Goldscheid, Rudolf

[207] Goldscheid, Rudolf, geb. 1870 in Wien, lebt daselbst.

G. vertritt einen aktivistischen Evolutionismus und »willenskritischen« Idealismus, indem die »ideale Weltwollung« zum sozialen Aktivismus führt. Die »aktivistische Wendung des gesamten Wissenschaftsbetriebes« ist zu fordern. Abzuweisen ist aller Passivismus. Wir können die Richtung des Geschehens beeinflussen, denn unser Wille ist eine »Richtungsintensität« unter anderen; die Welt ist ein System von »Richtungselementen« und der Geist gerichtete Energie, die sich als Wollen und Sollen darstellt und als Richtungsstrebigkeit wirkt. Es gibt keine besonderen »Richtkräfte«, sondern aller Kraft ist die Richtung immanent (gegen den Vitalismus). Die Willenskritik (Willenstheorie) ist das Korrelat zur Erkenntnistheorie. Sie geht zu den »Grundbedingungen des Willens« zurück und untersucht das Können des Willens gegenüber[207] der Natur; sie fragt, »welchen Einfluß seinerseits sowohl der rohe, wie der gebildete und verbildete Wille einerseits auf das eigene, geistige Sein und anderseits auf die nächste Umgebung, auf die äußere Natur, auf die ökonomischen Verhältnisse, auf die sozialen Institutionen, mit einem Worte auf die geschichtliche Entwicklung auszuüben vermag«. Wir dürfen nicht eher ruhen, bis wir die Zweckmäßigkeit des Geschehens bewerkstelligt haben.

Aktive Anpassung des Milieu und der sozialen Verhältnisse an unsere Zwecke ist das Wesen menschlicher Höherentwicklung. Die Selektion spielt hier eine untergeordnete Rolle und der Kampf muß immer mehr zurücktreten. (Gegen den extremen soziologischen Darwinismus bei Ammon u. a.) Jede Art erhält sich entweder durch Steigerung der Quantität oder durch Verbesserung des Nachwuchses. Unsere Art der Erhaltung fordert nun das letztere; die scharfe Selektion ist für den Kulturmenschen etwas Unökonomisches. (Gegen den Malthusianismus im Darwinismus.) In der Gesellschaft ist es unökonomisch, »wenn man mit dem Entwicklungswert Mensch verschwenderisch umgeht, um Entwicklungswerte niedrigerer Ordnung zu produzieren«. Der Mensch selbst ist für uns der höchste Entwicklungwert. Für die »Entwicklungswerttheorie« hat nur das wahren Wert, was geeignet ist, im Interesse der Höherentwicklung wünschbare menschliche Begehrungen zu befriedigen. Die »Menschenökonomie« fordert ökonomische, möglichst zweckvolle Verwendung und Pflege der Menschenkräfte, so daß »organischer innerer Mehrwert« produziert und die Entwicklung nach jeder Hinsicht die bestmögliche wird (»Entwicklungsökonomie«). G. ist entschiedener Sozialist, aber nicht streng orthodoxer Marxist, (Gegen die Verelendungstheorie, Betonung des psychologischen Faktors.)

SCHRIFTEN: Zur Ethik des Gesamtwillens I, 1903. – Grundlinien zu einer Kritik der Willenskraft, 1905. – Der Richtungsbegriff und seine Bedeutung für d. Philosophie, Annal. d. Naturphilos., 1906. – Verelendungs- oder Meliorationstheorie, 1906. – Geschichtswissenschaft, Annal. d. Nat. 1908. – Entwicklungswerttheorie, Entwicklungsökonomie, Menschenökonomie, 1908. – Darwin als Lebenselement unserer modernen Kultur, 1909. – Höherentwickl. u. Menschenökon., 1911, u. a.

Quelle:
Eisler, Rudolf: Philosophen-Lexikon. Berlin 1912, S. 207-208.
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