Vergessen

[626] Vergessen ist ein Ausdruck für die (absolut oder relativ) gehemmte, aufgehobene Fähigkeit der Erinnerung (s. Gedächtnis), beruhend auf Abschwächung der Dispositionen (s. d.) zu bestimmten Reproductionen. Nach der Ansicht mancher (z.B. HERBARTS) gibt es kein absolutes Vergessen, kein absolutes Entschwinden, Vernichtetwerden von Vorstellungen (s. d.).

CHR. WOLF definiert: »Oblivio, quatenus a corpore pendet, consistit in impotentia, ideam materialem. reproducere« (Psychol. rational. § 303). Die »Vergessenheit« ist »ein Unvermögen zu gedenken, daran wir vorhin gedacht, und wenn wir ja daran gedenken, zu erkennen, daß wir schon vorhin daran gedacht« (Vern. Ged. I, § 254). »Oblivio, quae adeo est impotentia, ideas reproductas... recognoscendi« (Psychol. empir. § 215). G. E. SCHULZE erklärt: »Die Vergeßlichkeit ist eine Folge der Schwäche der Fähigkeit, etwas im Gedächtnisse aufzubewahren und zur Erinnerung zu bringen« (Psych. Anthropol. S. 193). SUABEDISSEN bemerkt: »Eine Vorstellung, deren man sich überhaupt oder in einer gewissen Zeit nicht erinnern kann, hat man vergessen. Es ist aber das Vergessen als ein Versinken der Vorstellung in das Leibliche des innern Lebensgebietes zu erklären, ist also kein Verlorenhaben, kein eigentliches Ausfallen der Vorstellung, sondern nur ein Fahrenlassen und eben dadurch ein Fallen derselben aus der geraden geistigen Haltung. Darum gibt es Grade des Vergessens.[626] Geschieht es plötzlich, so wird es Entfallen genannt. das Gegenteil ist das Einfallen« (Grdz. d. Lehre von d. Mensch. S. 109. vgl. STEDENROTH, Psychol I, 88 f.). Nach FRIES ist das Vergessen eine immer größer werdende Verdunkelung von Vorstellungen (Neue Krit. I, 139). Nach J. H. FICHTE kann man nichts absolut vergessen, d.h. jedes Angeeignete bleibt fähig, einmal ins Bewußtsein zu treten (Psychol. I, 396 ff.). Nach VOLKMANN gibt es »ein Vergessen auf ungewisses Wiederfinden und eines auf ungewisse Wiederkehr« (Lehrb. d. Psychol. I4, 388). Nach RIBOT lautet das »Regressionsgesetz«, daß das Vergessen vom Neueren zum Älteren, Eingewurzelten geht (Les maladies de la mém. 1885). Nach den Versuchen von EBBINGHAUS u. a. ergibt sich: die Quotienten aus Behaltenem und Vergessenem verhalten sich umgekehrt wie die Logarithmen der seit dem ersten Lernen verstrichenen Zeitintervalle (vgl. KÜLPE, Gr. d. Psychol. S. 214). Vgl. W. JAMES, Princ. of Psychol. I, 679 ff.. EBBINGHAUS, Grdz. d. Psychol. I, 643 ff. u. a. – Vgl. Gedächtnis.

Quelle:
Eisler, Rudolf: Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Band 2. Berlin 1904, S. 626-627.
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