Einleitung

Die griechische Religion hat die Kraft in sich, ein großer und unerschöpflicher Gegenstand der Forschung und Ahnung zu sein und wahrscheinlich noch lange zu bleiben. Sie ist nicht nur die Religion eines der wichtigsten Völker aller Zeiten, sondern der merkwürdigste und späteste Polytheismus der alten Geschichte. Auch kann sie gründlich nur behandelt werden in ihrem Zusammenhang und Gegensatz mit den andern Polytheismen der alten Welt, sowie der Germanen, Slaven und Kelten.

Gerne beschränken wir uns hier auf eine einzige Seite des Phänomens: nämlich auf die Frage, was diese Religion und diese Götter den Griechen der historischen Zeit waren. Wie sie entstanden, von wannen her sie gekommen, darf uns hier nur in Kürze beschäftigen, und über dilettantisches Dafürhalten werden unsere Andeutungen nicht hinausgelangen.

Schon die ganze ethnographische Grundlage dieser Forschung ist eine höchst ungewisse. Die Bildung der nachher als hellenisch geltenden Nationalität aus Bestandteilen der Pelasger, Karer, Tyrrhener, Leleger usw. bleibt die Sache einer Reihe von Vermutungen; ungezählte Jahrhunderte, vielleicht Jahrtausende gehen damit vorbei; dazwischen liegen uralte phönizische Okkupationen, und jenseits von diesem allem wissen wir nicht, was für eine Urbevölkerung jene später griechisch gewordenen StämmeA1 antrafen1. Daß eine solche von ihnen völlig zernichtet worden wäre, ist an sich nicht notwendig vorauszusetzen. Womit wird nun ein seßhaftes Volk auf die Eingedrungenen am ehesten Eindruck machen? Vielleicht mit demjenigen Glauben und Kultus, der sich auf die Fortdauer nach dem Tode bezieht? mit seinem Dienst des Grabes und der unterirdischen Gewalten? Denn für die lichten Götter des Lebens wird ja das siegreiche Volk zunächst keiner Ergänzung bedürfen? Neuere Forscher2[3] haben eine über Griechenland und Italien verbreitete Urreligion des Grabes und des Herdes angenommen, welche als Hauskult allem andern Kult zeitlich vorangegangen sei, beginnend mit Verehrung der ursprünglich im Hause bestatteten Toten, als man noch die Seele mit dem Leibe zu begraben glaubte; ja es wird für einen viel weitern Umkreis die Frage aufgestellt, ob nicht vielleicht beim Anblick des Todes alle Religion überhaupt ihren Anfang genommen3. Wie dem auch sei, jedenfalls wird eine älteste Bevölkerung oder Volksgestalt vorzugsweise mit ihrem Gräberwesen einen dauernden Eindruck hervorbringen. Auf griechischem Boden hatte die früheste Bevölkerung möglicherweise auch schon die frühesten Orakelstätten gekannt.

Übrigens mangeln uns in betreff des religiösen Austausches zwischen Bevölkerungen früher Kulturperioden zu sehr die psychologischen Handhaben. Die einen können sich höchst ausschließlich verhalten, nur ihre Götter überall durchgesetzt und nichts anderes daneben geduldet haben; andere aber huldigten vielleicht sehr willig, wo sie eine fest bestehende Verehrung antrafen und fügten sich in gegenseitige Ergänzung als in eine Bereicherung. Der Polytheismus hat seine äußerst nachgiebigen Seiten und kann sich aus Vorgefundenem vervollständigen; Altes und Neues lebt dann nebeneinander fort, und eine mächtige Volksphantasie kann das Ganze so beseelen, daß es wie ein großes gleichartiges Gesamtbild erscheint.

Zu dem möglicherweise von einer Urbevölkerung Übernommenen gehört auch der Verwandlungsglaube. Ohne uns im mindesten über das rein Hypothetische dieser Annahme zu täuschen, schicken wir hier in Parenthese ein Kapitel über diese Erscheinung der Behandlung der sonstigen religiösen Vorstellungen voran.


Fußnoten

1 Vorausgesetzt, daß sie wirklich eingewandert seien. Daß die Götter von draußen gekommen, liegt wie in einem Dämmerschein etwa in einer Sage angedeutet, z.B. in dem Glauben der Athener, wonach sie zuerst den Zeus und den Apollon ins Land aufgenommen und mit Opfern verehrt hätten. Eudocia Violar. 756. Die allgemeine Ansicht aber ist durchaus für Autochthonie der Götter.

2 So Fustel de Coulanges, la cité antique.

3 So wie laut Schopenhauer auch alle Philosophie, vgl. die Welt als Wille usw. Buch IV, Kap. 41.


Anmerkungen: A1 Oeri: Männer.

Quelle:
Jakob Burckhardt: Gesammelte Werke. Darmstadt 1956, Band 6.
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