Vestalinnen

[444] Vestalinnen. (Röm. Religion.) Diese jungfräulichen Priesterinnen der Vesta standen im höchsten Ansehen, und genossen grosse Vorrechte, z.B. das Recht, ein Testament zu machen, sobald sie in den Dienst der Göttin getreten waren (sie durften aber beim Eintritt nicht mehr als zehn Jahre alt sein); einen Lictor vor sich hergehen zu lassen; einem zum Tode Verurtheilten, wenn sie ihm begegneten, das Leben zu schenken; im Theater auf Ehrenplätzen zu sitzen. Dagegen waren sie auch sehr strengen Vorschriften, und bei Fehltritten furchtbaren Strafen unterworfen. Bedingungen ihrer Aufnahme waren: sie und ihre Eltern mussten frei geboren, beide Eltern mussten noch am Leben, in Italien ansässig und von ehrlicher Handtierung sein. War eine Wahl nöthig, so[444] wurden zwanzig Mädchen gewählt, und unter diesen entschied das Loos in der Volksversammlung; dies war jedoch überflüssig, wenn ein dazu gesetzlich berechtigter Vater freiwillig seine auch von jedem körperlichen Gebrechen freie Tochter dazu anbot. Die Zahl der Vestalinnen war Anfangs zwei, dann vier und seit Servius Tullius sechs. Zehn Jahre mussten sie den Dienst lernen, zehn Jahre ihn ausüben und zehn Jahre die Novizen unterweisen. Nach Verfluss dieser Zeit durften sie heirathen, doch hielt man diess nicht für löblich. Ihre Pflichten bestanden in der Verrichtung der Opfer, Bewahrung der Heiligthümer, Erhaltung des ewigen Feuers, und der strengsten Sittenreinheit und Keuschheit. Erlosch das heilige Feuer, so wurde die Schuldige mit Ruthenhieben gezüchtigt; machte sich eine Vestalin der Unkeuschheit schuldig, so wurde sie lebendig begraben. Ein solcher Fall galt als furchtbares Zeichen des Zornes der Götter, und die ganze Stadt war in der tiefsten Trauer. Die Kleidung der Vestalinnen bestand in einem langen weissen Gewande, einer priesterlichen Stirnbinde und einem Schleier; doch scheint ihnen der Putz nicht untersagt gewesen zu sein.

Quelle:
Vollmer, Wilhelm: Wörterbuch der Mythologie. Stuttgart 1874, S. 444-445.
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