Nicolaus Cusanus

[495] Nicolaus Cusanus (von Cusa), eigentlich Nicolaus Chrypffs (Krebs),. geb. 1401 in Kues an der Mosel, als Sohn eines Winzers, besuchte die Schule der »Brüder des gemeinsamen Lebens« in Deventer, studierte dann in Padua Jus, Mathematik und Physik, trat in den Augustinerorden und bekleidete verschiedene geistliche Ämter. 1432-37 lebte er in Basel, wo er sich am Konzil beteiligte. Er schrieb dort »De concordantia catholica«, ferner »über die Verbesserung des Kalenders« (1436), in welchem er der Gregorianischen Reform vorgreift. Als Probst des Klosters der Kanoniker in Münster-Mainfeld (Eifel) vollendete er (1440) sein Hauptwerk »De docta ignorantia«. 1448 wurde er Kardinal, 1450 Bischof von Brixen (Tirol), mit dem Auftrage, die Klöster Deutschlands zu reformieren. Er starb auf einer Reise in Todi am 11. August 1464.

N., der zu den bedeutendsten deutschen Philosophen gehört, repräsentiert einen Übergang von der scholastischen zur neueren Philosophie. Durch den Pythagoreismus, Plato und den Neuplatonismus beeinflußt, wird er durch seine Betonung der Zahl und des Quantitativen (auch durch seine Annahme der Kugelgestalt und Achsendrehung der Erde) zu einem Vorläufer der neueren. quantitativ-mechanistischen Naturauffassung, so sehr er auch durch seine metaphysische Weltanschauung, für welche die Welt ein in allen Teilen beseeltes Ganzes ist, vom Mechanismus sich entfernt und sich der Mystik des Neuplatonismus, aber auch Eckharts u. a. nähert. Mit Eckhart hat er den, man könnte sagen, »christlichen Pantheismus« gemein, welcher neben der Transzendenz die Immanenz Gottes in der Welt betont. Als Mathematiker ist N. besonders dadurch von Bedeutung, daß er schon das Unendlich Kleine in seiner Bedeutung für die Erkenntnis erkennt. Von der absoluten Unendlichkeit Gottes unterscheidet er die kontrahierte Unendlichkeit, die Grenzenlosigkeit der Welt in Raum und Zeit, wodurch er sich ebenfalls von der mittelalterlichen Denkweise abwendet.

Das Erkennen ist nach N. ein sich-Ausgleichen der Dinge seitens des Intellekts (»assimilare«) und ein Messen derselben an der eigenen Einheit. (»Nam mens est viva mensura, quae mensurando alia sui capacitatem attingit.«) In uns liegen (potentiell) Begriffe, vermittelst deren wir bei Gelegenheit der Wahrnehmung die Dinge erkennen, deren Urbilder (Ideen) in Gott sind. Je mehr sich die Erkenntnis der mathematischen Einsicht nähert, desto gewisser[495] ist sie. Die Begriffe gehen aus unserem Geiste hervor, entfalten sich aus ihm, wobei die Zahl das wichtigste Erkenntnismittel ist, wie die göttliche Zahl als Urbild der mathematischen Zahl und der Dinge. Der Mensch, der ein Mikrokosmus, eine Welt im Kleinen ist, hat einen Intellekt, der ein Bild des göttlichen Geistes ist. »Omnia in Deo sunt, sed ibi rerum exemplaria, omnia in nostra mente, sed hic rerum similitudines.« »Divina mens concipiendo creat, nostra concipiendo assimilat notiones seu intellectuales faciendo visiones. Divina mens est vis entificativa, nostra mens est vis assimilativa.« Alles Erkennen ist nur eine Annäherung an das absolute Wissen, nur eine »Konjektur«, eine nur symbolische und relative, das Absolute nicht als solches erfassende Erkenntnis. Je mehr wir beachten, daß wir betreffs des Absoluten nichts Positives wissen und daß wir, indem wir Gott im Geiste schauen, sein Wesen doch nicht begreifen, desto mehr wissen wir (»Et tanto quis doctior erit, quanto se magis sciverit ignorantiam«). Diese »gewußte Unwissenheit« (»docta ignorantia«; der Begriff schon bei Augustinus, Bonaventura u. a.) liegt im geistigen Schauen, in der intellektuellen Anschauung (»speculatio«, »visio sine comprehensione«), mit der wir das über alle Gegensätze und Unterschiede, alle begrifflichen Einzelbestimmungen hinaus liegende Absolute erfassen. (»Supra igitur nostram apprehensionem in quadam ignorantia nos doctos esse convenit.« »Ad hoc ductus sum, ut incomprehensibilia incomprehensibiliter amplecterer in docta ignorantia.«) Die niederste Stufe der Erkenntnis ist die sinnliche (sensus), dann kommt der unterscheidende Verstand (ratio), dann die synthetische Erkenntnis des Intellekts (intellectus) und endlich die »visio intellectualis«, welche schon mystischer Art ist.

Gott ist nichts von allen endlichen Prädikaten, während er anderseits alles ist. Er ist absolute Einheit, ohne Anderheit. Die Einheit Gottes ist Dreieinigkeit. Gott ist, als über den Gegensatz von Subjekt und Objekt, Denkendem und Gedachtem erhaben, eigentlich nur negativ bestimmbar, unbegreiflich, unaussprechlich, überseiend, unendlich, der Grund von allem. Gott ist in allem und alles ist in ihm (»omnia sunt in eo«), er ist alles in allem (»quodlibet in quolibet«), das Wesen der Wesen (»essentia omnium essentiarum«), der Weltgrund (»ratio totius universi«) und das Weltziel, das Zentrum der Welt (»centrum mundi«) und zugleich die unendliche Peripherie (»infinita circumferentia«) derselben. Er ist das absolute Maximum, das Größte, All-Umfassende und zugleich das Minimum, das Kleinste, in allem Seiende, er ist die Einheit der Gegensätze (»coincidentia oppositorum«), das Zusammenfallen des Größten und Kleinsten (»coincidentia maximi cum minimo«), wobei alle Verschiedenheiten in der Einheit des göttlichen Schauens aufgehoben sind (»in divina complicatione omnia absque differentia coincidunt«). Gott ist das absolute Können (»possest«). Aus dem Wirkenkönnen Gottes geht das Werdenkönnen hervor und bildet die Materie der Dinge.

Die Welt (das Universum) ist eine Entfaltung (»explicatio«) Gottes, indem sie das in Gott in einer Komplikation Vereinigte (»Deus complicite est omnia«, »complicatio omnium«) als Vielheit von Dingen enthält. Sie ist ein Abbild Gottes und seiner Dreieinigkeit, ein beseeltes Ganzes, eine gegliederte, vollkommene[496] Einheit, unbegrenzt, von Gottes Wirken erfüllt, so daß alles in allem ist und jedes Ding eine Art Spiegelung und Konzentration, »Kontraktion« des Alls ist. (also eine Art Monade; vgl. Bruno, Leibniz): »Omnes creaturae specula contractiora et differenter curva, inter quae intellectuales naturae viva, clariora atque rectiora specula.« Die geistigen Wesen, zu welchen auch die Menschen (durch ihre vernünftigen Seelen) gehören, spiegeln, jeder ein Mikrokosmus (»parvus mundus«), das All klarer und richtiger, als »Maß« der Dinge. Der Mensch gehört zur mittleren Welt, neben der es eine sinnliche (körperliche) und rein geistige Welt gibt. Wie die Linie ist auch der Körper die Entfaltung des Punktes (»evolutio puncti«) in dessen Bewegung. Die Zahlen sind die Urbilder der Dinge, nach mathematischen Verhältnissen entfaltet sich die Welt aus Gott; die Welt ist schön geordnet und eine gute Welt (Optimismus). Die Selbstvervollkommnung ist das Ziel des sittlichen Handelns, die Liebe zu Gott und die selige Vereinigung mit ihm das höchste Gut. Mit großer Toleranz findet N. in allen Religionen einen Wahrheitsgehalt; auch ist er für kirchliche Reformen durch den Papst.

Anhänger des N. von Cusa sind Jacobus Faber, Bovillus (Bouillée); von Einfluß ward N. besonders auf Giordano Bruno.

Schriften (philosophische): De docta ignorantia, 1440. – Apologia doctae ignorantiae, 1449. – De coniecturis. – De quaerendo Deum. – De filiatione Dei. – De genesi. – De sapientia. – De mente. – De visione Dei. – De beryllo. – De possest. – De venatione sapientiae. – De apice theoriae. – De ludo globi u. a. – Opera, 1514, 1565; deutsch in Auswahl (von Scharpff), 1862. – Vgl. FALCKENBERG, Grundzüge der Philosophie des N. Cusanus, 1880. – J. UEBINGER, Die Philosophie des N. C., 1881; Die philos. Schriften des N. C., Zeitschrift f. Philosophie, 1893-95; Der Begriff »docta ignorantia« in seiner geschichtlichen Entwicklung, Archiv für Geschichte der Philosophie VIII. – GRÜNING, Wesen und Aufgabe des Erkennens nach N. C., 1902. – SCHAEFER, Des N. v. C. Lehre vom Kosmos, 1887.

Quelle:
Eisler, Rudolf: Philosophen-Lexikon. Berlin 1912, S. 495-497.
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