Anaïtis

[42] Anaïtis (Pers. M.). Die Cappadocier, Armenier, Perser und Meder beteten unter diesem Namen eine Göttin der Liebe an, welche die Römer und Griechen mit Venus verglichen. Sie hatte zu Sacasene in Armenien ein Heiligthum, das sie mit zwei persischen Dämonen (Omanus und Anadatus) theilte, und das wahrscheinlich den persischen Heeren, vielleicht auch den grossen Handels - Carawanen zu Gefallen angelegt wurde. In der Nachbarschaft von Bactriana ward nämlich ein Felsen durch Erdwälle und Mauern befestigt, um als Stützpunkt des Heeres zu dienen, und bald entstand daselbst ein Tempel der A. mit hinlänglicher weiblicher Priesterschaft, so dass die Stadt Zela in Pontus in der Nähe ganz von Priesterinnen bewohnt war, was wohl weiter nichts sagen will, als dass jedes Mädchen daselbst sich dem Dienste dieser Göttin widmete. Strabo erzählt: »Wenn die Mädchen eine Zeitlang in dem Tempel der Göttin sich ihrem Dienste gewidmet hätten, würden sie verheirathet, und Niemand halte es für eine Schande, solch ein Mädchen, das Jahrelang sich einem Jeden preisgegeben, zur Gattin zu wählen.« - Der eigentliche Begriff der A. ist schon aus dem Grunde schwer zu bestimmen, weil wir nur griechisch-römische Berichte über sie haben. Wenn wir uns aber an den allgemeinen Charakter der asiatischen Naturreligion erinnern, der immer ein männliches und ein weibliches Princip alles Naturlebens neben einander setzt (Wischnu und Bhavani, Baal und Astarte, Isis und Osiris, Venus und Adonis, Attes und Cybele); wenn wir ferner beachten, dass A. ihr Heiligthum mit zwei männlichen Dämonen Omanus und Anadatus theilt, so kann wohl auch hier bloss wieder eine weitere Form jener allgemeinen asiatischen Naturanschauung gefunden werden.

Quelle:
Vollmer, Wilhelm: Wörterbuch der Mythologie. Stuttgart 1874, S. 42.
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