Orpheus

Fig. 251: Orpheus
Fig. 251: Orpheus

[362] Orpheus, (Gr. M.), Sohn der Muse Calliope und des Apollo oder des Oeager, berühmter thracischer Sänger und Bruder des gleich berühmten Linus. Die Kunst des Gesanges brachte dem O. ewigen Nachruhm, denn er vermochte Steine und Bäume durch seine Lieder in Bewegung zu setzen und durch deren Melodie die wildesten, reissendsten Thiere des Waldes zu zähmen. Diess ist auf nebenstehendem Bilde dargestellt nach einer Mosaik, 17 Fuss lang und eben so breit, die bei Grandson in der Schweiz gefunden wurde. Er war vermählt mit Eurydice, doch nicht lange währte sein Glück: die geliebte Gattin ward von einer Schlange gestochen und starb, worauf Mercur sie in die Unterwelt abholte. Voll Verzweiflung beschloss O., in die Unterwelt hinabzusteigen und Pluto zu bitten, ihm die Gattin zurückzugeben. Seine zauberischen Töne bewegten auch wirklich den Beherrscher des Schattenreiches, ihm zu gestatten, dass er Eurydice mit sich nehme, doch fügte er die Bedingung hinzu, dass O. sich nicht umsehen solle, bevor er auf die Oberwelt gelangt. Diess ward zwar dem liebenden Gatten schwer, doch hielt er aus, bis des Tages Schimmer in die Grotte fiel, durch welche er zur Erde hinaufstieg; da sah er sich um, erblickte Eurydice, aber in diesem Augenblick verschwand sie ihm für immer. - In seinen älteren Jahren nahm O. noch Theil an dem Argonautenzuge und war durch seinen Rath, so wie durch sein Citherspiel den Abenteurern von grossem Nutzen, doch konnte ihn seine seltene Kunst nicht vor dem schrecklichsten Tode schützen, indem er nach Apollodor in der Gegend von Pieria durch rasende Mänaden (Bacchantinnen) zerrissen wurde. - O. wird der Stifter der Mysterien in Griechenland genannt; als Sänger weit umherziehend, Asien und Africa, durchwandernd, hatte er Kunst und Wissenschaft in das noch rohe Vaterland zurückgebracht und durch dieses die Menschen entwildert. Er gab den Thraciern Gesetze, Religion, Poesie und Musik, schaffte die Menschenopfer, die Selbst- oder Blutrache[362] ab, führte die Entsündigungen reuiger Missethäter ein, verband die Edleren unter den Griechen zu einem Bunde, dessen Geheimnisse die erste Grundlage zu allen folgenden Mysterien und religiösen Verbindungen wurden, und die jedes folgende Jahrhundert immer mehr veredelte und verfeinerte, und so wird sein Name als der eines der edelsten Menschen und der höchsten Wohlthäter der Menschheit gepriesen.

Quelle:
Vollmer, Wilhelm: Wörterbuch der Mythologie. Stuttgart 1874, S. 362-363.
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