Jude, der ewige

[284] Jude, der ewige, eine gespenstige Erscheinung, welche sich von Zeit zu Zeit sehen lassen soll, und deren Existenz auf einem uralten Volksglauben beruht. Als Christus zur Kreuzigung geführt wurde, wollte er vor dem Hause des Juden Ahasverus ruhen; dieser aber stiess ihn weg und verwünschte ihn. Darauf sprach Jesus: »ich will hier stehen und ruhen, du aber sollst wandeln bis an den jüngsten Tag!« Entsetzt blieb Ahasverus, bis die Menschenmenge sich verlaufen hatte, dann wandelte er, von einem innern Drange getrieben, fort durch alle Länder, unstät und flüchtig, nirgends Ruhe findend; alle Elemente stiessen ihn aus: ohne Schaden zu leiden, stürzte er sich in das Meer, wie in des Ofens Glut; unverletzt liess ihn das Getümmel der Schlachten und das heftigste Gift. Vor einigen Jahrhunderten hörte man an verschiedenen Orten von der Erscheinung des e. J., im welchen das Volk fest, auch jetzt noch, glaubt. Viele ältere und neuere Dichter haben sich an diesem Stoff versucht; unter den letzteren Schubart, Schlegel, Goethe, Franz Horn, Wilhelm Hauff; auch die Franzosen unterlassen es nicht, ihn zu bearbeiten, doch nach ihrer Art, ohne Auffassung des tiefen Sinnes, der darin liegt. - Eine ähnliche Erzählung hat man von einem römischen Soldaten Cartaphyllus.

Quelle:
Vollmer, Wilhelm: Wörterbuch der Mythologie. Stuttgart 1874, S. 284.
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