8. Der Exeget.

[61] Die zwei oder vielmehr drei ersten Teile des Geschichtswerkes greifen bereits in die bibelexegetischen Studien über und zeigten daher in ihren Vorzügen und Schwächen alle Merkmale seiner bibelkritischen Exegese. Es schien fast, als wenn Graetz nur die Fertigstellung der nachmakkabäischen, bis an die Gegenwart herangerückten Geschichte des Judentums abwarten wollte, um alsdann die zweite Phase seiner schriftstellerischen Tätigkeit mit voller Kraft aufzunehmen. Diese zweite Phase seiner literarischen Wirksamkeit, die er sich ebenfalls als Lebensziel gestellt, galt der Exegese und der Kritik der biblischen Schriften, sie beginnt 1871 und hat ihn seitdem unaufhörlich beschäftigt, bis ihm der unvermutete Tod die bibelkritische Feder aus der Hand nahm. Man müßte diese Phase eigentlich schon von 1869 ab datieren, denn als Zacharias Frankel, um sich in seine Forschungen über den sogenannten Jerusalemitischen Talmud zu vertiefen, die Redaktion der »Monatsschrift« 1869 an Graetz zur Fortführung übergab, eröffnete der letztere seine Redaktion sofort mit einem Artikel über »Die Ebjoniten des alten Testamentes«, veröffentlichte in den nächsten Jahren eine Reihe von Aufsätzen über alttestamentliche Schriftauslegung und hebräische Sprachforschung, welche man teilweise als Vorarbeiten für die Geschichte der biblischen Zeit betrachten darf, und setzte diese Studien unablässig fast durch alle Jahrgänge bis 1887 fort, in welchem Jahre er zu seinem Leidwesen sich genötigt sah, das Erscheinen der Monatsschrift einzustellen.

Bei dem geringen Umfang des biblischen Schrifttums, in welchem uns all das vorliegt, was sich von der altisraelitischen Literatur gerettet hat, bei dem mangelhaften Besitz an hebräischem Sprachgut, über den wir infolgedessen zu verfügen haben, bleibt selbst demjenigen Ausleger, der sich treu und sklavisch an das Wort und die Überlieferung hält, immer noch ein überaus weiter Spielraum für individuelles Ermessen und subjektive [61] Hypothesen, für welche nicht der bündige Beweis die Überzeugung schafft, sondern der Wille und das Gemüt; um wieviel mehr wird eine Persönlichkeit von so starker Subjektivität, von so scharfer Feinhörigkeit und kühner Kombination, wie Graetz, leicht zu Resultaten kommen, die einen schneidenden Gegensatz zu allen landläufigen Begriffen bilden, ohne daß sie in jedem und allem stets auf eine objektive, sichere Basis gestellt werden können. In der Tat sind seine Ergebnisse und Erläuterungen, die von einem leidenschaftlichen Streben nach voller Klarheit und Folgerichtigkeit beherrscht werden, oft von einer verblüffenden Originalität. Jedenfalls aber hat er allerlei neue Fragen in Fluß gebracht, viele fruchtbare Anregungen gegeben und manchen schönen Triumph auf diesem strittigen Boden davon getragen. Mit solcher Kühnheit wird die Exegese zweier hagiographischer Bücher behandelt, welche 1871 unmittelbar aufeinander folgten, und mit denen er zuerst vor die Öffentlichkeit trat: Koheleth (oder der salomonische Prediger, übersetzt und kritisch erläutert), dessen Entstehung bis in die Regierungszeit des Herodes hinabgerückt wird, und Schir ha-Schirim (oder das salomonische Hohelied, übersetzt und kritisch erläutert), dessen Verfasser er der syrisch-mazedonischen Zeit zuweist. So sonderbar die Hypothesen betreffs der Abfassungszeit der beiden Bücher und manche andere Auffassungen den Leser berühren und stutzig machen, weil sie sich von allen bisher begangenen Heerstraßen überaus weit entfernen, man muß gestehen, daß diese Hypothese über die Ursprungsperiode von Kohelet viel Bestrickendes für sich hat, man muß jedenfalls anerkennen, daß gut und geschmackvoll übersetzt worden, daß sehr instruktive Bemerkungen und Hinweise gegeben werden, daß die alten Übersetzungen eingehend und aufmerksam herangezogen und benutzt sind. Im Kommentar zu Koheleth, welcher überhaupt denjenigen zum Hohelied an Wert übertrifft, finden sich zugleich interessante Aufschlüsse über die griechische Übersetzung. Ein wirkliches und bleibendes Verdienst hat sich Graetz als Exeget darin erworben, daß er stets auf Analogien aus der Mischnah und dem Talmud zurückzugreifen und namentlich den bibelkritischen Stoff, den die talmudische Literatur bietet, auszubeuten sucht, wobei er neues Material beibringt und alles in scharfsinniger Weise für die Fragen der höheren Kritik fruchtbar macht.

[62] Zwei Voraussetzungen sind es insonders, von denen er bei seiner Auslegung sich leiten läßt, und welche in seinem ganzen Wesen tief begründet sind. Zunächst neigte er zu der Annahme, daß bei den biblischen Schriften allenthalben ein historischer Hintergrund durchschimmern müsse und selbst allgemeine Bezeichnungen und Reflexionen ihren individuellen, tatsächlichen Charakter nicht verleugnen können, der eben herausgehört und erkannt werden muß. Alsdann war er der Ansicht, daß ein Widersinn, eine Unbegreiflichkeit im biblischen Wortlaut nicht durch Verrenkung des Wortes oder Satzes, nicht durch eine weit hergeholte Analogie aus einem entfernten, obschon verwandtschaftlichen Idiom wirklich gelöst werden könne, sondern daß hier der Text zu Schaden gekommen sei und der ursprüngliche Wortlaut durch eine Konjektur aus der Tiefe des Zusammenhanges oder nach einer talmudischen Parallele oder mit Hilfe der alten Übersetzungen konstruiert und annähernd wieder hergestellt werden müsse; denn daran sei nicht zu zweifeln, daß die Katastrophen und die Jahrhunderte, vielleicht auch die Abschreiber in ihrer Unzulänglichkeit, an der Urgestalt des biblischen Textes, bevor derselbe mit aller Sorgfalt festgelegt werden konnte, gezerrt und gelöscht haben, ja daß selbst noch später allerlei Irrungen mituntergelaufen sein mögen. Nach diesen Grundsätzen hat Graetz auch die Psalmen bearbeitet, von denen er 1881 eine deutsche Übersetzung herausgab, worauf dann 1882 bis 1883 ein »kritischer Kommentar zu den Psalmen nebst Text und Übersetzung, 2 Bände« folgte. Der Kommentar ist großartig angelegt, bietet eine Fülle von Gelehrsamkeit und enthält neben vielem Vortrefflichen doch auch viele abenteuerliche Kombinationen und vage, wenn auch geistreiche Hypothesen. Ein wegen seiner Gelehrsamkeit, wie wegen seiner Besonnenheit gleich hochgeschätzter Orientalist, Justus Olshausen, der den alttestamentlichen Text zu linguistischen Zwecken kritisch zu läutern suchte, äußerte sich über den Psalmenkommentar in einem Schreiben an den Verfasser folgendermaßen:38 »Zwar wird Ihr kritischer Kommentar wegen der Kühnheit Ihrer Kritik bei der großen Zahl der Exegeten großen Anstoß erregen, die als Exegeten selber überkühn, aber schwache Kritiker sind. Für mich hat, wie Sie [63] wissen, die Kühnheit in der Kritik nichts Erschreckendes, wo sie mit Sprach-und Sachkenntnis, mit Scharfsinn und vor allem mit gesundem Menschenverstand verbunden auftritt. Gewiß werde ich Ihnen nicht in jedem Falle zustimmen können, wo Sie vielleicht mit allzu großer Zuversicht das Richtige getroffen zu haben meinen; allein das hindert mich nicht anzuerkennen, daß Ihr Buch durch eine Fülle vortrefflicher Emendationen eine wesentliche Bereicherung der biblischen Literatur ist.« Mancher glückliche Griff ist Graetz offenbar gelungen, und es fehlte ihm auch nicht an Zustimmung; im allgemeinen jedoch wurden seine Resulate so entschieden abgelehnt, daß wohl von einer späteren Zeit sicherlich eine Nachprüfung zu erwarten steht, welche den Weizen von der Spreu sondern wird. Er selbst ließ sich in seinem exegetischen Vorgehen durch nichts beirren; entschlossen, aller Schwierigkeiten im alttestamentlichen Wortlaut mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln Herr zu werden, glaubte er sich berechtigt, auf dem Gebiet der Textkritik, worauf sich schließlich seine Auslegung hauptsächlich konzentrierte, sich mit immer größerer Freiheit zu bewegen und durch kühne Konjekturen, in deren Auffindung sein nachfühlender Geist unerschöpflich war, den schadhaften Bibeltext, wenn auch nicht gerade auf seine ursprüngliche Gestalt, so doch auf die ursprüngliche Tendenz des Schriftsinnes annähernd zurückzuführen. Wiewohl er sonst stets darauf bedacht war, den Anschluß und die Fühlung mit der Überlieferung zu behalten, und eine destruktive Tendenz ihm überaus fern lag, trieb ihn hierbei sein konstruktiver Eifer so weit fort, daß er schließlich den Boden des Schriftwortes und der realen Wirklichkeit immer mehr unter sich verlor und seinen Scharfsinn meist in dem blendenden Feuerwerk raketenartig aufblitzender Emendationen versprühen ließ. In dieser Richtung bewegen sich seine exegetischen Studien zum Propheten Jeremiah (Monatsschrift 1883, Jahrg. 32), zu den Salomonischen Sprüchen (Monatsschrift 1884, Jahrg. 33) und der schöne Aufsatz zur Bibelexegese (Monatsschrift 1886, Jahrg. 35). Ja, er ging sogar in seinen letzten Lebensjahren an die Ausführung eines weit ausschauenden, umfassenden Planes, den er schon lange mit sich umhergetragen und mit dessen Verwirklichung er das Tagewerk seines Lebens als abgeschlossen betrachten wollte: die Textgestalt sämtlicher biblischer [64] Bücher sollte kritisch gesichtet und restauriert werden. Aber auf diesem Arbeitsfelde leuchtete ihm kein so glücklicher Stern und war ihm kein so glänzender, siegreicher Erfolg beschieden wie auf historischem Gebiet, wo er bahnbrechend durchgegriffen hatte. Trotzdem dürfen seine exegetischen und kritischen Leistungen in ihrem Wert und ihrer Wirkung nicht etwa unterschätzt werden. Die exegetischen Schriften und Aufsätze sind reich an neuen Gesichtspunkten und interessanten Anregungen, sie haben immerhin für die Bibelkritik zahlreiche Keime fruchtbarer Förderung ausgestreut und für die Entwicklung der Bibelexegese tiefe und bleibende Spuren zurückgelassen. Schon diese Arbeiten, für sich allein originell und bedeutend genug, um sonst ein ganzes Gelehrtenleben auszufüllen, würden hinreichen, um dem Verfasser einen ehrenvollen Namen und einen hervorragenden Platz in der Geschichte der jüdischen Wissenschaft zu sichern.


Quelle:
Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart. Leipzig [1908], Band 1, S. 61-65.
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