spezifischer, nach bestimmten logischen Prinzipien dogmatisch zu erschließender sein »könne«, ganz und gar nicht erledigt würden. Denn es wäre natürlich reine Fiktion und entspräche etwa der Hypostasierung der »regulativen Idee« vom »Staatsvertrag«, wenn man einfach dekretierte: die beiden haben ihre sozialen Beziehungen zueinander in einer, dem idealen »Gedanken« des »Tauschs« entsprechenden, Art »regeln« wollen, weil wir, die Beobachtenden, diesen »Sinn«, vom Standpunkt der dogmatischen Klassifikation aus gesehen, hineinlegen. Man könnte – logisch betrachtet – ebensogut sagen: der Hund, der bellt, habe, wegen des »Sinnes«, den dies Bellen für seinen Besitzer haben kann, die »Idee« des Eigentumsschutzes verwirklichen »wollen«. Der dogmatische »Sinn« des »Tauschs« ist für die empirische Betrachtung ein »Idealtypus«, der, weil in der empirischen Wirklichkeit sich massenhaft Vorgänge finden, welche ihm in einer mehr oder minder großen »Reinheit« entsprechen, »heuristisch« einerseits, »klassifizierend« andrerseits, von uns verwendet wird. »Norm«-Maximen, welche diesen »idealen« Sinn des Tauschs als »verpflichtend« behandeln, sind zweifellos eine der verschiedenen möglichen Determinanten des faktischen Handelns der »Tauschenden«, aber eben nur eine, deren empirisches Vorhandensein im konkreten Akt Hypothese ebenso[335] für den Beobachter wie auch, nicht zu vergessen, für jeden der beiden Akteurs hinsichtlich des anderen ist. Der Fall ist natürlich ganz gewöhnlich, daß einer von beiden oder auch beide Tauschenden den normativen »Sinn« des Tausches, von dem ihnen bekannt ist, daß er als ideell »geltend«, d.h. als geltensollend behandelt zu werden pflegt, seinerseits nicht zu seiner »Norm-Maxime« macht, daß dagegen jener eine oder auch jeder von beiden auf die Wahrscheinlichkeit spekuliert, daß der andere Beteiligte es tun werde: seine eigene Maxime ist dann reine »Zweck«-Maxime. Daß der Vorgang in diesem Fall empirisch im Sinn der ideellen Norm »geregelt« sei, die Akteurs ihre Beziehungen so geregelt haben, diese Behauptung hat natürlich gar keinen empirischen Sinn. Wenn wir uns dennoch gelegentlich so ausdrücken, so ist das die gleiche Doppelsinnigkeit des Wortes »geregelt«, wie wir sie bei dem Mann mit der künstlich »geregelten« Verdauung schon fanden und noch öfter wiederfinden werden. Sie ist unschädlich, wenn man sich stets gegenwärtig hält, was in concreto darunter verstanden ist. Dagegen vollends sinnlos wäre es natürlich, wenn man weiterhin die »Regel«, der sich (dem dogmatischen »Sinn« ihres Verhaltens nach) die beiden Tauschenden unterstellt haben sollen, als die »Form« ihrer »sozialen Beziehung«, also als eine »Form« des Geschehens bezeichnen wollte. Denn jene dogmatisch erschlossene »Regel« selbst »ist« ja in jedem Fall eine »Norm«, welche für das Handeln ideell »gelten« will, nimmermehr aber eine »Form« von etwas empirisch »Seiendem«.

Wer »soziales Leben« als empirisch Seiendes erörtern will, darf natürlich nicht eine Metabase in das Gebiet des dogmatisch Seinsollenden vollziehen. Auf dem Gebiet des »Seins« gibt es jene »Regel« in unserem Beispiel nur im Sinn einer kausal erklärbaren und kausal wirksamen empirischen »Maxime« der beiden Tauschenden. Im Sinne des zuletzt (S. 322) entwickelten »Natur«-Begriffes würde man das so ausdrücken: auch der »Sinn« eines äußeren Vorgangs wird dann im logischen Sinn »Natur«, wenn auf seine empirische Existenz reflektiert wird. Denn dann wird eben nicht nach dem »Sinn« gefragt, den der äußere Vorgang dogmatisch »hat«, sondern nach dem »Sinn«, welchen in concreto die »Akteurs« mit ihm entweder wirklich verbanden oder etwa auch, nach den erkennbaren »Merkmalen«, zu verbinden sich den Anschein gaben. –[336] Ganz ebenso steht es nun natürlich im Speziellen mit der »Rechtsregel«.

Ehe wir aber auf den Boden des »Rechts« im üblichen Sinn des Wortes treten, wollen wir uns einige der bisher noch offen gelassenen Seiten unseres allgemeinen Problems noch an einem weiteren Beispiel verdeutlichen. Stammler selbst erwähnt gelegentlich auch die Analogie von »Spielregeln«, – wir müssen für unsere Zwecke diese Analogie wesentlich eingehender durchführen und wollen dazu den Skat hier einmal gleich einer jener grundlegenden Komponenten der Kultur behandeln, von denen die »Geschichte« kündet und mit denen sich die »Sozialwissenschaft« befaßt. –

Die drei Skatspielenden »unterwerfen sich« der Skatregel, sagt man, und meint damit: sie haben die »Norm«-Maxime, daß nach gewissen Merkmalen bestimmt werden solle, ob 1. jemand »richtig« – im Sinne von »normgemäß« – gespielt habe, 2. wer als »Gewinner« gelten solle. An diese Aussage können sich nun logisch sehr verschiedene Arten von Betrachtungen knüpfen. Zunächst kann die »Norm«: die Spielregel also, als solche zum Gegenstand rein gedanklicher Erörterungen gemacht werden. Dies wiederum entweder praktisch wertend: so wenn z.B. ein »Skat-Kongreß«, wie es seinerzeit geschah, sich damit befaßt, ob es nicht vom Standpunkt jener (»eudämonistischen«) »Werte«, denen der Skat dient, angebracht sei, fortan die Regel aufzustellen: jeder Grand geht über Null Ouvert, – eine skatpolitische Frage. Oder aber dogmatisch: ob z.B. eine bestimmte Art des Reizens »konsequenterweise« eine bestimmte Rangfolge jener Spiele im Gefolge haben »müßte«, – eine Frage der allgemeinen Skatrechtslehre in »naturrechtlicher« Problemstellung. In das Gebiet der eigentlichen Skatjurisprudenz gehört sowohl die Frage, ob ein Spiel als »verloren« zu gelten habe, wenn der Spieler sich »verworfen« hat, wie alle Fragen darnach, ob in concreto ein Spieler »richtig« (= normgemäß) oder »falsch« gespielt habe. Lediglich empirischen, und zwar näher: »historischen« Charakters ist dagegen die Frage, warum ein Spieler in concreto »falsch« gespielt hat (wissentlich? versehentlich? usw.). Eine »Wertfrage«, die aber rein empirisch zu beantworten ist, ist sodann die: ob ein Spieler in concreto »gut«, d.h. zweckmäßig gespielt hat. Sie ist nach »Erfahrungsregeln« zu entscheiden,[337] welche z.B. angeben, ob die Chance, »die Zehn anzuschneiden« durch ein bestimmtes Verhalten generell gesteigert zu werden pflegt oder nicht. Diese generellen Regeln der praktischen Skatweisheit enthalten also Erfahrungs-Sätze, welche an der Hand der »möglichen« Konstellationen und daneben eventuell der Lebenserfahrung über die Art des wahrscheinlichen Reagierens der Mitspieler kalkuliert und zu einem verschieden hohen Grade von Stringenz erhoben werden können: »Kunstregeln«, an denen die Zweckmäßigkeit des Verhaltens des Skatspielers »gewertet« wird. Endlich könnte das Verhalten der Spieler an »skatsittlichen« Normen gemessen werden: unaufmerksames Spiel, welches den gemeinsamen Gegner gewinnen läßt, pflegt der Mitspieler pathetisch zu rügen, – die »menschlich« höchst verwerfliche Maxime, ein sog. »Opferlamm« als dritten Mann behufs gemeinsamer Ausbeutung zu engagieren, pflegt dagegen von der empirischen Skatethik nicht allzu streng beurteilt zu werden. Diesen verschiedenen möglichen Richtungen von Wertungen entsprechend können wir auf dem Gebiet des empirischen Skats »Sittlichkeits«–, »Rechtlichkeits«–, »Zweckmäßigkeits«-Maximen unterscheiden, welche gedanklich auf sehr verschiedenen Wertungsprinzipien ruhen und deren »normative« Dignität daher, vom »Absoluten« bis zur reinen »Faktizität« herabsteigend, entsprechend verschieden ist. Das gleiche fand aber bei unserem Tausch-Beispiel statt, und ebenso wie dort lösen sich hier, sobald wir das Gebiet der rein empirisch-kausalen Betrachtung betreten, die verschiedenen Orientierungspunkte der Maximen, welche die normative (skatpolitische, skatjuristische) Betrachtung als »ideell geltende« behandelt, in faktische Gedankenkomplexe auf, welche das faktische Verhalten des Spielenden determinieren, entweder in Konflikt miteinander (sein Interesse kann z.B. gegen Innehaltung der »Rechtlichkeitsmaxime« sprechen) oder, regelmäßig, in Kombination miteinander. Der Spielende legt sein As auf den Tisch, weil er infolge seiner »Deutung« der »Spielregel«, seiner generellen »Skaterfahrung« und seiner »ontologischen« Abschätzung der Konstellation dies für das adäquate Mittel dafür hält: den Tatbestand herbeizuführen, an den die ihm vorschwebende »Spielregel« die Konsequenz knüpft, daß er als »Gewinner« gelte. Er kalkuliert als Erfolg seines Tuns z.B., daß der andere die Zehn dazu legen werde und daß dies[338] in Verbindung mit einer Serie weiterer, von ihm erwarteter Ereignisse, eben jenen Enderfolg herbeiführen werde. Er zählt dabei einerseits darauf, daß die andern sich durch die auch ihnen gleichförmig vorschwebende »Spielregel« in ihrem Handeln bestimmen lassen werden, da er der bestimmenden Kraft ihrer subjektiven »Rechtlichkeitsmaxime« diese Konstanz zutraut, weil er sie generell als Menschen kennt, die nach »Sittlichkeitsmaximen« zu handeln pflegen. Andrerseits zieht er die Wahrscheinlichkeit in Rechnung, welche nach seiner Kenntnis ihrer Skatqualifikation dafür besteht, daß sie teleologisch mehr oder minder »zweckmäßig«, ihren Interessen gemäß, handeln werden, daß sie also ihre »Zweckmäßigkeitsmaxime« auch in concreto zu verwirklichen imstande sind. Seine, für sein Verhalten maßgebliche Erwägung kleidet sich also dabei in Sätze von der Form: wenn ich x tue, so ist, da die andren die Spielregel a nicht bewußt verletzen und zweckmäßig spielen werden, und da die Konstellation z vorliegt, y die wahrscheinliche Folge.

Man kann nun zweifellos die »Spielregel« als »Voraussetzung« eines konkreten Spieles bezeichnen. Dann muß man aber darüber im klaren sein, was dies für die empirische Betrachtung, bei der wir uns jetzt befinden, bedeutet. Die »Spielregel« ist zunächst ein kausales »Moment«. Natürlich nicht die »Spielregel« als »ideale« Norm des »Skatrechts«, wohl aber die Vorstellung, welche jeweils Spielende von ihrem Inhalt und ihrer Verbindlichkeit haben, gehört zu den Mitbestimmungsgründen für ihr faktisches Handeln. Die Spielenden »setzen« – normalerweise – voneinander »voraus«, daß jeder die Spielregel zur »Maxime« seines Handelns machen werde: diese faktisch normalerweise gemachte Annahme, – welche nachher empirisch mehr oder minder realisiert werden kann, – ist regelmäßige sachliche »Voraussetzung« dafür, daß jeder von ihnen sich dazu entschließt, seinerseits sein Handeln durch die entsprechende Maxime – wirklich oder, wenn er ein Gauner ist, scheinbar – bestimmen zu lassen. Wer den Hergang eines konkreten Skatspiels kausal ergründen wollte, würde also natürlich beim kausalen Regressus die Spekulation jedes Spielers darauf, daß die andern einer faktisch üblichen »Regel« folgen, also auch ihr »erlerntes« Wissen von dieser »Regel«, als eine – normalerweise – eben so konstant wirkende Determinante einzustellen haben, wie alle andern kausalen »Voraussetzungen« des[339] Gebarens des Spielers. Es besteht insoweit keinerlei Unterschied zwischen ihr und den »Bedingungen«, deren der Mensch überhaupt zum Leben und bewußten Handeln bedarf.

Einen wesentlich andern logischen Sinn hat es aber natürlich, wenn wir die Skatregel als die »Voraussetzung« der empirischen Skat-Erkenntnis bezeichnen. Das heißt dann: sie ist – im Gegensatz zu jenen andern »allgemeinen« sachlichen »Voraussetzungen« des Geschehens – für uns charakteristisches Merkmal des »Skats«. Etwas umständlicher formuliert: solche Vorgänge, welche, vom Gesichtspunkt einer üblicherweise als »Skatregel« bezeichneten Spielnorm aus gesehen, als relevant gelten, charakterisieren uns einen Komplex von Hantierungen als »Skatspiel«. Der gedankliche Inhalt der »Norm« ist also maßgebend für die Auslese des »Begriffswesentlichen« aus der Mannigfaltigkeit von Zigarrenrauch, Bierkonsum, Auf-den-Tisch-schlagen, Raisonnements aller Art, in welcher sich ein echter deutscher Skat uns zu präsentieren pflegt, und aus dem zufälligen »Milieu« des konkreten Spieles. Wir »klassifizieren« einen Komplex von Vorgängen dann als »Skat«, wenn solche für die Anwendung der Norm als relevant geltende Vorgänge sich darin finden. Sie sind es ferner, deren kausale Er klärung sich eine »historische« Analyse eines konkreten »Skats« in seinem empirischen Verlauf zur Aufgabe stellen würde, – sie konstituieren das empirische Kollektivum eines »Skatspiels« und den empirischen Gattungsbegriff »Skat«. In summa: Die Relevanz vom Standpunkt der »Norm« grenzt das Untersuchungs-Objekt ab. Es ist klar, zunächst, daß der Sinn, in dem die Skatregel hier »Voraussetzung« unserer empirischen Skat-Erkenntnis, d.h. spezifisches Begriffs-Merkmal, ist, streng von dem Sinn, in welchem sie, d.h. ihre Kenntnis und Inrechnungstellung seitens der Spieler, »Voraussetzung« des empirischen Ablaufs von »Skatspielen« ist, zu sondern ist, – ferner aber, daß dieser Dienst des Normbegriffs bei der Klassifikation und Objekt-Abgrenzung an dem logischen Charakter der empirisch-kausalen Untersuchung des mit ihrer Hilfe abgegrenzten Objekts nichts ändert.

Vom Norminhalt ausersehen wir – darauf beschränkt sich sein wichtiger Dienst – diejenigen Tatsachen und Vorgänge, auf deren kausale Erklärung sich ein eventuelles »historisches Interesse« konzentrieren würde: sie grenzen, heißt das, die[340] Ansatzpunkte des kausalen Regressus und Progressus aus der Mannigfaltigkeit des Gegebenen heraus. Von diesen Ansatzpunkten aus aber ginge nun ein kausaler Regressus, – wenn jemand ihn an einem konkreten Skatspiel vornehmen wollte –, alsbald über den Kreis der vom Standpunkt der Norm aus »relevanten« Vorgänge hinaus. Er müßte, um den Verlauf des Spiels zu »erklären«, z.B. die Veranlagung und Erziehung der Spieler, das Maß der ihre Aufmerksamkeit bedingenden »Frische« im gegebenen Moment, das Maß des Bierkonsums jedes einzelnen in seinem Einfluß auf den Grad der Konstanz seiner »Zweckmäßigkeits«-Maxime usw. usw. feststellen. Nur der Ausgangspunkt des Regressus also wird durch die »Relevanz« vom Standpunkt der »Norm« aus bestimmt. Es handelt sich um einen Fall der sog. »teleologischen« Begriffsbildung, wie er nicht nur auch außerhalb der Betrachtung des »sozialen« Lebens, sondern auch außerhalb der Betrachtung »menschlichen« Lebens sich findet. Die Biologie »liest« aus der Mannigfaltigkeit der Vorgänge diejenigen »aus«, welche in einem bestimmten »Sinn«, nämlich von der »Lebenserhaltung« her gesehen, »wesentlich« sind. Wir »lesen« bei Erörterung eines Kunstwerkes aus der Mannigfaltigkeit der Erscheinung diejenigen Bestandteile »aus«, welche vom Standpunkt der »Aesthetik« aus »wesentlich« – d.h. nicht etwa: ästhetisch »wertvoll«, sondern: »für das ästhetische Urteil relevant« – sind, und zwar auch dann, wenn wir nicht eine ästhetische »Wertung« des Kunstwerks, sondern die historisch-kausale »Erklärung« seiner individuellen Eigenart oder seine Benutzung als Exemplar für die Erläuterung genereller Kausalsätze über die Entwicklungsbedingungen der Kunst – in beiden Fällen also rein empirische Erkenntnis – beabsichtigen. Unsere Auslese des Objekts, welches empirisch erklärt werden soll, wird »instradiert« durch die Beziehung auf ästhetische resp. biologische resp. (in unsrem Beispiel) skatrechtliche »Werte«, – das Objekt selbst »sind« in diesen Fällen nicht künstlerische Normen, vitalistische »Zwecke« eines Gottes oder Weltgeistes, oder Skatrechtssätze, sondern beim Kunstwerk die, durch kausal (aus »Milieu«, »Anlage«, »Lebensschicksalen« und konkreten »Anregungen« usw.) zu erklärende seelische Verfassungen des Künstlers determinierten, Pinselstriche desselben, beim »Organismus« bestimmte physisch wahrnehmbare Vorgänge, beim Skatspiel die durch faktische »Maximen« bedingten Gedanken und äußeren Hantierungen der Spieler.

[341] Wiederum ein anderer Sinn, in welchem die »Skatregel« als »Voraussetzung« des empirischen Erkennens des Skats bezeichnet werden kann, knüpft an die empirische Tatsache an, daß die Kenntnis und Beachtung der »Skatregel« zu den (normalen) empirischen »Maximen« der Skatspielenden gehört, ihr Hantieren also kausal beeinflußt. Die Art dieser Beeinflussung und also die empirische Kausalität des Handelns der Spieler erkennen zu können, dazu hilft uns natürlich nur unsre Kenntnis des »Skatrechts«. Wir verwenden dieses unser Wissen von der ideellen »Norm« als »heuristisches Mittel«, ganz ebenso wie z.B. der Kunsthistoriker seine ästhetische (normative) »Urteilskraft« als ein de facto ganz unentbehrliches heuristisches Mittel benutzt, um die faktischen »Intentionen« des Künstlers im Interesse der kausalen Erklärung der Eigenart des Kunstwerks zu ergründen. Und ganz entsprechendes gilt, wenn wir generelle Sätze über die »Chancen« eines bestimmten Verlaufs des Spiels bei einer gegebenen Karten-Verteilung aufstellen wollen. Wir würden dann die »Voraussetzung«, daß 1. die ideale Spielregel (das »Skatrecht«) faktisch innegehalten und daß 2. streng rational, d.h. teleologisch »zweckmäßig« gespielt werde, – so etwa, wie es in den »Skataufgaben« (oder für das Schachspiel, den Schachaufgaben), welche die Blätter publizieren, unterstellt wird15, – dazu benützen, um, da erfahrungsgemäß generell eine gewisse »Annäherung« an diesen »Idealtypus« erstrebt und erreicht wird, die größere oder geringere »Wahrscheinlichkeit«, daß Spiele mit dieser Kartenverteilung den jenem Typ entsprechenden Verlauf nehmen, behaupten zu können.

Wir haben also gesehen, daß die »Skatregel« als »Voraussetzung« in drei logisch ganz verschiedenen Funktionen bei der empirischen Erörterung eine Rolle spielen kann: klassifikatorisch und begriffskonstitutiv bei der Abgrenzung des Objekts, heuristisch bei seiner kausalen Erkenntnis, und endlich als eine kausale Determinante des zu erkennenden Objekts selbst. Und wir haben ferner schon vorher uns überzeugt, in wie grundverschiedenem Sinne die Skatregel selbst Objekt des Erkennens werden kann: skatpolitisch, skatjuristisch, – in beiden Fällen als »ideelle« Norm, endlich empirisch, als faktisch wirkend und bewirkt. Daraus mag man vorläufig[342] entnehmen, wie unbedingt nötig es ist, jeweils auf das sorgsamste festzustellen, in welchem Sinn man von der »Bedeutung« der »Regel« als »Voraussetzung« irgend welchen Erkennens spricht, wie vor allem die stete Gefahr der hoffnungslosen Konfusion des Empirischen mit dem Normativen auf das Maximum steigen muß, wenn man nicht sorgsam jede Zweideutigkeit des Ausdrucks vermeidet.

Gehen wir nun vom Gebiet der »konventionellen« Normen des Skats und der Quasi-»Jurisprudenz« des »Skatrechts« zum »echten« Recht über (ohne hier vorerst nach dem entscheidenden Unterschiede von Rechtsregel und Konventionsregel zu fragen) und nehmen wir also an, unser obiges »Tausch«-Beispiel bewege sich innerhalb des Geltungsbereichs eines positiven Rechts, welches auch den Tausch »regle«, dann tritt zu den bisher erörterten scheinbar eine weitere Komplikation. Für die Bildung des empirischen Begriffs »Skat« war die Skatnorm begriffsabgrenzende »Voraussetzung« im Sinn der Bestimmung des Umkreises des Objekts: die skatrechtlich relevanten Hantierungen sind es, welche einer empirischhistorischen Skatanalyse – wenn jemand sie unternehmen wollte – die Ansatzpunkte liefern. Das liegt nun hinsichtlich des Verhältnisses der Rechtsregel und des empirischen Ablaufs des menschlichen »Kulturlebens«16 anders, sobald ein vom Recht normiertes Gebilde Gegenstand nicht rechtsdogmatischer und auch nicht rein rechtshistorischer, sondern – wie wir uns vorerst einmal allgemein ausdrücken wollen – »kulturgeschichtlicher« oder »kulturtheoretischer« Betrachtung unterworfen wird, d.h. sobald – wie wir ebenfalls vorerst möglichst unbestimmt sagen wollen – entweder (»historische« Betrachtung) bestimmte, mit Beziehung auf »Kulturwerte« bedeutsame Bestandteile einer ideell auch vom Recht normierten Wirklichkeit in ihrem kausalen Gewordensein erklärt oder (kulturtheoretische Betrachtung) generelle Sätze über die kausalen Bedingungen des Entstehens solcher Bestandteile oder über ihre kausale Wirkung gewonnen werden sollen. Während bei der in den obigen Erörterungen unterstellten Absicht, eine empirisch-historische[343] Ergründung des Verlaufs eines konkreten »Skatspiels« vorzunehmen, die Formung des Objekts (des »historischen Individuums«) schlechthin an der Relevanz der Tatbestände vom Standpunkt der »Skatnorm« aushing, ist dies bei einer nicht rein rechts-, sondern »kultur«historischen Betrachtung bezüglich der Rechtsnorm durchaus nicht so. Wir klassifizieren ökonomische, politische usw. Tatbestände auch nach andern als rechtlichen Merkmalen, auch rechtlich ganz irrelevante Tatsachen des Kulturlebens »interessieren« uns historisch, und folglich ist es dann eine offene Frage, inwieweit im einzelnen Fall die vom Standpunkt eines ideell geltenden Rechts und der demgemäß zu bildenden juristischen Begriffe aus relevanten Merkmale solcher Tatbestände es auch für die zu bildenden historischen oder »kulturtheoretischen« Begriffe sind17. In ihrer Stellung als »Voraussetzung« der Bildung des Kollektivbegriffs scheidet die Rechtsnorm alsdann im Prinzip aus. Aber der Fall ist trotzdem um deswillen nicht einfach dahin zu erledigen, daß beide Arten von Begriffsbildung schlechthin nichts miteinander zu tun hätten, weil, wie wir sehen werden, ganz regelmäßig rechtliche Termini für Begriffsbildungen, z.B. ökonomische, verwendet werden, welche unter wesentlich abweichenden Gesichtspunkten relevant sind. Und dies wieder ist um deswillen nicht einfach als terminologischer Mißbrauch zu verwerfen, weil einmal der betreffende Rechtsbegriff, empirisch gewendet, sehr häufig als »Archetypos« des betreffenden ökonomischen Begriffs gedient hat und dienen konnte, und dann, weil selbstredend die »empirische Rechtsordnung«, – ein Begriff, von dem alsbald zu reden sein wird, – von (wie wir vorerst nur allgemein sagen wollen) sehr erheblicher Bedeutung z.B. auch für die unter ökonomischen Gesichtspunkten relevanten Tatbestände zu sein pflegt. Aber – wie später zu erörtern sein wird – beide koinzidieren schlechterdings nicht. Schon der Begriff des »Tauschs« z.B. dehnt die ökonomische Betrachtung auf Tatbestände des allerheterogensten Rechtscharakters aus, weil die für sie relevanten Merkmale sich bei allen finden. Und umgekehrt erfaßt sie, wie wir sehen werden,[344] sehr oft rechtlich durchaus irrelevante Merkmale und knüpft an sie ihre Distinktionen. Auf die daraus entstehenden Probleme werden wir weiterhin immer wieder zurückkommen. Hier vergegenwärtigen wir uns vorläufig nur noch, einerseits, daß die an unsrem Skatbeispiel demonstrierten Arten von logisch möglichen Betrachtungsweisen auf dem Gebiete der »Rechtsregel« wiederkehren, und stecken, andererseits, zunächst nur rein provisorisch, die Grenzen für diese Analogie ab, ohne jedoch an dieser Stelle schon eine endgültige und korrekte Formulierung des logischen Sachverhalts zu unternehmen18. Eingehender kommen wir erst darauf zurück, nachdem wir weiterhin an Stammlers Argumentationen gelernt haben werden, wie man mit diesen Problemen nicht umspringen darf. –

Ein bestimmter »Paragraph« des Bürgerlichen Gesetzbuchs kann in verschiedenem Sinn Gegenstand des Nachdenkens werden. Zunächst rechtspolitisch: man kann von ethischen Prinzipien aus seine normative »Berechtigung«, ferner von bestimmten »Kulturidealen« oder von politischen, – »machtpolitischen« oder »sozialpolitischen«, – Postulaten aus seinen Wert oder Unwert für die Verwirklichung jener Ideen, oder vom »Klassen«- oder persönlichen Interessenstandpunkt aus seinen »Nutzen« oder »Schaden« für jene Interessen diskutieren. Diese Art von direkt wertender Erörterung der »Regel« als solcher, die uns mutatis mutandis schon beim »Skat« begegnet ist, scheiden wir hier vorerst einmal gänzlich aus, da sie logisch keine prinzipiell neuen Probleme bietet. Dann bleibt zweierlei. Man kann bezüglich des gedachten Paragraphen nun noch fragen, einmal: was »bedeutet« er begrifflich? – und ein[345] andres Mal: was »wirkt« er empirisch? Daß die Beantwortung dieser beiden Fragen Voraussetzung einer fruchtbaren Erörterung der Frage des ethischen, politischen usw. Wertes des Paragraphen ist, ist eine Sache für sich: die Frage nach dem »Wert« ist deshalb natürlich doch eine durchaus selbständige, streng von diesen beiden letztgenannten zu scheidende. Sehen wir uns nun diese beiden Fragen auf ihr logisches Wesen hin an. In beiden Fällen ist grammatisches Subjekt des Fragesatzes: »er«, d.h. der betreffende »Paragraph«, – und doch handelt es sich beide Male um ganz und gar verschiedene Gegenstände, die sich hinter diesem »er« verstecken. In dem ersten Fall ist »er«, der »Paragraph« nämlich, eine in Worte gefaßte Gedankenverbindung, die nun immer weiter als ein rein ideelles, vom juristischen Forscher destilliertes Objekt begrifflicher Analyse behandelt wird. Im zweiten ist »er« – der »Paragraph« – zunächst einmal die empirische Tatsache, daß, wer eines von den »Bürgerliches Gesetzbuch« genannten Papierfaszikeln zur Hand nimmt, an einer bestimmten Stelle regelmäßig einen Aufdruck findet, durch den in seinem Bewußtsein nach den »Deutungs«-Grundsätzen, die ihm empirisch anerzogen sind, – mit mehr oder minder großer Klarheit und Eindeutigkeit – bestimmte Vorstellungen über die faktischen Konsequenzen erweckt werden, welche ein bestimmtes äußeres Verhalten nach sich ziehen könne. Dieser Umstand hat nun weiter zur empirisch regelmäßigen – wenn auch keineswegs faktisch ausnahmslosen – Folge, daß gewisse psychische und physische »Zwangsinstrumente« demjenigen zur Seite stehen, der gewissen, üblicherweise »Richter« genannten, Personen in einer bestimmten Art die Meinung beizubringen weiß, daß jenes »äußere Verhalten« in einem konkreten Fall vorgelegen habe oder vorliege. Er hat zur ferneren Folge, daß jeder, auch ohne diese Bemühung jener, »Richter« genannten Personen, mit einem starken Maß von Wahrscheinlichkeit auf ein bestimmtes Verhalten andrer ihm gegenüber »rechnen« kann, – daß er m. a. W. eine gewisse Chance hat, z.B. auf die faktisch ungestörte Verfügung über ein bestimmtes Objekt zählen zu können, und daß er nun auf Grund dieser Chance sich sein Leben gestalten kann und gestaltet. Das empirische »Gelten« des betreffenden »Paragraphen« bedeutet also im letzteren Fall eine Serie von komplizierten Kausalverknüpfungen in der Realität des[346] empirisch-geschichtlichen Zusammenhangs, ein durch die Tatsache, daß ein bestimmtes Papier mit bestimmten »Schriftzeichen« bedeckt wurde19, hervorgerufenes reales Sich-Verhalten von Menschen zueinander und zur außermenschlichen »Natur«. Das »Gelten« eines Rechtssatzes in dem oben zuerst behandelten »idealen« Sinn bedeutet dagegen ein für das wissenschaftliche Gewissen desjenigen, der »juristische Wahrheit« will, verbindliches gedankliches Verhältnis von Begriffen zueinander: ein »Gelten-Sollen« bestimmter Gedankengänge für den juristischen Intellekt. Der Umstand andererseits, daß ein solches ideales »Gelten-Sollen« eines bestimmten »Rechtssatzes« aus bestimmten Wortverbindungen von solchen empirischen Personen, welche »juristische Wahrheit« wollen, faktisch »erschlossen« zu werden pflegt, ist seinerseits natürlich wieder keineswegs ohne empirische Konsequenzen, vielmehr von der allergrößten empirisch-historischen Bedeutsamkeit. Denn auch die Tatsache, daß es eine »Jurisprudenz« gibt, und die empirisch-historisch gewordene Art der sie jeweils de facto beherrschenden »Denkgewohnheiten« ist von der erheblichsten praktisch-empirischen Tragweite für die faktische Gestaltung des Verhaltens der Menschen schon deshalb, weil in der empirischen Realität die »Richter« und andre »Beamte«, welche dies Verhalten durch bestimmte physische und psychische Zwangsmittel zu beeinflussen in der Lage sind, ja eben dazu erzogen werden, »juristische Wahrheit« zu wollen und dieser »Maxime« – in faktisch sehr verschiedenem Umfang – nachleben. Daß unser »soziales Leben« empirisch »geregelt«, d.h. hier: in »Regelmäßigkeiten«, verläuft, in dem Sinne, daß z.B. alltäglich der Bäcker, der Metzger, der Zeitungsjunge sich einstellt usw. usw. – diese »empirische« Regelmäßigkeit ist von dem Umstand, daß eine »Rechtsordnung« empirisch, d.h. aber: als eine das Handeln von Menschen kausal mitbestimmende Vorstellung von etwas, das sein soll, als »Maxime« also, existent ist, natürlich auf das allerfundamentalste mit determiniert. Aber nicht nur jene empirischen Regelmäßigkeiten, sondern auch diese empirische »Existenz« des »Rechts« sind natürlich etwas absolut anderes als die juristische Idee seines »Gelten-Sollens«. Das »empirische« Gelten kommt ja dem »juristischen Irrtum« eventuell in genau dem gleichen Maße zu wie[347] der »juristischen Wahrheit«, und die Frage nach dem, was in concreto »juristische Wahrheit« ist, d.h. gedanklich nach »wissenschaftlichen« Grundsätzen als solche »gelten« solle oder hätte »gelten« sollen, ist logisch gänzlich verschieden von der: was de facto empirisch in einem konkreten Fall oder in einer Vielheit von Fällen als kausale »Folge« des »Geltens« eines bestimmten »Paragraphen« eingetreten ist. Die »Rechtsregel« ist in dem einen Fall eine ideale gedanklich erschließbare Norm, im andren Fall ist sie eine empirisch, als mehr oder minder konsequent und häufig befolgt, feststellbare Maxime des Verhaltens konkreter Menschen. Eine »Rechtsordnung« gliedert sich in dem einen Fall in ein System von Gedanken und Begriffen, welches der wissenschaftliche Rechtsdogmatiker als Wertmaßstab benützt, um das faktische Verhalten gewisser Menschen: der »Richter«, »Advokaten«, »Delinquenten«, »Staatsbürger« usw. daran, juristisch wertend, zu messen und als der idealen Norm entsprechend oder nicht entsprechend anzuerkennen oder zu verwerfen, – im andern Fall löst sie sich in einen Komplex von Maximen in den Köpfen bestimmter empirischer Menschen auf, welche deren faktisches Handeln und durch sie indirekt das anderer kausal beeinflussen. Soweit ist alles relativ einfach. Komplizierter aber steht es mit dem Verhältnis zwischen dem Rechtsbegriff »Vereinigte Staaten« und dem gleichnamigen empirisch-historischen »Gebilde«. Beide sind, logisch betrachtet, schon deshalb verschiedene Dinge, weil in jedem Fall die Frage entsteht, inwieweit das, was vom Standpunkt der Rechtsregel aus an der empirischen Erscheinung relevant ist, es auch für die empirisch-historische, politische und sozialwissenschaftliche Betrachtung bleibt. Man darf sich darüber nicht durch den Umstand täuschen lassen, daß beide sich mit dem gleichen Namen schmücken. – »Die Vereinigten Staaten sind, den Einzelstaaten gegenüber, zum Abschluß von Handelsverträgen zuständig.« »Die Vereinigten Staaten haben demgemäß einen Handelsvertrag des Inhalts a mit Mexiko abgeschlossen.« »Das handelspolitische Interesse der Vereinigten Staaten hätte jedoch den Inhalt b erfordert.« »Denn die Vereinigten Staaten exportieren von dem Produkt c nach Mexiko die Quantität d.« »Die Zahlungsbilanz der Vereinigten Staaten befindet sich daher im Zustande x.« »Dies muß auf die Valuta der Vereinigten Staaten den Einfluß y haben.«

[348] In den 6 Sätzen hat das Wort »Vereinigte Staaten« einen jedesmal verschiedenen Sinn20. Hier also liegt ein Punkt, an dem die Analogie mit dem »Skat«-Bei spiel abbricht. Der empirische Begriff eines konkreten »Skats« ist identisch mit den vom Standpunkt des Skatrechtes relevanten Vorgängen. Zu einem davon abweichenden Gebrauch von Skatbegriffen haben wir keinen Anlaß21. Anders bei dem Begriff »Vereinigte Staaten«. Dies hängt eben offenbar mit der schon oben erwähnten Gepflogenheit, juristische Terminologien (z.B. den Begriff »Tausch«) auf andere Gebiete zu übertragen, zusammen. Machen wir uns auch hier in den allgemeinsten Zügen noch näher klar, wie dies den logischen Sachverhalt beeinflußt. – Zuerst einige Rekapitulationen. Was sich schon aus dem bisher Gesagten jedenfalls ergibt, ist, daß es sinnlos ist, die Beziehung der Rechtsregel zum »sozialen Leben« derart zu fassen, daß das Recht als die – oder eine – »Form« des »sozialen Lebens« aufgefaßt werden könnte, welcher irgend etwas anderes als »Materie« gegenüberzustellen sei und nun daraus »logische« Konsequenzen ziehen zu wollen. Die Rechtsregel, als »Idee« gefaßt, ist ja keine empirische Regelmäßigkeit oder »Geregeltheit«, sondern eine Norm, die als »gelten sollend« gedacht werden kann, also ganz gewiß keine Form des Seienden, sondern ein Wertstandard, an dem das faktische Sein wertend gemessen wird, wenn wir »juristische Wahrheit« wollen. Die Rechtsregel, empirisch betrachtet, ist aber erst recht keine »Form« des sozialen Seins, wie immer das letztere begrifflich be stimmt werden möge, sondern eine sachliche Komponente der empirischen Wirklichkeit, eine Maxime, die, in mehr oder minder großer »Reinheit«, das empirisch zu beobachtende Verhalten eines, in jedem einzelnen Fall unbestimmt großen, Teils der Menschen kausal bestimmt und im Einzelfall mehr oder minder bewußt und mehr oder minder konsequent befolgt wird. Der Umstand, daß die Richter erfahrungsgemäß die »Maxime« befolgen, gemäß einer bestimmten Rechtsregel »Interessenkonflikte« zu »entscheiden«, daß dann andre Leute: Gerichtsvollzieher, Polizisten usw. die »Maxime« haben, sich nach dieser Entscheidung zu »richten«, daß ferner überhaupt die Mehrzahl der Menschen »rechtlich« denkt, d.h. die Innehaltung[349] der Rechtsregeln normalerweise zu einer der Maximen ihres Handelns macht, – dies alles sind Bestandteile, und zwar ungemein wichtige Bestandteile, der empirischen Wirklichkeit des Lebens, spezieller: des »sozialen Lebens«. Das »empirische Sein« des Rechts als Maxime-bildenden »Wissens« konkreter Menschen nannten wir hier: die empirische »Rechtsordnung«. Dies Wissen, diese »empirische Rechtsordnung« also, ist für den handelnden Menschen einer der Bestimmungsgründe seines Tuns, und zwar, sofern er zweckvoll handelt, teils eines der »Hemmnisse«, dessen er, sei es durch möglichst ungefährdete Verletzung ihrer, sei es durch »Anpassung« an sie, Herr zu werden trachtet, – teils ein »Mittel«, welches er seinen »Zwecken« dienstbar zu machen sucht, genau im gleichen Sinn wie sein Wissen von irgendeinem andren Erfahrungssatz. Diesen ihren empirischen Bestand sucht er seinen »Interessen« gemäß eventuell durch Beeinflussung andrer Menschen zu ändern in – logisch betrachtet – ganz dem gleichen Sinn wie irgendeine Naturkonstellation durch technische Benützung der Naturkräfte. – Will er z.B. – um ein gelegentliches Beispiel Stammlers zu gebrauchen – das Qualmen eines benachbarten Schornsteins nicht dulden, so befragt er sein eignes Erfahrungswissen oder das anderer (z.B. eines »Anwalts«) darüber, ob bei Vorlegung bestimmter Schriftstücke an einer bestimmten Stelle (dem »Gericht«) zu erwarten ist, daß gewisse, »Richter« genannte, Leute nach Vornahme einer Serie von Prozeduren ein Schriftstück (»Urteil« genannt) unterzeichnen, welches zur »adäquaten« Folge hat, daß auf gewisse Personen ein psychischer oder eventuell physischer Zwang ausgeübt wird, den betreffenden Ofen nicht mehr anzuheizen. Für den Kalkül darüber, ob dies mit einiger Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist, prüft er, oder sein »Anwalt«, natürlich vor allem auch die Frage, wie, nach dem »begrifflichen« Sinn der Rechtsregel, die Richter den Fall entscheiden »müßten«. Aber mit dieser »dogmatischen« Prüfung ist ihm nicht geholfen. Denn für seine empirischen Zwecke ist das noch so »unbefangene« Ergebnis dieser Prüfung nur ein Posten in der Wahrscheinlichkeitsrechnung betreffend den zu gewärtigenden empirischen Verlauf: aus den verschiedensten Gründen kann es, wie er sehr wohl weiß, geschehen, daß, trotzdem nach gewissenhafter Prüfung des Anwalts die »Norm«, auf ihren idealen Sinn hin geprüft, zu seinen Gunsten sprechen würde, er dennoch vor[350] Gericht »verspielt«, – wie der Volksmund bezeichnenderweise den Vorgang sehr charakteristisch benennt.

Und in der Tat: der Prozeß weist die vollkommenste Analogie zum »Skatspiel« auf, wie wohl keiner weiteren Erläuterung bedarf. Nicht nur ist die empirische Rechtsordnung hier »Voraussetzung« des empirischen Hergangs, d.h. »Maxime« der entscheidenden Richter, »Mittel« der agierenden Parteien, und nicht nur spielt für die empirisch-kausale »Erklärung« des faktischen Hergangs eines konkreten Prozesses die Kenntnis ihres gedanklichen »Sinns«, also ihrer dogmatisch-juristischen Bedeutung, als unentbehrliches heuristisches Mittel eine ganz ebenso große Rolle, wie bei einer »historischen« Analyse eines Skats die Skatregel, sondern sie ist ferner auch konstitutiv für die Abgrenzung des »historischen Individuums«: die rechtlich relevanten Bestandteile des Vorgangs sind es, an welche das Interesse der »Erklärung« sich knüpft, wenn wir einen konkreten Prozeß eben als Prozeß kausal erklären wollen. – Hier ist also die Analogie mit der Skatregel komplett. Der empirische Begriff des konkreten »Rechtsfalls« erschöpft sich – ganz ebenso wie der konkrete Skatfall – in den vom Standpunkt der »Rechtsregel« – wie dort der »Skatregel« – relevanten Bestandteilen des betreffenden Wirklichkeitsausschnitts. Aber wenn wir nun nicht eine »Geschichte« eines konkreten »Rechtsfalls« im Sinn der Erklärung seines juristischen Ergebnisses als Aufgabe denken, sondern z.B. schon die »Geschichte« eines so durch und durch von der Rechtsordnung beeinflußten Objekts wie etwa des »Arbeitsverhältnisses« in einer bestimmten Industrie, etwa der Textilindustrie Sachsens, so verschiebt sich dieser Sachverhalt. Das, worauf es uns dabei »ankommt«, ist keineswegs notwendig in denjenigen Bestandteilen der Wirklichkeit beschlossen, welche für irgendeine »Rechtsregel« relevant sind. Daß die Rechtsregel die gewaltigste kausale Bedeutung für das »Arbeitsverhältnis«, welches auch immer der »Gesichtspunkt« sein mag, unter dem wir es betrachten, besitzt, ist dabei selbstredend ganz unbestreitbar. Sie ist eine der allgemeinen sachlichen »Bedingungen«, welche bei der Betrachtung in Rechnung gestellt werden. Aber die, von ihr aus gesehen, »relevanten« Tatsachen sind nicht mehr, wie bei der »Skatregel« im Verhältnis zum konkreten Skat und der Rechtsregel zum Prozeß, notwendigerweise die Bestandteile des[351] »historischen Individuums«, d.h. derjenigen »Tatsachen«, auf deren Eigenart und kausale Erklärung es uns »ankommt«, obwohl vielleicht für alle diese Tatsachen die Eigenart der konkreten örtlich-zeitlichen »Rechtsordnung« eine der entscheidendsten kausalen »Bedingungen«, und das Vorhandensein einer »Rechtsordnung« überhaupt ebenso unerläßliche, allgemeine (sachliche) »Voraussetzung« ist wie das Vorhandensein von Wolle oder Baumwolle oder Leinen und deren Verwertbarkeit für bestimmte menschliche Bedürfnisse.

Man könnte – was jedoch an dieser Stelle nicht geschehen soll – eine Serie von Gattungen möglicher Objekte der Untersuchung zu konstruieren suchen, bei der in jedem folgenden Beispiel die generelle kausale Bedeutung der konkreten Eigenart der »empirischen Rechtsordnung« immer weiter zurücktritt, andre Bedingungen in ihrer Eigenart immer mehr an kausaler Bedeutung gewinnen, und so zu generellen Sätzen über das Maß der kausalen Tragweite empirischer Rechtsordnungen für Kulturtatsachen zu gelangen suchen. Hier begnügen wir uns, die prinzipielle Wandelbarkeit dieser Tragweite je nach der Art des Objekts generell festzustellen. Auch die künstlerische Eigenart der Sixtinischen Madonna z.B. hat eine sehr spezifische empirische »Rechtsordnung« zur »Voraussetzung« und der kausale Regressus, denken wir ihn uns erschöpfend durchgeführt, müßte auf sie als »Element« stoßen. Und ohne irgendeine »Rechtsordnung« als allgemeine »Bedingung« wäre ihr Entstehen empirisch bis an die Grenze der Unmöglichkeit unwahrscheinlich. Aber die Tatsachen, welche das »historische Individuum«: »Sixtinische Madonna« konstituieren, sind hier rechtlich gänzlich irrelevant.

Der Fachjurist freilich ist begreiflicherweise geneigt, den Kulturmenschen im allgemeinen als potentiellen Prozeßführer zu betrachten, in demselben Sinn, wie etwa der Schuster ihn als potentiellen Schuhkäufer und der Skatspieler ihn als potentiellen »dritten Mann« ansieht. Aber der eine wie der andere hätten natürlich ganz gleich Unrecht, wenn sie behaupten wollten, daß der Kulturmensch nur insofern Gegenstand kulturwissenschaftlicher Erörterung sein dürfe oder könne, als er das eine oder das andere ist, wenn also der Jurist sozusagen den Menschen nur als potentiellen »Rechtsskat-Spieler« ansehen wollte, indem er den Glauben hegte, ausschließlich die unter[352] dem Gesichtspunkt eines eventuellen Prozesses relevanten Bestandteile der Beziehungen zwischen Menschen seien mögliche Bestandteile eines »historischen Individuums«. Das empirische Erklärungsbedürfnis kann an Bestandteile der Wirklichkeit und insbesondere auch des Sich-Verhaltens der Menschen zueinander und zu der außermenschlichen Natur anknüpfen, welche, vom Standpunkt der »Rechtsregel« aus gesehen, schlechthin irrelevant sind, und dieser Fall tritt in der Praxis der Kulturwissenschaften fortgesetzt ein. Demgegenüber steht nun die Tatsache, daß – wie den früheren Bemerkungen über diesen Punkt ergänzend hinzuzufügen ist – wichtige Zweige der empirischen Disziplinen vom Kulturleben: die politische und ökonomische Betrachtung insbeondere, sich der juristischen Begriffe nicht nur, wie schon hervorgehoben, terminologisch, sondern auch sozusagen als einer Vorformung ihres eigenen Materials bedienen. Zunächst ist es die hohe Entwicklung des juristischen Denkens, welche diese Entlehnung zum Zweck einer provisorischen Ordnung der uns umgebenden Mannigfaltigkeit faktischer Beziehungen bedingt. Aber eben deshalb ist es notwendig, stets darüber im klaren zu bleiben, daß diese juristische Vorformung alsbald verlassen wird, sobald die politische oder die ökonomische Betrachtung nun ihre »Gesichtspunkte« an den Stoff bringt und dadurch die juristischen Begriffe in Faktizitäten mit einem notwendig anderen Sinn umdeutet. Nichts aber steht dieser Erkenntnis mehr im Wege, als wenn man wegen jener wichtigen Dienste der juristischen Begriffsbildung die rechtliche Regelung zu einem »Formalprinzip« der das menschliche Gemeinschaftsleben betreffenden Erkenntnis erheben wollte. Der Irrtum liegt deshalb so nahe, weil die faktische Tragweite der empirischen »Rechtsordnung« eine so bedeutende ist. Denn wenn, nach dem Gesagten, sobald die Sphäre der Betrachtung von Vorgängen, die nur ihrer rechtlichen Relevanz wegen als »interessant« gelten, verlassen ist, damit zugleich auch die Bedeutung der »Rechtsregel« als »Voraussetzung« im Sinn des die Objektabgrenzung leitenden Prinzips schwindet, so ist andererseits die Universalität der kausalen Bedeutung der »Rechtsregel« für jede Betrachtung des Verhaltens der Menschen zueinander – wenn wir z.B. wieder den Skat als Vergleich heranziehen – außerordentlich groß, weil sie als Rechtsregel empirisch normalerweise mit Zwangsgewalt ausgestattet[353] und überdies von höchst universellem Geltungsbereich ist. In einen Skat braucht sich im allgemeinen niemand hineinziehen und damit den Wirkungen der empirischen »Geltung« der Skatregel aussetzen zu lassen. Dagegen kann er es de facto unmöglich vermeiden, das Gebiet der, vom Standpunkt von empirischen Rechtsordnungen aus, »relevanten« Tatbestände konstant – schon vor seiner Geburt – zu kreuzen und also – empirisch betrachtet – unausgesetzt »potentieller Rechtsskat-Spieler« zu werden und damit, sei es aus reinen Zweckmäßigkeits- oder sei es aus Rechtlichkeits-Maximen, sein Verhalten dieser Situation anpassen zu müssen. In diesem Sinn gehört gewiß, rein empirisch gesprochen, das Bestehen einer »Rechtsordnung« zu den universellen empirischen »Voraussetzungen« eines solchen faktischen Verhaltens der Menschen zueinander und zu den außermenschlichen Objekten, welches »Kulturerscheinungen« erst möglich macht. Allein sie ist, in diesem Sinn, ein empirisches Faktum, wie z.B. etwa ein gewisses Mindestmaß von Sonnenwärme auch, und gehört also wie diese einfach zu den kausalen »Bedingungen«, welche jenes Verhalten determinieren helfen. Und ähnlich wie mit der »objektiven Rechtsordnung« im empirischen Sinn steht es mit dem Umstand, daß in einer konkreten örtlich-zeitlichen Situation ein bestimmter konkreter »Tatbestand« zu den »rechtlich geordneten« gehört, z.B. – um damit zu unsrem Beispiel von dem qualmenden Schornstein zurückzukehren – das Maß von Einwirkungen lästiger Rauchentwicklung, bei dessen Abwehr dem Nachbarn die Unterstützung der »Rechtsordnung« in Aussicht steht: er ein entsprechendes »subjektives Recht« hat. Dies letztere stellt dann für die ökonomische Betrachtung lediglich eine faktische Chance für ihn dar. Diese Chance aber, daß nämlich die »Richter« 1. die Entscheidung »gemäß der Norm« als »Maxime« streng festhalten werden – also unbestechlich und gewissenhaft sind –, 2. daß sie den Sinn der Rechtsnorm ebenso »deuten« wie der von jenem Schornstein Belästigte oder sein Anwalt, 3. daß es gelingt, ihnen diejenigen faktischen Ueberzeugungen beizubringen, welche die Anwendung jener »Norm« nach ihrer Auffassung bedingen, 4. daß die faktische Erzwingung der Durchführung der normgemäßen Entscheidung erfolgt, – diese Chance ist »kalkulierbar« im gleichen logischen Sinn wie irgendein »technischer« Vorgang oder ein Erfolg im[354] Skat. Wird der erwünschte Erfolg nun erzielt, so hat dann zweifellos die »Rechtsregel« kausal das künftige Nichtqualmen des Schornsteins beeinflußt – trotz Stammlers Protest gegen diese Möglichkeit –, natürlich nicht als ideales »Sollen« (»Norm«) gedacht, sondern als faktisch ein bestimmtes Verhalten der beteiligten Menschen, z.B. der Richter, in deren Köpfen sie als »Maxime« ihrer »Entscheidung« lebendig war, und des Nachbarn oder der Exekutoren bewirkend.

Und ebenso wirkt der »Regel«-Charakter der »empirischen Rechtsordnung«, d.h. der als Faktum feststellbare und als solches auch einer Vielheit von Menschen bekannte Umstand, daß die »Maxime« der »Richter« dahin geht, an gewisse generell bestimmte Tatbestände eine generell gleiche Entscheidung von Interessenkonflikten zu knüpfen und zu erzwingen, – der Umstand also, daß die »Rechtsnormen« eben den Charakter generalisierter Sätze: »Rechtsregeln«, besitzen und in dieser Form als »Maximen« in den Köpfen der Richter leben, – dieser Umstand wirkt teils direkt, teils indirekt zur Erzeugung empirischer Regelmäßigkeiten im faktischen Verhalten der Menschen zueinander und den Sachgütern mit. Kein Gedanke natürlich, daß die empirischen Regelmäßigkeiten des »Kulturlebens« generell »Projektionen« von »Rechtsregeln« bildeten. Aber der »Regel«-Charakter des Rechts kann empirische Regelmäßigkeiten zur »adäquaten« Folge haben. Er ist dann ein kausales Element für diese empirische Regelmäßigkeit neben andern. Daß er eine höchst wichtige Determinante in dieser Richtung ist, beruht natürlich darauf, daß die empirischen Menschen normalerweise »vernünftige«, d.h. (empirisch betrachtet) der Erfassung und Befolgung von »Zweckmaximen« und des Besitzes von »Normvorstellungen« fähige Wesen sind. Darauf beruht es, daß rechtliche »Regelung« ihres Verhaltens unter Umständen mehr an empirischer »Regelmäßigkeit« dieses letzteren zu erzwingen vermag, als die ärztliche »Regelung« der Verdauung eines Menschen an physiologischer »Regelmäßigkeit« zu erreichen imstande ist. Allein sowohl die Art wie das Maß, in welchem die empirisch (als »Maxime« bestimmter Menschen) vorhandene »Rechtsregel« als kausale Determinante empirischer Regelmäßigkeiten anzusprechen ist, wechselt – wo es überhaupt zutrifft – von Fall zu Fall und ist durchaus nicht generell bestimmbar. Sie ist für das empirisch[355] »regelmäßige« Erscheinen des Kanzlisten auf seinem Bureau in ganz andrer Art und ganz andrem Grade die entscheidende Ursache, wie für das empirisch regelmäßige Erscheinen des Metzgers, oder wie für die empirischen Regelmäßigkeiten in der Art der Disposition eines Menschen über Geld- und Gütervorräte, die er in seiner faktischen Verfügung hat, oder für die Periodizitäten der mit »Krisen«22 und »Arbeitslosigkeit« bezeichneten Erscheinungen oder der »Preis«-Bewegungen nach den Ernten, oder für die Geburtenziffern bei steigendem »Vermögen« oder steigender intellektueller »Kultur« bestimmter Menschengruppen. Und da die »Wirkung« der Tatsache, daß ein bestimmter »Rechtssatz« empirisch neu »geschaffen« wird, d.h. aber, daß in einer spezifischen Art und Weise, welche eine empirische Vielheit von Menschen gewohnt sind, als die für die »Fixierung« von Rechtsregeln übliche und für sie verbindliche anzusehen, ein diesen ihren Gewohnheiten entsprechender »symbolischer« Vorgang sich vollzieht, – da die »Wirkung« dieser Tatsache auf das faktische Verhalten dieser und anderer von ihnen in ihrem Verhalten beeinflußbarer Menschen der erfahrungsmäßigen »Kalkulation« im Prinzip ganz ebenso zugänglich ist wie die Wirkung beliebiger »Naturtatsachen«, so sind auch generelle Erfahrungssätze über diese »Wirkungen« durchaus im gleichen Sinn wie andre Sätze nach dem Schema: auf x folgt y, möglich – und uns allen aus dem Alltagsleben der Politik geläufig. Diese empirischen »Regeln«, welche die adäquate »Wirkung« der empirischen Geltung eines Rechtssatzes aussagen, sind, logisch betrachtet, natürlich die äußersten Antipoden jener dogmatischen »Regeln«, welche als gedankliche »Konsequenz« ganz desselben Rechtssatzes, wenn er als Objekt der »Jurisprudenz« behandelt wird, entwickelt werden können. Und dies, obwohl beide in gleicher Art von der empirischen »Tatsache«, daß eine Rechtsregel bestimmten Gehalts als geltend angesehen wird, ausgehen, weil eben beide alsbald gänzlich heterogene gedankliche Operationen mit dieser »Tatsache« vornehmen. – Man kann nun eine »dogmatische« Betrachtung »formal« nennen, weil sie in der Welt der »Begriffe« bleibt, – dann ist als Gegensatz dazu aber gemeint: »empirisch« im Sinn der kausalen Betrachtung überhaupt. Nichts steht[356] andrerseits im Wege, die empirisch-kausale »Auffassung« der »Rechtsregeln« eine »naturalistische« zu nennen im Gegensatz zu ihrer Behandlung in der juristischen Dogmatik. Nur muß man sich darüber klar sein, daß dann als »Natur« die Gesamtheit alles empirischen Seins überhaupt bezeichnet ist, daß also z.B. alsdann auch die »Rechtsgeschichte«, logisch betrachtet, eine »naturalistische« Disziplin ist, weil auch sie die Faktizität der Rechtsnormen, nicht ihren idealen Sinn, zum Objekt hat23.[357] Wir unterlassen es, hier auch noch die »Konventionalregel«, auf deren Begriffsbestimmung durch Stammler wir bald zu sprechen zu kommen haben, zu analysieren und in ähnlicher Art zu den faktischen »Regelmäßigkeiten« in Beziehung zu setzen. »Regel« im Sinn eines Imperativs und empirische »Geregeltheit« sind hier ebenso himmelweit logisch verschiedene Dinge wie bei der »Rechtsregel«. Und für eine Betrachtung, welche empirische Regelmäßigkeiten zum Objekt hat, ist die »Konventionalregel« ganz im gleichen Sinn eine der kausalen Determinanten, die sie in ihrem Objekt vorfindet, wie die »Rechtsregel« und gleich wenig »Form« des Seins oder »Formalprinzip« des Erkennens wie diese. –

Der Leser wird ohnedies unsrer umständlichen Darlegungen von absoluten Selbstverständlichkeiten – zumal ihre Formulierung vorstehend noch höchst grobschlächtig und wenig präzis, weil, wie gesagt, nur provisorisch ist, – längst satt sein. Aber er wird sich überzeugen müssen, daß die Sophismen des Stammlerschen Buches eben leider zu diesen Distinktionen nötigen, weil alle paradoxen »Effekte«, die er erstrebt und erzielt, u.a. auch auf der steten Ineinandermischung von »regelmäßig«, »geregelt«, »rechtlich geregelt«, »Regel«, »Maxime«, »Norm«, »Rechtsregel«, – »Rechtsregel« als Objekt begrifflichjuristischer Analyse, »Rechtsregel« als empirische Erscheinung, d.h. kausale Komponente menschlichen Handelns, beruhen. »Sein« und »Sollen«, »Begriff« und »Begriffenes« wirbeln dabei stets – wie wir es ja von ihm schon kennen – durcheinander, von der, wie sich zeigen wird, stets wiederholten Vermischung der verschiedenen Bedeutungen, in dem die »Regel« »Voraussetzung« ist, ganz zu schweigen. Stammler selbst freilich würde,[358] bei etwaiger Lektüre dieser Zeilen, wahrscheinlich geneigt sein, mit Emphase darauf hinzuweisen, daß alles das oder doch fast alles das, was hier weitläufig auseinandergesetzt ist, sich an den verschiedensten Stellen seines Buchs als richtig zugestanden, manches ausdrücklich betont finde. Wiederholt habe er insbesondere sehr nachdrücklich gesagt, daß man selbstverständlich die »Rechtsordnung« ebensogut zum Gegenstand einer rein kausalen wie einer »teleologischen« Fragestellung machen könne. Gewiß! – wir werden das selbst zu konstatieren haben. Aber, ganz abgesehen von den Halbheiten, die dabei, wie sich zeigen wird, mit unterlaufen, wird sich vor allem auch hier wieder ergeben: daß er selbst diese einfachen Wahrheiten mit ihren ebenso einfachen Konsequenzen an andren, und zwar gerade an den entscheidenden Stellen seines Buchs vollkommen vergessen hat. Diese Vergeßlichkeit kam freilich dem »Effekt« seines Buches sehr zustatten. Würde er nämlich z.B. von Anfang an klipp und klar gesagt haben, daß es ihm allein auf das Seinsollende ankomme, daß er ein »formales« Prinzip aufzeigen wolle, welches dem Gesetzgeber auf die Frage de lege ferenda, dem Richter in den Fällen, wo an sein billiges »Ermessen« appelliert ist, einen Wegweiser an die Hand geben solle, – dann hätte ein solcher Versuch, wie man auch über den Wert der gegebenen Lösung denken möge, sicherlich ein gewisses Interesse erregt. Aber für die empirische »Sozialwissenschaft« wäre er dann alsbald als absolut irrelevant kenntlich gewesen, und Stammler hätte, vor allen Dingen, jene breiten und dabei doch unpräzisen Auseinandersetzungen über das Wesen des »sozialen Lebens« gar nicht zu schreiben Anlaß gehabt, deren Kritik wir uns nunmehr zuwenden, um dabei zugleich den bisher nur ganz provisorisch umrissenen Gegensatz empirischer und dogmatischer Betrachtungsweise weiter zu analysieren24.[359]


Fußnoten

1 Rudolf Stammler, Wirtschaft und Recht nach der materialistischen Geschichtsauffassung. Eine sozialphilosophische Untersuchung. Zweite verbesserte Auflage. Veit & Co., Leipzig 1906, 702 S. 8°.


2 Die nachfolgende Kritik gebärdet sich, um in sich zusammenhängend zu sein, äußerlich so, als seien die teilweise sehr elementaren Ausführungen, die sie bringt, hier zum erstenmal vorgetragen. Das ist natürlich bezüglich mancher Punkte absolut nicht der Fall, wie, obwohl es der Kundige weiß, auch ausdrücklich bemerkt sei. Von der Stellungnahme früherer Kritiker Stammlers wird gelegentlich die Rede sein.


3 Man vergleiche S. 63 ff., wo unzweideutig Stammler selbst, und nicht der »Sozialist«, den er S. 51 f. auftreten läßt, das Wort führt.


4 Ueber den Sinn von »materialistisch« bei Marx s. Max Adler, Kausalität und Teleologie im Streite um die Wissenschaft (aus den Marx-Studien, Band I) S. 108 Anm. 1 und S. 111 (richtig gegen Stammler), S. 116 Anm. 1 und öfter.


5 Die Sperrungen bei Zitaten aus Stammler rühren, wo nicht ein anderes gesagt ist, durchweg von mir her.


6 »Theoretisch« nämlich, nachdem feststeht, welcher Zustand als »Heilung« und »Fortschritt« gelten soll. Denn alsdann ist die Frage, ob die Herstellung dieses Zustandes »möglich« und ob eine Annäherung an ihn, also ein »Fortschritt«, zu konstatieren sei, natürlich eine rein faktische Frage, auf welche die empirische Wissenschaft (im Prinzip) Antwort geben kann.


7 Beispiel – auf S. 71 oben –: der »maßgebliche« Einfluß »im letzten Grunde« der wirtschaftlichen Bedingungen auf die Entwicklung der Architektur (ein an sich, beiläufig bemerkt, schwerlich überzeugender Fall, der aber überdies, da er auf sachliche Beweisgründe zu stützen versucht wird, in Widerspruch mit dem angeblich »formalen« Charakter des Prinzips steht). – Jene eigentümliche Diplomatie der Unklarheit, von der früher schon gesprochen wurde, macht sich auch hier bemerklich: »in Abhängigkeit zurückgehen«, »maßgeblicher Einfluß«, – das sind Ausdrücke, welche Stammler dem Wortsinn nach immer noch den Rückzug auf die Ausflucht gestatten würden, er habe ja nicht (wie dies der strikte »Materialist« tut) von ausschließlich wirtschaftlicher Bedingtheit gesprochen. Aber das »im letzten Grunde« ist doch zu echt geschichtsmaterialistisch formuliert, als daß er sich ihrer würde bedienen dürfen.

8 »Endlich« nicht etwa in dem Sinn, daß hier eine auch nur annähernd erschöpfende Aufzählung der möglichen und faktisch verwendeten »Natur«-Begriffe gegeben wäre. S. auch weiter unten S. 332 f., 382 f.


9 Ob notwendig »generell«, lassen wir vorerst auf sich beruhen.


10 Für die »Regel« im Sinn der sittlichen Norm versteht es sich von selbst, daß sie begrifflich nicht auf »soziale Wesen« beschränkt ist. Auch »Robinson« kann begrifflich »widersittlich« handeln (vgl. etwa die im § 175 RStGB., zweiter Fall, zum Gegenstand des Rechtsschutzes gemachte sittliche Norm).


11 Ueber den logischen Sinn des »Idealtypus« s. o. S. 190 ff. dieses Bandes.


12 Diese wie manche weiter folgende fast übermäßig triviale Bemerkung muß der Leser mit der Notwendigkeit, gewissen stark ad hominem gemachten Argumentationen Stammlers von vornherein entgegenzutreten, entschuldigen.


13 Jeder Gedanke an eine »Rechts«-Ordnung ist vorerst noch ganz fern zu halten, und selbstredend könnten ferner eventuell sehr wohl mehrere, ja viele untereinander verschiedene ideale »Sinne« eines »Tausch«-Akts konstruierbar sein.


14 Wenn man den »Sinn« des Tauschaktes in dieser ersten der hier unterschiedenen Bedeutungen, derjenigen der »Norm-Maxime«, als eine »Regelung der Beziehungen« der Tauschenden zueinander, ihr Verhältnis als ein durch die ihnen vorschwebende »Norm« für ihr künftiges Verhalten »geregelt« bezeichnet, so ist alsbald festzustellen, daß hier die Worte »geregelt« und »Regelung« keineswegs notwendig eine Subsumtion unter eine generelle »Regel« enthalten, außer etwa der: »daß Abmachungen loyal erfüllt werden sollen«, d.h. aber nichts andres als: »daß die Regelung eben als Regelung behandelt werden solle«. Die beiden Beteiligten brauchen vom generellen ideellen »Wesen« der Tauschnorm ja gar nichts zu wissen, ja wir können natürlich auch unterstellen, daß zwei Individuen einen Akt vollziehen, dessen von ihnen damit verbundener »Sinn« absolut individuell und nicht – wie der »Tausch« – einem generellen Typus subsumierbar ist. Mit andern Worten: der Begriff des »Geregelten« setzt in keiner Weise logisch den Gedanken genereller »Regeln« bestimmten Inhaltes voraus. Wir stellen diesen Sachverhalt hier nur fest und behandeln auch weiterhin, der Einfachheit halber, die normative Regelung durchweg als eine Unterstellung unter »generelle« Regeln.


15 Sie entsprechen darin in logischer Hinsicht den »Gesetzen« der theoretischen Nationalökonomie.

16 Der hier verwendete »Kultur«-Begriff ist der Rickertsche (Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, Viertes Kapitel, Abschnitt II und VIII). Absichtlich wird hier, vor der Auseinandersetzung mit Stammler, der Begriff »soziales Leben« vermieden. Ich verweise im übrigen auf meine verschiedenen Aufsätze (oben S. 146 ff., 215 ff.).


17 Genau das gleiche würde natürlich der Skatnorm widerfahren, wenn wir einmal unterstellen, ein skatrechtlich normierter Tatbestand würde Bestandteil eines unter »welthistorischen« Gesichtspunkten interessierenden Forschungsobjekts.


18 Es sei auf die eindringenden Bemerkungen verwiesen, welche G. Jellinek in der 2. Auflage seines »Systems der subjektiven öffentlichen Rechte« Kap. III S. 12 f. (vgl. seine »Allgem. Staatslehre«, 2. Aufl., Kap. VI) zu unserm Problem gemacht hat. Ihn interessiert dasselbe unter dem grade umgekehrten Gesichtspunkt wie uns hier. Während er naturalistische Eingriffe in das rechtsdogmatische Denken abzuwehren hat, haben wir hier rechtsdogmatische Verfälschungen des empirischen Denkens zu kritisieren. Der einzige, der bisher dem Problem der Beziehungen zwischen empirischem und juristischem Denken vom Standpunkt des ersteren aus prinzipiell zu Leibe gerückt ist, ist F. Gottl, dessen »Herrschaft des Worts« darüber ganz vorzügliche Andeutungen – aber allerdings nur Andeutungen – enthält. Die Behandlung rechtlich geschützter Interessen (»subjektiver Rechte«) vom Standpunkt speziell des ökonomischen Denkens aus hat seiner Zeit, wie bekannt, v. Böhm-Bawerk in seiner Abhandlung »Rechte und Verhältnisse vom Standpunkt der volkswirtschaftlichen Güterlehre« (1881) in konsequenter Klarheit entwickelt.


19 Wir vereinfachen hier künstlich!


20 S. auch Gottl a.a.O. S. 192 Anm. 1 und folgende Seiten.


21 Aus dem rein faktischen Grunde der geringen Tragweite der »Skatregel« für das Kulturleben.


22 Es wird hier von einer Analyse des empirischen Gehalts der diesen Begriffen entsprechenden Tatbestände abgesehen.


23 Die gedanklichen Operationen der »Rechtsgeschichte« sind im übrigen zuweilen, wie nur beiläufig bemerkt sein mag, logisch keineswegs so einfach zu klassifizieren, wie es zunächst scheint. Was heißt es z.B., empirisch betrachtet, daß ein bestimmtes Rechtsinstitut in einer bestimmten Vergangenheit »galt«, da doch die Tatsache, daß das Prinzip sich mit Symbolen aus Druckerschwärze in einem als »Gesetzbuch« überlieferten Faszikel aufgedruckt findet, zwar ein höchst wichtiges, aber nicht notwendig das allein entscheidende Symptom dafür ist, oft aber auch diese Erkenntnisquelle gänzlich fehlt, die überdies ja immer der »Interpretation« und »Anwendung« auf den konkreten Fall bedarf, deren Art wiederum problematisch sein kann? Es ließe sich der logische »Sinn« jenes »Gegoltenhabens« im Sinn der Rechtsgeschichte wohl in dem hypothetischen Satze ausdrücken, daß, wenn damals ein »Jurist« um die Entscheidung eines Interessenkonflikts nach Rechtsregeln bestimmter Art angegangen worden wäre, nach den uns, gleichviel aus welchen Quellen, als faktisch vorherrschend bekannten, juristischen Denkgewohnheiten eine Entscheidung bestimmten Inhaltes mit erheblicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten gewesen wäre. Aber wir werden nur allzu leicht geneigt sein, die Frage zu stellen, nicht: wie »hätte« der Richter wahrscheinlich faktisch entschieden?, sondern: wie »hätte« er gegebenenfalls entscheiden sollen?, also eine dogmatische Konstruktion in die empirische Betrachtung hineinzutragen. Dies um so mehr, als 1. wir tatsächlich eine solche Konstruktion als »heuristisches Mittel« gar nicht entbehren können: wir verfahren ja ganz regelmäßig unwillkürlich so, daß wir zuerst die historischen »Rechtsquellen« unsrerseits dogmatisch interpretieren und alsdann erforderlichen und möglichenfalls das historisch-empirische Gegoltenhaben dieser unsrer Interpretation an den »Tatsachen« (überlieferten Urteilen usw.) »erproben«. Und 2. müssen wir, um überhaupt zu einer Feststellung des »Gegoltenhabens« zu gelangen, sehr häufig, ja regelmäßig unsre Interpretation als ein Darstellungsmittel benützen, indem sonst eine in sich zusammenhängende Wiedergabe historischen Rechtes gar nicht in verständlicher Form möglich wäre, weil ein fester eindeutiger und widerspruchsloser juristischer Begriff empirisch gar nicht entwickelt oder nicht allgemein akzeptiert war (man denke an die »Gewere« in gewissen mittelalterlichen Quellen). Wir werden in diesem letztgenannten Fall natürlich sorgsam zu konstatieren suchen, inwieweit die eine oder die mehreren von uns als möglich entwickelten »Theorien« dem empirischen »Rechtsbewußtsein« der Zeitgenossen entsprechen, – die eigene »Theorie« dient uns nur als provisorisches Schema der Ordnung. Aber das »Rechtsbewußtsein« der Zeitgenossen ist eben ganz und gar nicht notwendig etwas eindeutig, noch weniger etwas in sich widerspruchslos Gegebenes. In jedem Fall verwenden wir unsre dogmatische Konstruktion als »Idealtypus« in dem von mir an anderer Stelle entwickelten Sinn. Ein solches Gedankengebilde ist nie Endpunkt der empirischen Erkenntnis, sondern stets entweder heuristisches oder Darstellungs-Mittel (oder beides). Aehnlich funktioniert nun, nach dem oben Entwickelten, eine rechtshi storisch, also für einen räumlich-zeitlichen Geschichtsausschnitt, als empirisch »geltend« festgestellte »Rechtsregel« ihrerseits wieder als »Idealtypus« des faktischen Verhaltens der von ihr potentiell erfaßten Menschen: wir gehen von der Wahrscheinlichkeit aus, daß das faktische Verhalten der betreffenden Zeitgenossen ihr sich wenigstens bis zu einem gewissen Grade angepaßt habe und »erproben« erforderlichen- und möglichenfalls die Hypothese des Bestehens der entsprechenden »Rechtlichkeitsmaxime« bei den Zeitgenossen an den »Tatsachen«. Eben daher rührt ja das so häufige Einstehen der »Rechtsregel« für die empirische »Regelmäßigkeit« und der juristischen Termini für ökonomische Tatbestände.


24 Ein weiterer Artikel sollte folgen. – Die unvollendete, [von Marianne Weber] im Nachlaß des Verfassers vorgefundene Fortsetzung ist anschließend als Nachtrag abgedruckt.


Quelle:
Max Weber: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. Hrsg. von Johannes Winckelmann. Tübingen 61985, S. 360.
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Die Serapionsbrüder

Die Serapionsbrüder

Als Hoffmanns Verleger Reimer ihn 1818 zu einem dritten Erzählzyklus - nach den Fantasie- und den Nachtstücken - animiert, entscheidet sich der Autor, die Sammlung in eine Rahmenhandlung zu kleiden, die seiner Lebenswelt entlehnt ist. In den Jahren von 1814 bis 1818 traf sich E.T.A. Hoffmann regelmäßig mit literarischen Freunden, zu denen u.a. Fouqué und Chamisso gehörten, zu sogenannten Seraphinen-Abenden. Daraus entwickelt er die Serapionsbrüder, die sich gegenseitig als vermeintliche Autoren ihre Erzählungen vortragen und dabei dem serapiontischen Prinzip folgen, jede Form von Nachahmungspoetik und jeden sogenannten Realismus zu unterlassen, sondern allein das im Inneren des Künstlers geschaute Bild durch die Kunst der Poesie der Außenwelt zu zeigen. Der Zyklus enthält unter anderen diese Erzählungen: Rat Krespel, Die Fermate, Der Dichter und der Komponist, Ein Fragment aus dem Leben dreier Freunde, Der Artushof, Die Bergwerke zu Falun, Nußknacker und Mausekönig, Der Kampf der Sänger, Die Automate, Doge und Dogaresse, Meister Martin der Küfner und seine Gesellen, Das fremde Kind, Der unheimliche Gast, Das Fräulein von Scuderi, Spieler-Glück, Der Baron von B., Signor Formica

746 Seiten, 24.80 Euro

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Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.

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