Tönnies, Ferdinand

[762] Tönnies, Ferdinand, geb. 1855 in Hof Rieg, Kirchspiel Oldenswort, Prof. in Kiel. T. vertritt einen (von Schopenhauer beeinflußten) kritischen Voluntarismus (der Ausdruck stammt von T., Vierteljahrsschr. f. wissensch. Philos., 1883). Der Wille ist das Treibende im Psychischen, auch im Denken. Der organische »Wesenwille« ist das »psychische Äquivalent des menschlichen Leibes« (Identitätsstandpunkt), das »Prinzip der Einheit des Lebens«. »Alle spezifisch menschlichen, also die bewußten und gewöhnlich willkürlich genannten Tätigkeiten sind abzuleiten, sofern sie dem Wesenwillen angehören, aus den Eigenschaften desselben und aus seinem jedesmaligen Erregungszustande.« Unter[762] sozialem Willen versteht T. den für eine Mehrheit von Menschen gültigen, d.h. ihren Individual-Willen in gleichem Sinne bestimmenden Willen, insofern als sie selber als Subjekte dieses ihnen gemeinsamen und sie verbindenden Willens gedacht werden. Die ursprüngliche Anlage des Menschen ist sein »Urwille« (als Wille zum Leben, zur Nahrung, zur Fortpflanzung). Die Empfindung ist die subjektive Seite der Bewegung. Der Organismus selbst ist »ein Komplex von in sich einigen Willen«. Wille und Körper sind also identisch; die Seele wirkt nicht auf den Körper, sondern es wirkt »ideeller Wille auf realen Willen«. Durch Erfahrung entstandener aktiver Wille als Prinzip des Könnens ist Gewohnheit; in ihr, wie im Gestalten (in der angeborenen Lust zu etwas) und im Gedächtnis (in der »Fähigkeit, zweckmäßige Tätigkeiten zu wiederholen«) äußert sich der Wesenwille. Alles Leben und Willen ist »Selbstbejahung«. Einerseits ist im Willen ein Denken, anderseits im Denken der Wille enthalten (»Wesenwille« – »Willkür«).

Auf diese Unterscheidung von organischen »Wesenwillen« und mechanischer »Willkür« (in Bedacht, Belieben, Begriff oder Bewußtheit zum Ausdruck kommend) gründet T. seine Sozialphilosophie (beeinflußt von Comte, Spencer, Marx, Maine, Gierke, Schäffle u. a,), seine Unterscheidung von »Gemeinschaft« und »Gesellschaft«. Die Grundlage der Gemeinschaft bildet der natürliche, organische Wesenwille, in dem die Gefühle überwiegen und ein »Grundzweck« herrscht. Die Gemeinschaft ist eine ursprüngliche, innere Einheit, ein dauerndes und echtes Zusammenleben, ein »lebendiger Organismus«. Dieser ursprüngliche, natürliche Zustand erhält sich trotz der Trennung und durch diese hindurch »Gemeinschaftliches Leben ist gegenseitiger Besitz und Genuß und ist Besitz und Genuß gemeinsamer Güter.« Die allgemeine Wurzel dieses Verhältnisses ist der Zusammenhang des vegetativen Lebens durch die Geburt. Die Gemeinschaft des Blutes entwickelt und besondert sich zur Gemeinschaft des Ortes, diese zur Gemeinschaft des Geistes (Verwandtschaft, Nachbarschaft, Freundschaft). Gegenseitig-gemeinsame, verbindende Gesinnung als einiger Wille der Gemeinschaft ist das Verständnis. Recht der Gemeinschaft ist alles, was dem Sinne eines gemeinschaftlichen Verhältnisses gemäß ist. Die Gemeinschaft, in welcher der kommunistische Zustand herrscht, nimmt äußerlich die Formen von Haus, Dorf, Gau, Land an (Familie, Geschlecht, Stamm, Volk).

Die »Willkür«, als künstliches Gebilde des Denkens, mit der Herrschaft von gedanklich erfaßten, vorgefaßten Zwecken (und »Endzweck«), liegt der Gesellschaft zugrunde, welche im Laufe der Geschichte die Gemeinschaft verdrängt und in der Großstadt, im Staat usw. zum Ausdruck gelangt. Sie ist ein mechanischer, individualistischer Typus, eine ideelle Bildung, ein mechanisches Aggregat und Artefakt«. Die Gegensätze zwischen Gemeinschaft und äußerlich durch Interessen und Zwecke verbundener Gesellschaft durchziehen das ganze soziale Leben. Es bietet sich dar »der Gegensatz einer Ordnung des Zusammenlebens, welche insofern als auf Übereinstimmung der Willen, wesentlich auf Eintracht beruht und, durch Sitte und Religion ausgebildet, veredelt wird; gegen eine Ordnung des Zusammenlebens, welche insofern als auf zusammentreffenden,[763] vereinigten Willküren, auf Konvention gegründet ist, durch politische Gesetzgebung ihre Sicherung und durch öffentliche Meinung ihre ideelle und bewußte Erklärung, Rechtfertigung empfängt«. In der Gesellschaft herrschen Egoismus, Spannung, Abgrenzung, Ausschließung, Kontrakt, Profitsucht, Privateigentum, Obligationsrecht, Ausbeutung u. dgl. und sie wird pathologisch, wenn der Rest des Gemeinschaftslebens zu schwinden droht. Der Gang der Geschichte ist, daß die vergangene Konstitution der Kultur kommunistisch war, die aktuelle und werdende sozialistisch ist. Individualismus gibt es in der Geschichte nur als Ausfluß der Gemeinschaft und durch sie bedingt oder als Gesellschaft hervorbringend und tragend. Die Geschichte ist Wissenschaft, sofern sie die »Lebensgesetze der Menschheit« entdeckt.

Alle Wissenschaft ist nach T. rationalistisch und empiristisch zugleich. Das wissenschaftliche Denken will Gleichheit zum Behufe von Messungen, auch Ersparung von Gedankenarbeit. Der Geist wird aus seinen Keimen und ist mit bestimmten Anlagen als Kräften und Tendenzen ausgestaltet; sein »innerer Gesamtzustand« ist das absolute A priori des Erkennens.

Schriften: Gemeinschaft und Gesellschaft, 1887 (Hauptwerk); 2. A. 1905. – Hobbes' Elements of law, 1889; Hobbes' Behemoth, 1889. – Ethische Kultur und ihr Geleite, 1892. – Hobbes Leben u. Lehre, 1896. – L'évolution sociale en Allemagne, 1896, 1902. – Nietzsche-Kultus, 1897. – Grundtatsachen des sozialen Lebens, 1897. – Politik und Moral, 1901. – Philos. Terminologie in psychol.-soziolog. Ansicht, 1906. – Die Entwicklung der sozialen Frage, 1907. – Das Wesen der Soziologie, Neue Zeit- und Streitfragen, 1907. – Die Entwicklung der Soziologie in Deutschland im 19. Jahrh., 1908. – Zur Einleitung in die Soziologie, Zeitschrift f. Philos. u. philos. Kritik, 115. Bd., 1899, u.a.

Quelle:
Eisler, Rudolf: Philosophen-Lexikon. Berlin 1912, S. 762-764.
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