Brama

Fig. 60: Brama
Fig. 60: Brama

[110] Brama, (Ind. M.), der schaffende Gott, ein mächtiges Glied der indischen Dreieinigkeit (Schöpfer, Erhalter, Zerstörer, Brama, Wischnu, Schiwa.) B. heisst die Wissenschaft der Gesetze, weil er nach ewig waltenden Gesetzen die Natur ordnete, nach welchen er auch der Lenker des Schicksals ist, in unwandelbarer Richtung die angefangene Schöpfung fortsetzt, Zeit und Dauer des Daseins bestimmt, und so nicht nur Leben, sondern auch Tod gibt. Er ist der Offenbarer der Veda's, seine Verehrung und Anbetung ist der älteste Cultus dieses Landes; ihm ist der Schwan unter den Thieren[110] am heiligsten; mehrere andere sind ihm geweiht; er hatte vier Häupter und übersah die vier Richtungen der Zeit; ein Riese, mit welchem er kämpfte, riss ihm eines derselben ab und setzte es sich auf, daher hat die Zeit nur noch drei Richtungen, Gegenwart, Zukunft und Vergangenheit. Nach einer andern Fabel entfloh dem B. seine Schwester, ein schönes Weib, und um ihr nach allen Weltgegenden nachzuspähen, schaffte er sich fünf Köpfe an; einen derselben riss ihm Schiwa ab, seine fleischliche Begierde zu bestrafen, und setzte sich denselben als Trophäe auf seine Tiara. Aus seinem Haupte sind die Braminen entsprungen. Gewöhnlich wird er sitzend, mit fünf Köpfen abgebildet; oft auch nur mit vier Köpfen, um die Strafe anzudeuten, welche er für seine Lüsternheit erlitt; unser Bild zeigt ihn so neben seiner Gattin Saraswati. B.s Entstehung wird sehr verschieden erzählt; nach einer dieser Mythen war er ein Sohn des Brahm und der Maja, nach einer andern eine Schöpfung Brahm's ausser sich, welcher mit ihm zugleich die anderen unteren und oberen Götter schuf; ein dritter Mythus lässt ihn aus einem Ei entstehen, das glänzend auf der Oberfläche des Urwassers schwebte, und woraus B. gleich nach seiner Geburt die Erde, den Himmel, das Meer und den Aether bildete; ein vierter lässt ihn auf einer Lotosblume aus des schlafenden Wischnu Nabel wachsen etc. Als B. geboren war, begann er, seinen hohen Beruf durch Erschaffung der Materie, der Elemente, der Geistes- und Sinnesvermögen zu erfüllen; dann gaben sein Haupt, seine Arme, seine Hüften und seine Füsse den vier Kasten, den Braminen, den Kschetrias, den Banianen oder Waischia und den Schudras (die fünfte, verworfene Kaste der Parias stammt nicht von B.), die Entstehung, denn aus diesen Theilen seines Körpers entsprangen sie, und nachdem nun sein Hauptgeschäft vollendet war, ging er wieder zurück in die Unendlichkeit Gottes. Allein diese Würde war nicht so schnell erreicht; er brauchte dazu hundert Jahre, jedes von 365 Tagen und Nächten. Diess scheint für einen indischen Gott nicht lange zu sein; die Sache gewinnt aber ein anderes Ansehen, wenn man erfährt, dass jeder Tag Brama's aus 1000 Sadrijugams besteht, davon ein jedes vier Jugs hat, welche, unter sich verschieden, zu 4, 3, 2 und 1,000 Götterjahren, zusammen die Summe von 4,320,000 menschlicher Jahre betragen, woraus sich 158 Billionen und 680,000 Millionen ergeben, was dann mit den eben so lange dauernden Nächten 317,360,000,000,000 Jahre ausmacht. Nach jedem Sadrijugam geht die Erde unter; nach je tausend solchen Sadrijugs schläft B. ein, dann wird die ganze Welt vernichtet, die grosse Zerstörung (Mahapralaya) tritt ein; mit ihr sinken auch die Gestirne, die Götter und Genien in ihr Nichts, bis auf die oberen Götter, welche während dieser Nacht schlummern, wie er; mit seinem Erwachen wird Alles wieder belebt. Erst sein Tod zerstört, vernichtet für immer. - B. erscheint jetzt den Indiern nicht mehr als der höchste Gott, sondern der furchtbare Schiwa. Die Mythen, welche diesen Umstand erklären sollen, sind folgende: B., Wischnu und Schiwa, als Ausflüsse derselben Gottheit, waren gleich gross, gleich mächtig und unendlich, doch glaubte B. höher zu sein, als Wischnu und Schiwa; daraus entstand zuvörderst ein furchtbarer Kampf zwischen den beiden Ersteren, dem Schiwa dadurch ein Ende machte, dass er, auf Bitten der Genien, welche den Untergang der Welt befürchteten, sich als unendliche Feuersäule vor sie hin stellte, und um zu entscheiden, wer von ihnen der grössere sei, erproben wollte, welcher von beiden das Ende der Feuersäule erreichen könne. Wischnu grub als Eber in die Erde, und grub in jedem Augenblick 2000 Meilen tief, und grub so 1000 Jahre hindurch, dann ward er müde und liess von seiner Arbeit ab. B. erhob sich als Schwan in die Lüfte, durchzog in jedem Augenblick 4000 Meilen, und flog so 100,000 Jahre lang eben so vergeblich; allein sein Stolz liess das Geständniss nicht zu, er kehrte zurück und sagte, er habe das Ende der Feuersäule erreicht. Da trat Schiwa aus der Feuersäule und schalt B. einen Lügner. Wischnu erhielt, weil er sich demüthigte, Verzeihung, B. aber verlor zur Strafe für seinen Hochmuth alle öffentliche Verehrung. Einem andern Frevel folgte eine noch härtere[111] Strafe; um seine Wohnung zu vergrössern, stahl er nach Erschaffung des Weltalls ein Stück von diesem, was jedoch Wischnu entdeckte; mit seiner Wohnung ward er dafür von Brahm in den Abgrund der Finsterniss gestürzt, und büsste dort Millionen Jahre lang seine Schuld, bis ihm endlich der Ewige verzieh; doch musste er in jedem Jug einmal als Mensch geboren werden und sterben, und Wischnu's Thaten aufschreiben, auch ward Bramaloga (Brama's Paradies) um das gestohlene Stück kleiner.

Quelle:
Vollmer, Wilhelm: Wörterbuch der Mythologie. Stuttgart 1874, S. 110-112.
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