Tetens, Johann Nicolaus

[744] Tetens, Johann Nicolaus, geb. 1736 zu Tetenbüll, seit 1763 Prof. der Physik, seit 1776 der Philosophie (und der Mathematik) in Kiel, seit 1789 Mitglied des Finanzkollegiums in Kopenhagen, gest. daselbst 1805.

T., der als Metaphysiker von der Leibniz-Wolffschen Philosophie beeinflußt ist, in deren Sinne er die Seele als immaterielle Substanz und die Elemente der Dinge ebenfalls als unkörperlich auffaßt, zeigt sich in seiner Psychologie (Einfluß von Locke, Reid, Bonnet u.a.) und Erkenntnislehre als selbständiger Denker. Als Methode der Psychologie, die auf Selbstbeobachtung zu basieren ist, bestimmt er: »Die Modifikationen der Seele so nehmen, wie sie durch das Selbstgefühl erkannt werden; diese sorgfältig wiederholt und mit Abänderung der Umstände gewahrnehmen, beobachten, ihre Entstehungsart und die Wirkungsgesetze der Kräfte, die sie hervorbringen, bemerken; alsdann die Beobachtungen vergleichen, auflösen und daraus die einfachsten Vermögen und Wirkungsarten und deren Beziehung aufeinander aufsuchen.« T. bekämpft sowohl die reine Assoziationspsychologie als die materialistisch-sensualistische Richtung. Den Begriff der Disposition (»Spur«) faßt er nicht bloß physiologisch, sondern auch psychologisch auf. Die Seele hat eine eigene Wirksamkeit, ist nicht bloß rezeptiv, sondern auch aktiv, sie besitzt ein »Dichtungsvermögen«, mittelst dessen sie aus mehreren Empfindungen oder Vorstellungen neue einfache Vorstellungen herstellt (vgl. Wundt: schöpferische Synthese). Vorstellungen des äußeren und des inneren Sinnes werden unterschieden. Die Assoziation erfolgt nach Berührung und Ähnlichkeit. Durch die Aufmerksamkeit, die sich auf sie lenkt, steht die Vorstellung »abgesondert, herausgehoben, mit mehrerer und mit vorzüglicher Helligkeit vor uns«. Drei Seelenfunktionen gibt es: Verstand, »Gefühl« und Wille. Das Gefühl der Lust und Unlust (als Bestandteil des Gefühls im weiteren Sinne, welches auch die Empfindung enthält) nennt T. »Empfindnis«. In den lustvollen Modifikationen der Seele ist ein Gefühl der Stärke und Kraft der Seele vorhanden. Das Bewußtsein ist ein Gewahrnehmen (= Apperzeption); es gibt auch Vorstellungen ohne Bewußtsein.

Das Denken ist das »Erkennen der Verhältnisse und Beziehungen in den Dingen«. Die »Denkkraft« äußert sich als Unterscheiden, Gewahrnehmen, Beziehen, Urteilen, Schließen. Es gibt ein eigenes »Gefühl der Beziehung«, ein Bemerken des Übergangs von einer Vorstellung zur anderen. Der Begriff der Relation ist »von der Denkkraft hervorgebracht und ist nichts außer dem Verstande, sondern ein ens rationis«, subjektiv; aber das »fundamentum relationis« kann etwas Objektives sein (eine Art der »Mitwirklichkeit« der Dinge).[744]

Wichtig ist die Unterscheidung von Form und Stoff der Erkenntnis (Einfluß seitens Kants Dissertation von 1770); letzterer entstammt der Wahrnehmung, erstere der Verstandestätigkeit. »Die Form der Ideen hängt von der Denkkraft ab.« Die Form ist »ein Werk der denkenden Kraft«, so daß alle Begriffe »bearbeitete Empfindungsvorstellungen« sind. Raum und Zeit sind »Verhältnisideen (Empfindungen, in ein Ganzes vereinigt). An der völligen Zurichtung dieser Vorstellungen hat die »Dichtkraft« Anteil. Aus der Verstandestätigkeit entspringen auch (formal) die Begriffe der Kausalität usw., indem der Verstand Vorstellungen nach einem »Denkungsgesetze« verbindet und allgemeine Wahrheiten erzeugt, die aller Erfahrung vorhergehen (vgl. Kants »a priori«). Im Begriffe der Kausalität übertragen wir das am Gefühle unseres eigenen Strebens Gefundene auf die Außendinge. Aus dem Gegründetsein einer Vorstellung in einer anderen, aus etwas »Subjektivischen«, machen wir eine »objektivische Abhängigkeit«. Drei Arten der »einfachen Verhältnisse« (»Denkarten«) unterscheidet T.: 1. entspringend aus der Vergleichung der Vorstellung (Identität und Diversität und ihre Arten, d.h. die eigentlichen Relationen); 2. aus dem Zusammennehmen und Absondern, Verbinden und Trennen der Vorstellungen (Zueinandersein, Verbunden- und Getrenntsein, Zugleichsein; Folge, Ordnung und alle Arten der »Mitwirklichkeit«); 3. die Verhältnisse der Dependenz, Gegründetes – Grund, Wirkung – Ursache. Die notwendigen Wahrheiten der Vernunft erzwingen unseren Beifall; ihre subjektive Notwendigkeit wird auf die Objekte übertragen. Die Axiome sind nicht aus der Erfahrung abstrahiert, sondern in der Natur der Denkkraft gegründet. Die Relativität und Subjektivität der Vorstellungen (als »Zeichen« von Eigenschaften der Dinge) hindert nicht die absolute Notwendigkeit ihrer Relationen (Vorstellung zu Vorstellung wie Sache zu Sache). Die Objektivität einer Sache bedeutet, daß sie allgemein und notwendig so erscheinen muß (»Ein beständiger Schein ist vor uns Realität«; T. spricht hier von den »Gesetzen jeder Denkkraft überhaupt«; vgl. Kants »Bewußtsein überhaupt«). Es gibt »Gesetze jedweder Denkkraft«, »Wahrheiten für jeden Verstand«, »notwendige Denkarten jedweden Verstandes«. Die Objekte sind das, was wir als Quellen unserer Empfindungen setzen und was wir durch letztere nur als Erscheinungen (Phänomene), nicht wie sie ihrem Wesen nach sind, erfassen (vgl. Leibniz, Kant). – Die Freiheit der Seele besteht in ihrer Selbstmacht, in ihrem Vermögen, anders zu handeln, als sie es tut, so aber, daß alle Handlungen einen zureichenden Grund haben. Der Mensch ist zur Vervollkommnung bestimmt, aber die Glückseligkeit hängt auch von äußeren Faktoren ab.

Schriften: Über metaphys. Wahrheiten, 1760. – Über die vorzüglichsten Beweise des Daseins Gottes, 1761. – Über den Ursprung der Sprache und Schrift, 1772. – Über die allgemeine spekulative Philosophie, 1775. – Philos. Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwicklung. 1776-77 (Hauptwerk), u.a. – Vgl. G. STÖRRING, Die Erkenntnistheorie von T., 1901. M. SCHINZ, Die Moralphilos. von T., 1906. – W. UBELE, J. N. Tetens (in Vorbereitung).

Quelle:
Eisler, Rudolf: Philosophen-Lexikon. Berlin 1912, S. 744-745.
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