Orpheus

[138] Orpheus, griech. Sängerheros, Sohn des Öagros und der Muse Kalliope, die ihn am Hebrosfluß in Thrakien gebar, von solcher Macht des Gesanges, daß er Bäume und Felsen bewegte und wilde Tiere zähmte. Als seine Gattin Eurydike durch einen Schlangenbiß starb, stieg er in den Hades und rührte durch seinen Gesang und sein Saitenspiel Persephone, daß sie ihm gestattete, die Geliebte zur Oberwelt zurückzuführen, wenn er sich bis dahin nicht nach ihr umblicke.

Hermes, Eurydike und Orpheus (Relief in der Villa Albani zu Rom).
Hermes, Eurydike und Orpheus (Relief in der Villa Albani zu Rom).

Dennoch tat er es, und die Gattin mußte in den Hades zurückkehren. Eine vorzügliche antike Darstellung der Trennung der Gatten durch Hermes gibt ein erhaltenes griechisches Relief in verschiedenen Exemplaren (in der Villa Albani zu Rom, s. Abbildung; im Neapeler Museum, in Paris etc.). O. soll auch die Argonauten begleitet haben. Seinen Tod fand er auf dem Hämos, wo ihn rasende Weiber zerrissen. Haupt und Leier, in den Hebros geworfen, schwammen nach der Sängerinsel Lesbos, wo man sie bei Antissa beisetzte. Sehr früh schon hat O. im griechischen Volksglauben große Bedeutung: er galt als Inbegriff aller mystischen Offenbarung, besonders als angeblicher Begründer einer Geheimlehre, die durch Weihungen, Reinigungen, asketische Gebräuche und andre rituelle Satzungen Läuterung von aller Befleckung und damit die göttliche Gnade für dieses Leben und das Jenseits verhieß. Träger dieser weitverbreiteten Lehre, des Orphismus, waren die Orpheotelesten oder Orphiker, welche die zur Aufnahme in die sogen. orphischen Mysterien erforderlichen Weihen erteilten und die gemeinsamen Religionsübungen leiteten. Früh auch gab es unter O.' Namen mystische Schriften aller Art (so eine sehr alte Theogonie), von denen in Athen schon in der Peisistratidenzeit eine Sammlung veranstaltet wurde (s. Oonomakritos); im Laufe der Zeit entstand im Kreise der Orphiker eine weitschichtige, dem O. untergeschobene Literatur, von der außer zahlreichen Fragmenten (Sammlung von Lobeck im »Aglaophamus«,[138] Königsb. 1829, 2 Bde.) noch erhalten sind: die »Argonautica«, ein episches Gedicht von der Argonautenfahrt (hrsg. von Schneider, Jena 1803; deutsch von Voß, Heidelb. 1806); 88 für den gottesdienstlichen Gebrauch bestimmte Hymnen (deutsch von Dietsch, Erlang. 1822), und die »Lithica«, Gedicht über die magischen Kräfte der Steine (hrsg. von Abel, Berl. 1881; deutsch von Seidenadel, Bruchsal 1876). Ausgaben sämtlicher Werke von G. HermannOrphica«, Leipz. 1805) und AbelOrphica«, Leipz. und Prag 1885). Vgl. E. Gerhard, O. und die Orphiker (in den Abhandlungen der Berliner Akademie, 1859); O. Kern, De Orphei, Epimenidis theogoniis (Berl. 1888); Susemihl, De Theogoniae Orphei forma antiquissima (Greifsw. 1890); Rohde, Psyche (3. Aufl., Tübing. 1903, 2 Bde.); Maaß, Orpheus (Münch. 1895); Rapp, Über Orpheusdarstellungen (Tübing. 1895). – In der altchristlichen Malerei ist O. infolge der Verwandtschaft mit dem »Guten Hirten« und wegen seines an Christi Höllenfahrt erinnernden Hinabsteigens in die Unterwelt eins der Symbole für die Gestalt Christi. Soz. B. in den Calixtus-Katakomben in Rom, wo O. zwischen Lämmern erscheint, und in denen der Domitilla, wo er mit der Leier einen Löwen, Kamele und Vögel anlockt. Vgl. Martigny, La représentation d'Orphée sur les monuments chrétiens (Par. 1857).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 15. Leipzig 1908, S. 138-139.
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